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Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos, 03.07.2012

Cover Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion ISBN 978-3-446-43011-2

Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion. Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Hanser Verlag (München) 2012. 280 Seiten. ISBN 978-3-446-43011-2. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,90 sFr.

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Thema

Michael Gazzaniga setzt sich in seinem Buch mit Ergebnissen der Hirnforschung und deren Bedeutung für die Entstehung unseres Bewusstseins und unseres „Ichs“ auseinander. Hierbei betont er die Rolle, die andere – auch andere Gehirne- in der Entwicklung von Sprache und Kultur spielen und schlussfolgert, dass Bewusstsein nur im Miteinander entsteht und daher nicht als isoliertes Hirnphänomen eines Individuums zu begreifen ist.

Autor

Michael Gazzaniga war Neurowissenschaftler am Dartmouth Collge und leitet heute das SAGA Zentrum für Neurowissenschaften. Er ist ausgewiesener Hirnforscher und gesuchter Referent weltweit.

Entstehungshintergrund

Der Autor selbst benennt im Vorwort ein Motiv zur Abfassung des vorliegenden Buches: er möchte einen Beitrag leisten zu der seines Erachtens oft vorschnell geführten Diskussion, wie sie aus der Hirnforschung erwächst und (nicht-)vorhandene Willensfreiheit fast zwangsläufig in Verbindung mit Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen auch in einem juristischen Sinn bringt. Hier will der Autor aufklären, die Debatte versachlichen und schließlich Position beziehen.

Aufbau und Inhalt

Entsprechend breit angelegt ist die Struktur des Buches. Der Autor beginnt mit einem knappen Überblick über die wesentlichen Erkenntnisse zum Funktionieren des Gehirns. Hierbei geht er von komplexen Strukturen und deren Interaktion einerseits aus, von der Tatsache der größtenteils dem menschlichen Bewusstsein unzugänglichen Abläufe andererseits – in der Verschaltung verschiedener Module entsteht selbstorganisiert Ordnung und das Empfinden eines einheitlichen Bewusstseins, auch wenn dieses dadurch nicht zum „Chef“ aller ZNS-Prozesse wird.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Entstehung von Bewusstsein und auch der Frage des „freien Willens“. Hierbei betont der Autor, dass jenseits der Gegebenheiten von Determiniertheit Raum bleibt und bleiben muss für Verantwortlichkeit was das eigene Handeln betrifft. Belege findet er sowohl in Untersuchungen menschlicher Wahrnehmung und ihrer Täuschungen, als auch in den sog. „Split-Brain“ Studien und wertet diese Ergebnisse: das menschlichen Bewusstsein sei kein einheitlicher Prozess, sondern kommt zustande im Zusammenwirken zahlreicher, verteilter Systeme, die dynamische interagieren; Bewusstsein sei deshalb eher eine emergente Eigenschaft komplex agierender Systeme, auch wenn es uns quasi als einheitliches „Ich“ erscheint – ein Ergebnis, welches aus dem Erklärungsbedürfnis der dominanten Hirnhälfte erwächst.

Kap. 4 setzt sich mit der Frage des „freien Willens“ auseinander, wobei die Entwicklung des Determinismus in den Naturwissenschaften ebenso zur Sprache kommt, wir die bekannten Libet-Experimente, die der Autor allerdings was ihre implizite Kausalität betrifft, relativiert: Handlung sei das Ergebnis eines bestimmten emergenten Geisteszustandes, den das komplexe Umgebungsmilieu gewählt – eine Kausalität von „oben nach unten“ oder von „vorher- nachher“ kann solche Vorstellungen nicht hinreichend abbilden. Folgerichtig beschäftigt sich Gazzaniga im folgenden Kapitel mit Einflüssen auf Geist und Gehirn „von außen“ und hier insbesondere vom sozialen Kontext. Hier zitiert der Autor die vielfältigen Ergebnisse zur Beeinflussung durch das soziale Milieu- von den evolutionären Vorteilen bis hin zum Phänomen der Spiegelneuronen und zum altruistischen Verhalten. Gehirnentwicklung und Gehirnfunktionen seien ohne den sozialen Kontext nicht verstehbar- diesen Gedanken nimmt der Autor dann später zusammenfassend noch einmal auf. Vorher beschäftigt er sich aber recht ausführlich mit den (möglichen) juristischen Schlussfolgerungen aus der Diskussion über Determinismus und freien Willen. Er kommt dabei zum Schluss, das Verantwortlichkeit nicht die Eigenschaft eines Gehirns ist, sondern eher ein Vertrag zwischen zwei (oder mehreren) Menschen- Kontrolle über Verhalten ist möglich, Regelbefolgung ebenso, daran ändere auch die Diskussion zum freien Willen und zu Schuldfähigkeit nichts. Ein Nachwort schließt das Buch ab.

Diskussion

Gazzangias Buch ist ein Spaziergang durch die Ergebnisse der Hirnforschung und der durch sie eingeleiteten Diskussionen unseres Verständnisses der Welt und unserer Selbst – man spürt das Bedürfnis des Autors, sozusagen eine Art Vermächtnis der eigenen Forschungen und Schlussfolgerungen hieraus vorzulegen. Wie bei einem Spaziergang gibt es beschwingte, leichte Abschnitte … aber auch solche, wo er in anstrengende Wanderung übergeht, die an mancher Stelle auch ziellos wirkt. So erscheint es dem Rezensenten schwierig, die eigentlich neue und erkenntniserweiternde Sichtweise in der Darstellungslogik zwischen den vielen Details verfolgen zu können: das nämlich das, was wir als Ich oder Selbst und als Geist oder Bewusstsein zu beschreiben gewohnt sind, eben nicht als Funktion eines Gehirns zu entschlüsseln ist. Der Mensch als offenes System (gerade für Sozialwissenschaftler wahrlich keine neue Erkenntnis) wird auch in seinen Gehirnfunktionen erst in der Interaktion mit anderen und mit seiner Umwelt verständlicher, auch wenn hierzu die Instrumentarien der Wissenschaft (Stichwort Komplexität ) noch bruchstückhaft sind. Dies erscheint ein Plädoyer für eine systemtheoretisch sich erweiternde Hirnforschung zu sein und hätte noch mehr Raum und Emphase im Buch verdient.

Fazit

Das Buch kann und muss verstanden werden, als Versuch, komplexe Sachverhalte für ein auch wissenschaftlich nicht vorgebildetes Publikum zugänglich zu machen- gerade weil die dort vermittelnden Inhalte wesentlich zu unserem Verständnis unseres Selbst und unserer Gesellschaft und Kultur beitragen, hilft das Buch, sich von manchem raschen Wissenschaftspublizismus abgrenzen zu können und sich der Tatsache unserer bisher nur vorläufigen Erkenntnisse stellen zu können, ohne dadurch handlungsunfähig zu werden – aber auch ohne vorschnellen Schlussfolgerungen aus der Hirnforschung bspw. für die Rechtsprechung auf den Leim zu gehen. In diesem Sinn sei das Buch gerne einem weiten Leserkreis empfohlen.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos
Hochschullehrer Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen, seit 31.8.2011 pensioniert
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Es gibt 90 Rezensionen von Christian Schulte-Cloos.

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Zitiervorschlag
Christian Schulte-Cloos. Rezension vom 03.07.2012 zu: Michael Gazzaniga: Die Ich-Illusion. Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Hanser Verlag (München) 2012. ISBN 978-3-446-43011-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12981.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.


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