Hans Günther Homfeldt, Jörgen Schulze-Krüdener (Hrsg.): Wissen und Nichtwissen
Rezensiert von Prof. Dr. Harro Kähler, 01.09.2001
Hans Günther Homfeldt, Jörgen Schulze-Krüdener (Hrsg.): Wissen und Nichtwissen. Herausforderungen für die Soziale Arbeit in der Wissensgesellschaft. Juventa Verlag (Weinheim) 2000. 344 Seiten. ISBN 978-3-7799-1235-4. 30,00 EUR.
Hintergrund der Entstehung der Veröffentlichung
Im Mai 1999 fand in Trier eine dreitägigen Jahrestagung der beiden Kommissionen Sozialpädagogik und Pädagogik der Frühen Kindheit der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften statt, die bei dieser Gelegenheit zur Sektion Sozialpädagogik zusammengelegt wurden. Thema der Tagung war die "Entwicklung der Arbeitsgesellschaft von einer Industrie- zu einer global organisierten Wissensgesellschaft mit für die Soziale Arbeit auch nicht gewollten Nebenwirkungen." (S. 9). Der folgende Überblick ermöglicht der Leserin und dem Leser der Rezension, sich ein Bild von der Breite der Themen dieser Veröffentlichung zu verschaffen.
Überblick über die Themen
Der Sammelband umfaßt neben einer einführenden Problemskizze der Herausgeber fünf Teile:
Teil I: Soziale Arbeit in der Wissensgesellschaft?
Rainer Treptow: Wissensgesellschaft und Soziale Arbeit
Heinz Sünker: Bildung, Emanzipation und Reflexivität beim Übergang von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft
Klaus Narney: Bildung und Arbeit in der Wissensgesellschaft
Michael Galuske: Soziale Arbeit zwischen Arbeits- und Bürgergesellschaft
Thomas Rauschenbach: Soziale Arbeit im Übergang von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft? Irritationen und Klärungen des Verhältnisses von Wissenschaftswissen und Praxiswissen in Studium, Lehre, Forschung und Profession
Teil II: Wissenschaftlich auszubildende Professionelle - Bestandsaufnahme zu Studium und Lehre
Rainer Treptow: Engagement und Distanzierung. Über Lebenswelt als Kernthema für Studierende der Sozialpädagogik/Sozialarbeit
Cornelia Schweppe: Biographie und Studium. Lebensgeschichten von Studierenden des Diplomstudiengangs Pädagogik / Studienrichtung Sozialpädagogik
Heide Kallert: Studierende rekonstruieren ihren Weg bis zum Studienbeginn. Einblicke in den Zusammenhang von Lebenslauf und Lernprozessen
Barbara Friebertshäuser: Sozialpädagogisches Studium im Spannungsfeld von akademischer Fachkultur und Berufskultur
Renate Thiersch: Pädagogik der frühen Kindheit als Ausbildungsschwerpunkt im erziehungswissenschaftlichen Diplomstudium
Piotr Salustowicz: Über die Akademisierung in der Sozialen Arbeit am Beispiel der Fachhochschulen - eine kritische Bestandsaufnahme
Jörgen Schulze-Krüdener: Soziale Arbeit im Zeichen von @-Informationstechnologie als Wissens- und Kommunikationswerkzeug
Wolf Rainer Wendt: Modularisierung als Verfahren im Wissensmanagement der Ausbildung in Sozialer Arbeit
Teil III: Soziale Arbeit - eine forschende Wissenschaft
Peter Sommerfeld: Forschung und Entwicklung als Schnittstelle zwischen Disziplin und Profession. Neue Formen der Wissensproduktion und des Wissenstransfers
Chantal Munsch: Aktivierende Praxisforschung zur Förderung von bürgerschaftlichem Engagement im Stadtteil. Ein Plädoyer für eine Repolitisierung sozialpädagogischer Forschung
Karola Vollmer: Nahezu Unvereinbares im Studium vereinbaren
Lilian Fried: Der "steinige Weg" zum "(erziehungs-)wissenschaftlich ausgebildeten (Berufs-) Praktiker" im Diplomstudiengang Erziehungswissenschaft oder: "forschendes Lernen" als "berufsorientiertes" Lernen!?
Teil IV: Fachkräfte Sozialer Arbeit - Wissensexperten/-innen oder Handlungsexperten/-innen?
Werner Thole / Peter Cloos: Nimbus und Habitus. Überlegungen zum sozialpädagogischen Professionalisierungsprojekt
Lothar Wigger: Das akademische Studium im Professionalisierungsdiskurs der Sozialpädagogik
Teil V: Der Blick zurück nach vorn
Hans Thiersch: Zur Vermittlung von Wissenschaft, Ausbildung und Praxis - bleibende Fragen und Impulse
Burkhard Müller: Lebendiges Wissen und totes Wissen. Anmerkungen zu Disziplinbildung, Professionalisierung und Ausbildung in der Sozialen Arbeit
Auswahl für diese Rezension
Es ist sicher unüblich, das gesamte Inhaltsverzeichnis eines Sammelbandes in einer Rezension wiederzugeben. Der Rezensent hat sich zu diesem Vorgehen entschlossen, weil dieser Überblick seine Entscheidung, nur ausgewählte Aufsätze aus dem Gesamt dieser so heterogenen Beiträge ausführlicher zu berücksichtigen, plausibler machen dürfte und zugleich den NutzerInnen die Möglichkeit eröffnet, weitere, hier nicht berücksichtigte Aufsätze zu identifizieren. Die Themen des Bandes werden nämlich nur bedingt durch den Titel "Wissen und Nichtwissen" verklammert, erstrecken sich vielmehr über ein so breites Spektrum, dass eine Würdigung aller Beiträge den Rahmen einer Internet-Buchbesprechung sprengen würde. Der Rezensent hat sich deshalb entschlossen, wie ein Tagungsbesucher, der unmöglich alle (zum Teil wahrscheinlich auch simultan stattfindenen) Beiträge in gleichem Umfang wahrnehmen kann, sein Hauptaugenmerk auf solche Aufsätze zu richten, die in besonderer Weise versuchen, die Auswirkungen der sich entwickelnden Wissensgesellschaft auf die Praxis der Sozialen Arbeit zu thematisieren. Vernachlässigt werden dagegen Beiträge, die - für andere Verwertungsinteressen vielleicht von ebenso großem Interesse - eher die Lehre und die Forschung betreffen.
Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft und Soziale Arbeit
Die Entwicklung von der Industriegesellschaft zu einer zunehmend von der Bereitstellung, Verteilung und Verwertung von Wissen gekennzeichneten Gesellschaft scheint unbestritten. Offen ist, ob die Entwicklung zur Wissens- oder Informationsgesellschaft auf dem Pfad neoliberaler Vorstellungen verläuft oder eher mit einer Ausweitung der "Bürgergesellschaft" im Sinne Ulrich Becks verbunden ist. Im ersten Fall "würde dies die ’Erfolgsgeschichte´ Sozialer Berufe ... wohl verlängern und ihr Tempo vielleicht sogar noch erhöhen, da soziale Integration zu einem immer fragileren Gut wird, das abgefedert und unterstützt werden muß durch gesellschaftliche Fürsorge und Hilfe." (Galuske, S. 73). Im zweiten Fall müßte sich das Selbstverständnis Sozialer Arbeit grundlegend ändern: "weniger persönliche Einzelfallhilfe, mehr zur Verfügung stellen von Ressourcen und Strukturen, von Wissen und tatkräftiger Unterstützung zur Förderung informeller Netzwerkstrukturen." (S. 74) Die Bedeutung der Fähigkeit, mit Informationen und Wissen umgehen zu können, ist in dieser zweiten möglichen Entwicklungsvariante ungleich höher anzunehmen, als es bei der ersten der Fall ist. Mit einem schönen Vergleich ausgedrückt eröffnet sich dann für Soziale Arbeit "mehr denn je die Chance, nicht als Zöllner an den Pforten der traditionellen Normalität zu wirken, sondern als Scout auf der Begleitung der Klienten, der Unterstützung von Subjekten auf der Suche nach individuell tragfähigen Lebensmodellen" (S. 74/75) Scouts benötigen mehr und anderes Wissen als Zöllner, weil sie sich ständig auf neue Landschaften und Situationen einlassen und unterschiedlichste Landkarten lesen können müssen.
Die Fähigkeit des Umgehens mit Karte und Kompaß wird auch an anderer Stelle des Sammelbands angesprochen: sie bezeichne die Art des professionellen Wissens, das Soziale Arbeit befähigt, sich im beruflichen Alltag zurecht zu finden. Für das Wissen der Disziplin wählt Burkhart Müller den Vergleich mit einem Sender: "Professionelles Handlungswissen gleicht der Fähigkeit zum Gebrauch von Karte und Kompass, die orientierte Bewegung im unbekannten Gelände erlauben; disziplinäres Wissen entspricht dem anpeilbaren Sender, der von außen Standortrekonstruktionen ermöglicht, auch wenn er zur Orientierung während der Bewegung im Gelände selbst zu unhandlich und deshalb nicht nutzbar ist. Sozialpädagogische Ausbildung soll, ... beides vermitteln, wissenschaftliche Rekonstruktionsfähigkeit und professionelle Orientierungsfähigkeit in Aktion, ohne daß das eine auf das andere reduziert wird." (S. 328) Den Unterschieden des Wissens in Profession und Disziplin wird in verschiedenen Beiträgen nachgegangen, am ausführlichsten im Beitrag von Peter Sommerfeld, der Sozialarbeitsforschung an der "Schnittstelle zwischen Disziplin und Profession" ansiedelt.
Fraglich ist, ob vor dem Hintergrund derartiger Überlegungen der Begriff der Wissensgesellschaft glücklich gewählt ist: an einigen Stellen des Buchs wird denn auch von Informationsgewinnung und -verbreitung gesprochen, eine Diktion, die wahrscheinlich der benannten Entwicklung besser Rechnung trägt. Inwieweit nämlich die ungeheure Vermehrung von Informationen wirklich in gleichem Umfang zu einer Vermehrung menschlichen Wissens führt, muß bezweifelt werden. Ein Surf-Nachmittag im Internet belegt überzeugend, daß die dort gespeicherten und abrufbereiten Informationsteilstücke häufig nicht unbedingt zu verwertbarem sinnvollen Wissen taugen. Rauschenbach (S. 79) wirft denn auch mit Recht die Frage auf (ohne sie zu beantworten): "Wie verhält sich die Kategorie ’Wissen´ zu den Begriffen ’Wissenschaft´ auf der einen Seite und ’Information´ auf der anderen Seite?" Nach einer Definition von Helmut Willke (Systemisches Wissensmanagement, 1998, S. 369) meint Wissen die Einbettung von Informationen in ein Muster von Erfahrungen mit der Folge, daß sie produktiv genutzt werden können. Hier wird deutlich, daß Wissen mehr meint als bloße Information, die als ein - wenn auch besonders wichtiger - Rohstoff des Wissens angesehen werden kann.
Die Beschleunigung der Informationsgewinnung und -verarbeitung zu Wissensbeständen führt auch dazu, daß ein "Experte sich rascher denn je in einer Vielzahl von Fällen anderen Experten als Laie gegenüber (sieht)" (Treptow, S. 28), eine Entwicklung, die auch für die Soziale Arbeit nicht ohne Folgen bleiben wird: neue Formen der Vernetzung und Kooperation werden fraglos notwendig, um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen.
Mit Blick auf die Klientele Sozialer Arbeit stellt sich hier schnell die Frage nach der "Verteilungsgerechtigkeit" der Informations- und Wissensbestände. Es ist mit einer "wachsende(n) Kluft zwischen Wissensarmut und Wissensreichtum im internationalen Nord-Süd und Ost-West-Vergleich" zu rechnen (Treptow, S. 29), aber auch innerhalb unserer Gesellschaft im Sinn einer neuen Form sozialer Ungleichheit. Vor diesem Hintergrund stellt sich die "Frage nach den Formen der Wissenszirkulation, dem Management von Informationen in der Sozialen Arbeit" (Treptow, S. 30) Hier deutet sich in der Tat eine Aufgabenstellung für die Soziale Arbeit an, die in dieser Form bisher nicht bestanden hat.
Eine andere Gefahr hat mit der mit der Entwicklung zur Wissensgesellschaft einhergehenden zunehmenden "Virtualisierung des Sozialen" zu tun. Die Spuren, die Klienten in den Verwaltungen hinterlassen, lassen sich immer leichter zu Klientenprofilen zusammenfassen, die das Problem des Datenschutzes in neuem Licht erscheinen läßt. Auch hier zeigen sich neue Aufgaben für die Soziale Arbeit. (Treptow, S. 30), die auf eine anwaltschaftliche Tätigkeit im Sinne des (Daten-)Beschützens ihrer Klientele hinausläuft.
Fazit
Diese wenigen Hinweise in Verbindung mit dem Inhaltsverzeichnis des Buches belegen: der Sammelband ist ein Steinbruch mit unterschiedlichsten Inhalten, die zum Teil in keinem besonders engen Zusammenhang zum Titel stehen. Als systematischer Einstieg in Erscheinungsformen und Probleme der sogenannten Wissensgesellschaft erscheint diese Veröffentlichung, der man den Entstehungshintergrund einer Tagung ansieht, ungeeignet. Als Quelle für Anregungen in unterschiedlichsten Bereichen dagegen bietet das Buch eine Menge.
Rezension von
Prof. Dr. Harro Kähler
Bis zur Emiritierung Fachhochschullehrer an den Hochschulen Hagen, Dortmund und Düsseldorf. Bis 2019 Redakteur der socialnet Rezensionen, Mitarbeiter in der Redaktion des socialnet Lexikons.
Website
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Harro Kähler.





