Moritz Gekeler: Konsumgut Nachhaltigkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.04.2012

Moritz Gekeler: Konsumgut Nachhaltigkeit. Zur Inszenierung neuer Leitmotive in der Produktkommunikation.
transcript
(Bielefeld) 2011.
290 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1950-8.
D: 29,80 EUR,
A: 30,70 EUR.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
Die Meistererzählung über Konsum(verhalten)
Der homo oeconomicus strebt danach, mehr haben zu wollen, als er für die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nötig hätte; dieses globale Phänomen führt schließlich zu einer Entwicklung, die – und zwar nicht nur in den Industriegesellschaften – zu einem Immer-mehr-Denken und Streben führt, weltweit betrachtet jedoch mit der fatalen Konsequenz, die von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro als dramatische Bestandsaufnahme so festgestellt wurde: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“ (Agenda 21). In den alljährlichen Berichten des New Yorker Worldwatch Institute wird etwa im Bericht von 2009 festgestellt, dass der Lebensraum der Menschen vor der Überhitzung stehe (Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, in: www.socialnet.de/rezensionen/7730.php), dass, so 2011, dass neue Strategien gegen Hunger und Armut in der Welt angesagt seien (www.socialnet.de/rezensionen/11455.php), und dass Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil für die Menschheit dringend erforderlich wäre (www.socialnet.de/rezensionen/10494.php). Es sind nicht zuletzt die vielfältigen und unterschiedlichen Prognosen und Konzepte, wie die Welt humaner, gerechter, sozialer und friedlicher sich entwickeln müsse – von der Kapitalismuskritik (Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, in: www.socialnet.de/rezensionen/12902.php) bis hin zur Wiederentdeckung der Gemeingüter (Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php, sowie: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php).
Spätestens seit dem Brundtland-Bericht von 1987 (WCED, Our Common Future; Volker Hauff, Hrsg., Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung) steht die Erkenntnis auf der Welttagesordnung, dass es ein „business as usual“ nicht mehr geben dürfe und „throuput growth“, Durchflusswachstum, abgelöst werden müsse durch „sustainable development“, eine ökologisch tragfähige Entwicklung (vgl. dazu auch: Robert Goodland, u.a., Hrsg., Nach dem Brundtland-Bericht: Umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung, Bonn 1992). Die Verheißung, die mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verbunden ist (Ulrich Gruber, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9284.php) hat zu Erwartungen geführt, die in der Wirklichkeit des ökonomischen und gesellschaftlichen Handelns der Menschen, lokal und global, nicht selten in Resignation ob der gewaltigen Herausforderungen für einen notwendigen Perspektivenwechsel, münden; wie auch in Forderungen, die Eine Welt mit Macht (Petra C. Gruber, Hrsg., Nachhaltige Entwicklung und Global Governance. Verantwortung – Macht – Politik, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/5854.php), Empathie (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php) und Humanität (Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php) zu erreichen. Die Einsicht, dass der Gedanke der Nachhaltigkeit nicht allein auf ökonomische Fragestellungen bezogen werden dürfe, sondern alle Gebiete des menschlichen Lebens umfasse, auch in der Bildung und Erziehung (Andreas Fischer, Hrsg., Die soziale Dimension von Nachhaltigkeit. Beziehungsgeflecht zwischen Nachhaltigkeit und Benachteiligtenförderung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10709.php), verdeutlicht die anspruchsvolle und gewaltige Herausforderung, die jeden Menschen und jede gesellschaftliche und institutionelle Anforderung betrifft.
Entstehungshintergrund und Autor
Das Bewusstsein, dass die verführerische und weltweit um sich greifende Einstellung vom stetigen ökonomischen Wachstum zu einem Irrweg in der Menschheitsentwicklung führt, wächst. Die Umsetzung aber zu einem Perspektivenwechsel,, wie ihn etwa die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in ihrem Bericht fordert – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ – ist scheinbar schwierig und mit vielen Wenn und Aber verbunden. Deshalb ist es wichtig, einen Blick auf das Konsumverhalten und die -erwartungen Menschen zu richten und nachzuschauen, „auf welche Art und Weise sich das Leitbild der ‚Nachhaltigkeit‘ in den Medien der Konsumkultur niederschlägt“.
Der an der HPI School of Design Thinking in Potsdam lehrende Medienwissenschaftler und Mitglied der Initiative „Think Tank 30 Deutschland“, Moritz Gekeler, legt den Text seiner Dissertation vor, die er an der Karlsruher Staatlichen Hochschule für Gestaltung eingebracht hat. Seine Fragestellung bezieht sich insbesondere darauf, wie Nachhaltigkeit in den Medien der Konsumkultur zum Ausdruck kommt und sich darstellt, sowie welche Wirkungen die unterschiedlichen Dimensionen auf Konsumerwartungen und -verhaltensweisen der Menschen ausüben. Die Überlegungen sind selbstverständlich nicht nur interessant und aufschlussreich für die Herstellung und Bewerbung der Konsumprodukte, sondern auch für Information (und Aufklärung) über Produktangebote für Verbraucher.
Aufbau und Inhalt
In insgesamt sechs Kapiteln stellt der Autor „Konsumkultur als Erzählkultur“ dar und bringt das Leitbild der „Nachhaltigkeit“ in den Diskurs ein, mit der Prämisse, dass die menschengemachte Entwicklung in ihren Auswüchsen und Fehlsteuerungen einer Korrektur bedarf, die weder vom Himmel fällt noch sich „normal“ reguliert, sondern auch durch die Menschen korrigiert werden muss. Er orientiert sich bei der Frage der Darstellung der Konsumprodukte auf den Ebenen der Herstellung, der Anschauung und des Angebots am „dreidimensionalen Kommunikationsmodell“, wie es von Rainer Gries entworfen wurde (Produktkommunikation: Geschichte und Theorie, 2008). Dabei arbeitet er die fiktionalen und realen Erzählformen und -zeichen heraus, die sich für Produzenten, Händler und Konsumenten in je unterschiedlicher Weise darstellen und den Modus des Erzählens bestimmen. Besonders bedeutsam sind dabei für alle Beteiligten Glaubwürdigkeit und Authentizität. Angelehnt an das Gries?sche Modell entwickelt Gekeler sein „dreidimensionales Modell der Produktnarration“, das sich in der „Narration des Faktiven“ durch Funktion, Materialität, Energizität, Temporalität, Ästhetik und Konvivialität auszeichnet. Es sind die fiktionalen Leitmotive der Nachhaltigkeit, die sich in Bildern, Farben, Zeichen und Symbolen ausdrücken und sich zu Leitmotiven, wie „Zukünftigkeit“, „Ganzheit“, „Gemeinschaftlichkeit“, „Kemmerschaft“ und „Gewissenhaftigkeit“ gerieren. Es sind die „Faktionalisierungsstrategien“, die Hersteller veranlassen, ihre Produktkommunikation mit Wertvorstellungen wie „Label-Glaubwürdigkeit“, „Tradition“, „Ehrlichkeit“, „Vision und Zukunft“ zu inszenieren, ein Feld für Produkt-Designer, -Mediatoren und -Kommunikatoren.
Fazit
Faktionalität versus Authentizität, diese widersprüchlichen, wie gleichzeitig auch sich ergänzenden Strategien bei der Produktkommunikation, bieten Chancen und Fallstricke für die Etablierung des Konsumguts Nachhaltigkeit, inhaltlich wie formal. Produzenten, allen voran die Marktführer und auf dem Markt Präsenten, reagieren auf die sich wandelnden Konsumentenerwartungen und -einstellungen durch mehr Authtentizität; „sie erzählen verstärkt faktionale Geschichten über die Entstehung und Herkunft der Produkte oder machen eine Aussage über die guten Absichten der Produzenten“. Die Gefahren, bei Placebo-, wie bei Nocebo-Effekten, sind für Produzenten virulent, für Konsumenten jedoch eine Herausforderung und Aufforderung zu einem kritischen Kauf- und Verbrauchsverhalten. Die Konsequenz, die sich aus der Arbeit von Moritz Gekeler ergibt, wäre: Fiktionale Erzählungen und faktikonale Beschreibungen von Produkten als Zielsetzung für eine zukünftige Produktkommunikation.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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