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Christiane Gudehus, Ariane Eichenberg et al. (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.02.2012

Cover Christiane Gudehus, Ariane Eichenberg et al. (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung ISBN 978-3-476-02259-2

Christiane Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2010. 364 Seiten. ISBN 978-3-476-02259-2. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.

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Gedächtnis und Erinnerung sind ein interdisziplinäres Phänomen

Es sind die vielfältigen, rapide, lokal und global sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Weltsichten und -wahrnehmungen (vgl. dazu z. B.: Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt/M., 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7256.php; sowie: Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, Schwalbach/Ts., 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php), die sich als Herausforderung der Moderne alltäglich, gesellschaftlich und im wissenschaftlichen Diskurs ergeben (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Dabei wird ehemals Fremdes zu Vertrautem und Vertrautes führt zu Irritationen (Sylke Bartmann / Oliver Immel, Hrsg., Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, www.socialnet.de/rezensionen/12833.php). Die Erkenntnis, dass der Mensch grundsätzlich und existentiell ein wandelbares Lebewesen ist, durchzieht die Menschheitsgeschichte von Anbeginn an; aber die Versuche, Selbstbestimmung und Selbstwertigkeit ideologisch, machtpolitisch oder anthropo-orientiert zu interpretieren und festzulegen, sind gleichzeitig als Markierungen in die Entwicklungsgeschichte der Menschen eingelassen (Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11820.php).

Die sich dabei ergebenden Festlegungen wie Irritationen zeigen sich in allen Bereichen menschlichen Daseins und Wirkens ( Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, Bielefeld 2011, 12557.php ); und sie stellen sich nicht zuletzt als soziokulturelle Dimensionen des Erinnerns dar (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

„Wenn man mit dem Gedächtnis tätig ist, sagt man in der Seele, dass man in der Vergangenheit etwas wahrgenommen oder gelernt hat“, das ist die aristotelische Vorstellung von mnêmê (R.A.H. King, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 365); und dass das Gedächtnis in der Form des Erinnerns das menschliche Dasein zu einem Ganzen zusammenfasst, steht seit Jahrtausenden im Fokus des menschlichen Interesses. Seit knapp einem halben Jahrhundert allerdings gewinnen die Phänomene „Gedächtnis und Erinnerung“ eine neue, intellektuelle und wissenschaftliche Aufmerksamkeit: „In modernen Gesellschaften (verlaufen) Lebensläufe nicht mehr linear, auf generationellen und traditionellen Konzepten fußend. Sie sind hochriskant, von Brüchen gekennzeichnet, so dass eine fortwährende Vergewisserung der Vergangenheit erforderlich ist“.

Weil also die Forschungsgegenstände um die Phänomene „Gedächtnis und Erinnerung“ grundsätzlich nur interdisziplinär und interaktiv bearbeitet werden können, ist es angebracht, in der Form eines wissenschaftlichen Handbuchs die vielfältigen zusammen wirkenden Aspekte darzustellen. Der Sozialwissenschaftler und wissenschaftliche Geschäftsführer des Essener Centre for Interdisciplinary Memory, Christian Gudehus, die Redakteurin der Zeitschrift „Erziehungskunst“ und Lehrbeauftragte an der Stuttgarter Universität, Ariane Eichenberg und der Sozialpsychologe an der Universität Witten-Herdecke, Harald Welzer, legen das Handbuch als Einführung in die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung vor.

Aufbau und Inhalt

Die Herausgeber gliedern das Buch in vier Kapitel:

Im ersten werden „Grundlagen des Erinnerns“ vorgestellt; im zweiten wird die Frage gestellt: „Was ist Gedächtnis / Erinnerung?“; im dritten werden „Medien des Erinnerns“ aufgezeigt; und im vierten Kapitel werden die „Forschungsgebiete“ thematisiert, die für die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung relevant sind. Insgesamt 46 Autorinnen und Autoren sind daran beteiligt und bringen ihre Spezialgebiete und Forschungsergebnisse in das Handbuch ein.

In der Einleitung werden „Desiderate und Perspektiven“ reflektiert, die für die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung in den letzten drei Jahrzehnten sowohl in der kultur-, als auch der naturwissenschaftlichen Forschung von Bedeutung sind und gewissermaßen den Perspektivenwechsel verdeutlichen.

Im ersten Kapitel werden von Martina Piefke und Hans J. Markowitsch „neuroanatomische und neurofunktionelle Grundlagen von Gedächtnis“ als „komplexe neuronale Netzwerke“ verdeutlicht und auf die theoretischen Aspekte und praktisch-therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten hingewiesen. Carlos Kölbl und Jürgen Straub zeigen in ihrem Beitrag „Zur Psychologie des Erinnerns“ die historische Entwicklung der Gedächtnispsychologie auf und diskutieren die gegenwärtigen und zukünftigen Tendenzen, wie sie sich insbesondere unter den Aspekten des Lebensweltbezugs darstellen. Robyn Fivush reflektiert die „Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses“, indem er darlegt, dass „die Konstruktion einer Autobiographie ( ) ein soziokultureller Entwicklungsprozess (ist)… und (sich) im Laufe eines Lebens ständig sozial und kulturell moduliert“. Marc M. Lässer und Johannes Schröder thematisieren „das Gedächtnis im Alter“, indem er auf die Symptome des kognitiven Alters in den verschiedenen Stadien hinweist und Ansätze bei der Früherkennung von dementiellen Erkrankungen aufzeigt. Tilmann Habermas führt ein in die „Psychoanalyse als Erinnerungsforschung“ und reflektiert anhand von Modellen und Theorien „Wege zur Erinnerung“.

Die Fragen, was Gedächtnis und Erinnerung sind, werden im zweiten Kapitel verdeutlicht. Rüdiger Pohl referiert über „das autobiographische Gedächtnis“ und stellt die Entwicklung der Forschung auf diesem Aufbewahrungsort von Erinnerungen dar. Sabine Moller setzt sich mit dem „kollektiven Gedächtnis“ auseinander und verweist darauf, dass in der Forschung „eine neue Ebene der Tradierungsforschung notwendig“ ist. Daniel Levy bringt „das kulturelle Gedächtnis“ auf die Agenda der Gedächtnisforschung und fordert für die Memory Studies, „das kulturelle Gedächtnis mit einem mnemo-historischen Ansatz zu untersuchen“. Gerald Echterhoff diskutiert „das kommunikative Gedächtnis, indem er insbesondere auf die Wirkungen von „kommunikativer Selbstbeeinflussung“ verweist. Jeffrey K. Olick macht deutlich, dass der Begriff „soziales Gedächtnis“, hergeleitet aus der Theorie der „sozialen Solidarität (Émile Durkheim) und anderer Modelle der Social Memory Studies, einer definitorischen Festlegung und terminologischen Bestimmung bedarf, um die Bedeutung der Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet darzustellen. Helmut König argumentiert, dass „das Politische des Gedächtnisses“ sich vor allem im öffentlichen und gesellschaftlichen Raum darstellt, und er plädiert für „die Bewahrung und Öffnung von Räumen und Foren für konkrete Erzählungen und Erfahrungen“.

Immer wichtiger und wirkungsvoller werden „Medien des Erinnerns“, wie sie im dritten Kapitel verdeutlicht werden. Dennis Pausch gibt einem Überblick über die historische, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Medien für individuelles und gesellschaftliches Denken und Handeln. Renate Lachmann thematisiert die verschiedenen Ansätze zur Mnemotechnik, indem sie historische Fundstücke aus der klassischen Antike bis zur Neuzeit präsentiert. Bradd Shore verweist auf die Bedeutung der „Rituale“ für das individuelle und kollektive Gedächtnis der Menschen. Rainer Gries zeigt am Beispiel von „Nivea“ die Wirkungsweisen auf, die „Produkte und Marken als Medien des sozialen Gedächtnisses“ ausüben. Harald Tausch macht darauf aufmerksam, dass sich mit der „Architektur … Gleichzeitigkeiten von ungleichzeitigen Vergangenheiten“ aufzeigen lassen, wie er dies an den historischen und aktuellen Architekturdebatten verdeutlicht. Aleida Assmann erinnert daran, dass „wenn wir über das Gedächtnis sprechen, … ( ) wir mit dem Vergessen beginnen (müssen)“; die Institutionen des kulturellen Speichergedächtnisses, hier „Archive und Bibliotheken“, stellen Wissensspeicher für Gedächtnis und Erinnerung dar. Martin Roth verweist auf die Bedeutung der Vergangenheitsgegenwärtigung bei den „Museen“. Cornelia Siebeck ordnet die Erinnerungsbedeutung bei „Denkmalen und Gedenkstätten“ zu; Jens Kroh und Anne-Katrin Lang ergänzen diese für „Erinnerungsorte“. Manfred Weinberg diskutiert am Beispiel der „Literatur“ an die „Erinnerungshaftigkeit aller Literatur“ und die Möglichkeiten und Wirkungen für das Gedächtnis. Martin Zierold geht auf „Printmedien und Radio“ ein. In der Mediengeschichte stellen die erinnernden Medienformate der Presse und des Hörfunks, bis hin zur Digitalisierung der Medienangebote, einen wichtigen Entwicklungsschritt dar. Andre Bartoniczek macht deutlich, dass die Vergangenheit in der Erinnerung sich als „Bild“ spiegelt. Er reflektiert die Schritte, wie sie sich von der Bildrezeption hin zum Erinnern vollziehen. Die Forschungsansätze, die scheinbare Anschaulichkeit der bildlichen Darstellung zu hinterfragen, stehen noch am Anfang des Prozesses. Wulf Kansteiner erinnert daran, dass die Gedächtnisgeschichte von „Film und Fernsehen“ bisher nur unzureichend erklären kann, wie sich „die langfristigen sozialen und psychologischen Folgen der beispiellosen Externalisierung und Visualisierung von Kollektivgedächtnissen“ interpretieren lassen und weiterer Forschungsinitiativen bedürfen. Christiane Holm zeigt auf, dass die „Fotografie … einen Paradigmenwechsel (markiert), als sich durch sie Gegenstände selbst abzubilden scheinen“. Wolfram Dornik setzt sich mit dem globalen Massenmedium „Internet“ auseinander, indem er die aktuelle und zukünftige Entwicklung dieser Kommunikationstechnologie für lokales und globales vernetztes Denken und Erinnern aufzeigt. Claudia Öhlschläger bringt die Bedeutung der historischen und kulturellen Muster von Körperwahrnehmung und -darstellung ein und diskutiert die Theorien und Forschungsergebnisse für „Körpergedächtnis“.

Im vierten Kapitel werden die wissenschaftlichen Forschungsgebiete erläutert und die individuellen und kollektiven Aspekte von Gedächtnis und Erinnerung disziplinär und interdisziplinär thematisiert. Kornelia Ko?czal besorgt dies für die „Geschichtswissenschaft“. Sie verweist, durchaus kritisch und fragend, auf die Entwicklung der Historischen Erinnerungsforschung. Die Hoffnung, dass die Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet „eine Chance auf Erneuerung der Geschichtswissenschaft“ bedeuten könnten, bleibt. Lucas M. Bietti fragt nach der Funktion von Gedächtnis und Erinnerung in der „Philosophie“, indem er über die historische Entwicklung und Markierung der kognitiven Prozesse reflektiert. Michael Heinlein und Oliver Dimbath fragen, ob es eine „gedächtnisvergessene Theoriebildung in der Soziologie“ stattgefunden habe. Sie reflektieren die verschiedenen, relevanten theoretischen Konzepte und sehen in den neu entdeckten Tendenzen des sozialen Wandels eine „empirische Herausforderung für die Soziologie“. Astrid Erll nimmt Bezug auf die „Literaturwissenschaft“ und stellt in den letzten Jahren einen rapiden Anstieg von Veröffentlichungen zum Gedächtnis-Thema fest. Weil Literatur soziale Erinnerung mitformt, plädiert die Autorin für eine „Remediation“, als „Übersetzung oder ‚Transkription‘ (L. Jäger) von Erinnerungsgegenständen von einem Medium in das nächste“ (siehe dazu auch: Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php). Almut Leh macht auf die Bedeutung der „Biographieforschung“ aufmerksam, insbesondere bei den Fragen von „eingeschränkter Erinnerungsfähigkeit“, von Verdrängung und Verleugnung, wie sie im gesellschaftlichen Diskurs des Nachdenkens über individuelles und kollektives Gedächtnis relevant sind (vgl. dazu auch: Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11821.php). Christian Gudehus nimmt Stellung zur jungen „Tradierungsforschung“ und diskutiert unterschiedliche Deutungsmuster und Methoden, wie er auch auf den aktuellen Wandlungsprozess der Forschungsrichtung verweist. Claudia Lenz zeigt die Entwicklungen in der „Geschlechterforschung“ auf und erläutert die sich vollziehende „konstruktivistische Wende: Erinnerung als Werkzeug der Dekonstruktion von Geschlechterdiskursen“. Nina Leonhard beendet mit ihrem Beitrag über „Generationenforschung“ das Kapitel. Sie verweist auf die „aktuelle Attraktivität des generationellen Forschungsansatzes… (der) es ermöglicht, die Dichotomie zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen individuellen Handlungsspielräumen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu überwinden“.

Im Anhang des Handbuchs wird eine weiterführende Auswahlbibliographie ausgewiesen, und es werden Institutionen, Projekte und Zeitschriften genannt, als wichtige Bezugsquellen, Ressourcen und Kontaktadressen für die Forschungsthematik. Das Sachregister erleichtert den Zugang und die Handhabung des Buches.

Fazit

„Gedächtnis und Erinnerung“, als basales Organ und zentrale Fähigkeit, sind humane und prägende Eigenschaften im individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Dasein der Menschen. Auf das steigende, disziplinäre und interdisziplinäre Forschungsinteresse reagieren die Autorinnen und Autoren des Handbuchs, indem sie zum einen tatsächlich so etwas wie eine Bestandsaufnahme der vernetzten Forschungsaktivitäten vornehmen; zum anderen aber insbesondere auf eine Erweiterung und Weiterentwicklung der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung verweisen; denn „da der funktionale Überlebenswert des Gedächtnisses von seinem Zukunftsbezug abhängt, ist es die Zukunft, die konstitutiv für das Gedächtnis ist, und nicht die Vergangenheit“.

Das Handbuch sollte bei den wissenschaftlichen Forschungstätigkeiten, sowohl geistes-, kultur- und sozialgeschichtlich, als auch im naturwissenschaftlichen Zusammenhang parat liegen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 15.02.2012 zu: Christiane Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2010. ISBN 978-3-476-02259-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12904.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.


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