Friederike Heinzel: Methoden der Kindheitsforschung
Rezensiert von Dr. Anja Frindt, 05.03.2013

Friederike Heinzel: Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
360 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1553-9.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Kindheiten.
Thema
Der Sammelband vereint Beiträge, die sich mit den methodischen und den methodologischen Herausforderungen beim Forschen mit Kindern auseinandersetzen.
Herausgeberin
Die Herausgeberin ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Kassel.
Entstehungshintergrund
Bei dem Sammelband handelt es sich um die 2., überarbeitete Auflage. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Auflage im Jahr 2000 existierten nur wenige Darstellungen von Erfahrungen mit „Methoden der Kindheitsforschung“. Während des letzten Jahrzehnts wurde die Frage, ob und wie es gelingen kann, sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung „aus der Perspektive von Kindern“ zu betreiben, intensiv diskutiert. Die methodischen und methodologischen Reflexionen sollen in diesem Band zusammengeführt; Forschungsmethoden und -zugänge, die beanspruchen, die Sichtweise von Kindern zu erfassen, vorgestellt werden.
Aufbau
Der Anspruch des Sammelbandes ist es, „all denjenigen, die wissen wollen, was methodische Verfahren in der Kindheitsforschung bieten und wie sie sich anwenden lassen, fundierte Informationen zu geben“ (S. 10). Dazu wird der aktuelle Stand in der qualitativen und quantitativen Kindheitsforschung in Bezug auf Anregungen und Innovationen, Möglichkeiten und Grenzen vorgestellt. Erläuterungen und Hinweise sollen es den LeserInnen ermöglichen, die dargestellten Methoden selbst anzuwenden.
Das Buch gliedert sich in fünf Teile.
- Folgend auf die Einleitung und das Geleitwort von Hans Oswald zur ersten Auflage werden in der sich anschließenden Übersicht sowohl qualitative als auch quantitative Methoden der Kindheitsforschung vorgestellt sowie das wissenschaftliche Verstehen von Kindern in den Blick genommen.
- Teil 2 befasst sich mit der Datenerhebung in der qualitativen Kindheitsforschung,
- Teil 3 hat die Datenauswertung in der qualitativen Kindheitsforschung zum Inhalt.
- In Teil 4 werden Erhebung und Auswertung verbindende qualitative Methoden vorgestellt.
- Der fünfte und letzte Teil ist der quantitativen Kindheitsforschung vorbehalten.
Inhalt
Im ersten Teil gibt die Herausgeberin Heinzel einen Überblick über qualitative Methoden der Kindheitsforschung. Dabei stellt sie den Anspruch der Kindheitsforschung, die „Perspektive der Kinder“ einzunehmen, dar und zeigt Möglichkeiten auf, diesen einzulösen. Zentrale Konzepte der Kindheitsforschung und grundlegende Methodenprobleme beim Forschen mit Kindern werden ebenso beleuchtet, wie Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Ähnlich aufgebaut ist der Beitrag von Grunert und Krüger zum Überblick über die quantitativen Methoden der Kindheitsforschung. Die Entwicklung in Jugend- und sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung wird angerissen, die Frage der Eignung quantitativer Methoden thematisiert, bevor Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung vorgestellt werden. Der folgende, den Überblick im ersten Teil des Sammelbandes beschließende Beitrag von Hülst, widmet sich der Frage, wie Äußerungen von Kindern angemessen gedeutet werden können. Er diskutiert methodologisch Aspekte des Verstehens und ermuntert zu einer Auflockerung methodischer Postulate.
Im zweiten Teil schließt sich nun die Vorstellung unterschiedlicher Datenerhebungsverfahren in der qualitativen Kindheitsforschung an. Fuhs stellt in seinem Beitrag die Grundannahmen einer qualitativen interviewbasierten Kindheitsforschung vor. Er untersucht die Interviewsituation, erläutert verschiedene Interviewformen und schlägt eine Typisierung vor, die sich nicht an der Struktur selbiger orientiert, sondern die erforderlichen Erinnerungs- und Erzählformen der Kinder berücksichtigt. Heinzel präsentiert die Methode der Gruppendiskussion. Sie zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Gruppendiskussion als Erhebungsverfahren in schulischen Kreisgesprächen auf. Weiterhin stellt sie entsprechende Untersuchungen der Kindheitsforschung, die auf Gruppendiskussionen als Erhebungsinstrument zurückgegriffen haben, vor. Besonderer Vorteil dieser Erhebungsmethode ist nach Heinzel das zahlenmäßige Überwiegen der Kinder, die der generationenbedingten Dominanz der Erwachsenen entgegensteht. Eher allgemein gehalten und weniger stark auf Kinder bezogen ist der dann folgende Beitrag, in dem Scholz die teilnehmende Beobachtung als zentrale Methode ethnographischer Forschung vorstellt. Der Beitrag von Huhn, Dittrich, Dörfler und Schneider befasst sich sowohl mit methodologischen Überlegungen als auch methodischen Überlegungen zum Videografieren. Die Verfasser zeigen auf, was beim Einsatz von Video methodisch und praktisch zu bedenken ist. Eine wissenschaftliche Perspektive auf Kindertexte nimmt Röhner ein. Sie präsentiert freie Texte als Selbstzeugnisse des Kinderlebens und zeigt exemplarisch anhand einer Inhaltsanalyse von freien Texten am Schulanfang und in späteren Schuljahren auf, welche Themen die Kinder bewegen und wie sich die Themenkonstitution entwickelt. Ein Aufsatz von Reiß zur Erhebung und Auswertung von Kinderzeichnungen – auch im Kontext von Kunsttherapie und klinischen Anwendungen – beschließt Teil 2 und leitet inhaltlich ebenso wie der Text von Röhner bereits in den folgenden Teil zur Datenauswertung über.
Der Beitrag von Schütz, Breuer und Reh führt in die methodologischen und forschungstheoretischen Konzeptionen der Sequenzanalyse ein und zeigt eine exemplarische Interpretation anhand einer Gruppendiskussion aus einem Forschungsprojekt zu Ganztagsschulen sehr gelungen auf. Die Beiträge von Alexi und Fürstenau zur Dokumentarischen Analyse und der Beitrag von Krummheuer zur Interaktionsanalyse folgen einer ähnlichen Logik. Nach der Darstellung der theoretischen Grundlagen und des Ablaufs der Verfahren wird der/die Leser/in anhand detaillierter Forschungsbeispiele in die Interpretationsarbeit eingeführt. Das narrationsstrukturelle Verfahren nach Fritz Schütze wird von Ecarius und Köbel vorgestellt. Die Autoren widmen sich dabei insbesondere der narrativen Kompetenz als Problematik des Verfahrens für die Kindheitsforschung. Ein Beitrag von Schutter zur Diskursanalyse vervollständigt den Teil zur Datenauswertung in der qualitativen Kindheitsforschung.
Die folgenden Aufsätze widmen sich qualitativen Methoden, die Erhebung und Auswertung verbinden. Lange und Wiesemann stellen die Ethnographie als komplexe Forschungsstrategie und methodologische Haltung vor. Die Autoren zeigen das Erkenntnispotential des Ansatzes sowohl an klassischen als auch aktuelleren ethnographischen Arbeiten zur Kindheit auf. Die Grounded Theory Methodology (GTM) wird von Hülst dargestellt. Es werden Vor- und Nachteile der GTM für die Kindheitsforschung diskutiert. Im Beitrag von Prengel wird die Praxisforschung aus verschiedenen Perspektiven begründet, methodische Zugänge vorgestellt und eine Vielzahl von Methodenbeispielen – von sozialpädagogischer Fallarbeit über Diagnostik im offenen Unterricht bis hin zu Lernwerkstätten und Supervision – präsentiert. Den Beitrag der Praxisforschung sieht die Autorin insbesondere in der Förderung des Perspektivenwechsels zwischen den Generationen. Ahlheim stellt sodann anhand eines interessanten Beispiels die Einzelfallstudie als wesentliches Forschungsinstrument der Psychoanalyse vor.
Der nächste Beitrag von Maschke und Stecher leitet in den Teil zu quantitativer Kindheitsforschung ein. Die Autoren präsentieren wichtige Kinder-Surveystudien und befassen sich mit zentralen Problemen, wie der Erstellung des Fragebogens, der Ausgestaltung der Erhebungssituation und der Datenerfassung. Sie plädieren für einen Einbezug von Kindern in den Forschungsprozess, da so die Validität und Zuverlässigkeit der Daten gesteigert werden könne. Der Aufsatz von Emde und Fuchs diskutiert die Eignung von standardisierten Befragungen bei Kindern speziell im Hinblick auf den Frage-Antwort-Prozess. Dazu beleuchten die Autoren unterschiedliche Einflüsse, geben Empfehlungen und weisen auf die Lücke zwischen praktischer Anwendung und methodologischer Begleitforschung hin. Die Grundlagen des Aufbaus und der Entwicklung standardisierter Testverfahren werden von Läzer vorgestellt. Insbesondere die Einführung in psychologische Testverfahren, die Konstruktionsprinzipien psychometrischer Tests und das Beispiel des Intelligenztests HAWIVA-III lassen sich gerade von sonst eher im qualitativen Ansatz Sozialisierten mit Gewinn lesen. Abschließend diskutieren Alt und Lange am Beispiel des Kinderpanels die Implikationen und Grenzen moderner Sozialberichterstattung.
Diskussion
Der Sammelband weist insgesamt einen stringenten Aufbau auf. Einige Aufsätze entziehen sich dieser Struktur, indem sie als Beiträge zur Datenerhebung die Auswertung bereits thematisieren (Röhner, Reiß). Bei einem Teil der Aufsätze wünscht man sich als LeserIn noch ein Fazit (z.B. Schütz, Breuer, Reh; Krummheuer; Huhn, Dittrich, Dörfler, Schneider) bzw. die deutlichere Kennzeichnung des selbigen im Beitrag (z.B. Scholz oder Ahlheim). Insgesamt vermitteln die Beiträge aber einen sehr guten Überblick. Oftmals bieten sie auch eine historische Einordnung, einen Einblick in Anwendungsbereiche und insb. im Teil zur qualitativen Datenauswertung sehr schöne forschungspraktische Beispiele. Ein Vergleich der 1. mit der 2. Auflage zeigt die gründliche Überarbeitung des Sammelbandes. War die erste Auflage noch nach unterschiedlichen Verfahren der Datenerhebung gegliedert, so bildet die aktuelle Auflage durch die Ergänzung um Datenauswertungsverfahren und die Trennung in qualitative und quantitative Methoden die Weiterentwicklungen der Debatten und die Ausdifferenzierung des sozialwissenschaftlichen Methodenrepertoires in der Kindheitsforschung sehr gut ab. Das Bild vom Kind als kompetentem Akteur und damit verbunden ein Plädoyer für das Zutrauen in kindliche Kommunikationsfähigkeiten durchzieht die Beiträge der 2. Auflage. Damit steht weniger das „ob“, sondern vielmehr das „wie“ des Forschens mit Kindern im Vordergrund. Die Meinung, man könne Kinder nicht zu ihrem realen Leben befragen, da ihnen die dazu erforderlichen Kompetenzen fehlen, ist nicht länger haltbar. Mit dem Wandel des Bildes von Kindheit ist ein Perspektivenwechsel in der Kindheitsforschung verbunden, der die Wahrnehmungen, Meinungen und Praktiken der Kinder aufwertet. Auf teilweise verblüffende Art ähneln sich die Beiträge des qualitativen und quantitativen Methodenspektrums in Bezug auf Tipps zur sorgfältigen Gestaltung der Erhebungssituation, der Berücksichtigung von Alter und Kompetenzen der Kinder sowie Hinweisen zu einer einfühlsamen Interviewführung. Nicht zuletzt weist die Herausgeberin des Sammelbandes darauf hin, dass „jede Kindheitsforschung, die sich auf die ‚Perspektive von Kindern‘ beruft, Erfahrungen und Interessen von Kindern nur stellvertretend artikulieren“ (Heinzel, S. 23 f.) kann.
Die 2. Auflage zeigt weitere Herausforderungen auf, von denen man sich wünscht, dass sie nach einem weiteren Jahrzehnt sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung in einer ebenso sorgfältig überarbeiteten 3. Auflage aufgegriffen werden. Hierzu gehört zum einen die weitere Ausarbeitung dazu, wie Kinder Forschungssituationen interpretieren, wie sie Forschende sehen und wie die intergenerationalen Kommunikationssituationen geschaffen werden. Zum anderen werden noch selten quantitative und qualitative Zugänge miteinander verbunden (Grunert/Krüger, Alt/Lange). Kleine Wermutstropfen trüben minimal das Bild eines insgesamt sehr gelungenen Sammelbandes. Bei der sorgfältigen Lektüre stolperte die Rezensentin unweigerlich über Silbentrennung in der laufenden Zeile. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den Einband des Buches. Das Foto des staunenden Kindes auf der ersten Auflage, das gut geeignet war, die Faszination des Themas zu verdeutlichen, ist in der zweiten Auflage dem einheitlichen Erscheinungsbild aller Publikationen aus dem Hause Beltz Juventa zum Opfer gefallen. Bedauerlich ist ebenso, dass die narrative Landkarte im Beitrag von Reiß zu Kinderzeichnungen keine Erwähnung findet und Foto-Interviews lediglich zum Schaffen von Gesprächsanreizen thematisiert werden. Der Beitrag zur Videografie wurde minimal verändert aus der ersten Auflage übernommen. Hier hätte man sich gerade in Bezug auf die gesteigerte Aufmerksamkeit, die der frühen Kindheit in den letzten Jahren entgegengebracht wird, ein aktuelleres Forschungsbeispiel vorstellen können. Von diesen Ausnahmen abgesehen, hat sich der Mix von althergebrachten und neuen Beiträgen bewährt.
Fazit
Der Anspruch des Sammelbandes, einen Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive zu geben, wird in der neu erschienen und sorgfältig überarbeiteten Auflage eingelöst. Die Weiterentwicklung der Diskurse der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung wird angemessen abgebildet. Die verschiedenen Aufsätze bieten mit überblicksartigen Beiträgen, dem Vorstellen zentraler Erhebungs- und Auswertungsverfahren, methodologischen Reflexionen und Anregungen für die eigene Anwendung der Forschungsmethoden eine spannende und interessante Lektüre. Damit richtet sich die Publikation vorwiegend an ein akademisches Publikum. Sie ist geeignet, sowohl StudentInnen als auch erfahreneren ForscherInnen Antworten auf Fragen zu Forschungszugängen zur kindlichen Perspektive zu geben. Die zweite Auflage der „Methoden der Kindheitsforschung“ möchte die Diskussion um methodologische und methodische Fragen der Kindheitsforschung weiter anregen. Dies ist dem Forschungsfeld sehr zu wünschen, ebenso wie die weitere Bearbeitung der o.g. Herausforderungen.
Rezension von
Dr. Anja Frindt
Dipl. Päd., Dipl. Sozarb./Sozpäd.
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Es gibt 7 Rezensionen von Anja Frindt.
Zitiervorschlag
Anja Frindt. Rezension vom 05.03.2013 zu:
Friederike Heinzel: Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
ISBN 978-3-7799-1553-9.
Reihe: Kindheiten.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12897.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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