Gian Domenico Borasio: Über das Sterben
Rezensiert von HS-Prof. Dr. Doris Lindner, 30.05.2012
Gian Domenico Borasio: Über das Sterben. Was wir wissen, was wir tun können, wie wir uns darauf einstellen. Verlag C.H. Beck (München) 2011. 207 Seiten. ISBN 978-3-406-61708-9. 17,95 EUR.
Thema
Den Tod mit der Geburt gleichzusetzen, ist zunächst ein Gedanke, der uns irritiert, denn der Tod gehört zwar zum Leben, ist aber dennoch weitestgehend tabuisiert. So ist es nicht eigentlich der Tod, der verdrängt wird, denn er umfängt uns täglich, es ist weit mehr das eigene Sterben, das uns nachdenklich und ängstlich zurücklässt. Mit diesem Oeuvre zweier zunächst konträrer Ereignisse, die unser physisches Leben beginnen und beenden, eröffnet Gian Domenico Borasio sein jüngstes Werk „Über das Sterben“ und spannt den Bogen dieser Einschnitte menschlicher Existenz als natürlich vorgesehene Programme, die am besten ablaufen, wenn man sie nur lässt. Lassen im Sinne von wenig störender Interventionen von außen, etwa durch die Medizin, die aber, sowie auch bei der Geburt, in manchen Fällen notwendig sind. Es ist der angstfreie Tod, den Borasio in den Mittelpunkt rückt und entscheidend hierbei ist die innere Einstellung dazu: wenn Schmerz und Angst aufeinander treffen, ist ein friedlicher Tod fern. Dem schmerzvollen körperlichen Leiden des Sterbens kann aus der Sicht der Palliativmedizin heute mit mehr Gelassenheit gegenüber getreten werden, als je zuvor, und dieses Angstnehmen erst öffnet den Blick auf eine angemessene Reflexion der eigenen Endlichkeit. Palliative Betreuung und Begleitung im Sterben sind aber weit mehr als medizinische Schmerzlinderung und Symptomkontrolle, entscheidendes Bindeglied ist die Kommunikation aller am Prozess des Sterbens Beteiligter, um nicht zu sagen: grundlegendes Element eines friedlichen Sterbens. Denn dem Schrecken der Angst kann nur mit offener Kommunikation entgegengetreten werden, nicht zuletzt einer von vielen Denkanstößen, die uns in diesem Buch begegnen.
Autor
Gian Domenico Borasio, geboren 1962, kam vor knapp 30 Jahren aus Italien zum Studium der Medizin nach München. Er ist seit 2011 Professor und Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der Technischen Universität München. Von 2006-2011 war Borasio Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, darüber hinaus ist er Mitbegründer des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin (IZP) am Klinikum der Universität München – Großhadern. Im Jahr 2004 erhielt das Zentrum den jährlichen Preis der Internationalen Vereinigung für Hospiz-und Palliativversorgung. Borasio hat drei Stiftungsprofessuren an der IZP etabliert, für Kinderpalliativmedizin, Soziale Arbeit in Palliative Care und für Spiritual Care, eine für Europa einmalige Professur. Mittlerweile gilt der 50-Jährige als führender Palliativmediziner Deutschlands und Autor zahlreicher Veröffentlichungen und wissenschaftlicher Artikel zum Thema. 1994 erschien ein allererster Artikel über Palliative Care in der Neurologie, wo Borasio als Co-Autor fungierte. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Palliativmedizin bei ALS und anderer neurologischer Erkrankungen, Spiritualität, Lebenssinn und Lebensqualität in der Palliativmedizin, Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht und End-of-Life-Entscheidungen sowie pädiatrische Palliativmedizin. Borasio ist Mitglied des Editorial Board mehrerer Zeitschriften und hat zahlreiche nationale und internationale Preise für seine Arbeiten erhalten.
Entstehungshintergrund
Aus langjährigen Erfahrungen, Beobachtungen und Gesprächen mit Sterbenden, Angehörigen und Betroffenen waren zweierlei Dinge maßgebend für die Entstehung des Buches. Zum einen die wiederholten Anfragen, in Vorträgen Gehörtes und als hilfreich Empfundenes nachlesen zu können; ausschlaggebend aber weit mehr die Beobachtung einer an der Irrationalität des Todes krankenden Angst, einer zutiefst beängstigenden Vorstellung eines qualvollen, unwürdigen Sterbens, vorangetrieben durch ein fehlendes, unmittelbares Todeserlebnis und durch eine zunehmende Anonymisierung des Sterbens. Denn Angst macht sich umso mehr bemerkbar, je weniger man über das Angstauslösende weiß. So gewinnt der Tod mit fortschreitender Durchdringung der Welt an Bedrohung, er wird zur Überraschung, die immer nur andere trifft und eine Integrität in das eigene Leben, also letztendlich eine Bewusstwerdung verhindert. Es ist dies das eigentliche Ziel dieses Buches, Menschen die Angst vor einem möglichen Leiden im Sterben, vor Abhängigkeiten, vor dem Verlust der Kontrolle am Lebensende zu nehmen, das Borasio aus seiner langjährigen Erfahrung heraus insistiert. Und dies geschieht nicht durch Stillschweigen und Wegschauen, sondern durch die Unmittelbarkeit der Kommunikation im und am Prozess des Sterbens Beteiligter.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist mittlerweile in seiner 8. Auflage (2012) im C.H.Beck Verlag erschienen und umfasst gut 200 Seiten, in denen sich der Autor in verschiedensten Kapiteln auf stringente Weise der vielstimmigen Debatte eines kontrovers geführten Themas äußerst klar und eindeutig stellt.
Ausführlich befasst sich der Autor zunächst in Kapitel 1, „Was wissen wir über Sterben?“ mit der Frage, warum wir sterben müssen und wie Sterben abläuft, beschreibt, was heutzutage unter Organtod oder Hirntod subsumiert wird und zieht Parallelen zwischen Geburt und Tod. Das Kapitel endet mit kurzen Ausführungen über den Nahtod als einem, den Palliativstationen eher abstinenten, Phänomen.
Wo der Tod uns heutzutage ereilt, dieser Tatsache liefert Borasio in seinem 2. Kapitel „Das Lebensende: Wunsch und Wirklichkeit“ Fakten und Statistiken, beschreibt die Orte des Sterbens, die vielfach nicht die sind, die wir uns wünschen, weil der Tod oft in Institutionen und fern der Familie geschieht.
In Kapitel 3, „Strukturen der Sterbebegleitung“, werden zusammenfassend die wichtigsten Stützen professioneller und ehrenamtlicher Sterbebegleitung vorgestellt, wie etwa Niedergelassene Ärzte, SAPV-Teams oder Palliativstationen und stationäre Hospize.
Sterbebegleitung, wie sie auf der einen Seite ist und wie sie auf der anderen sein sollte, ist die nächste Frage, die Borasio im Kapitel 4, „Was brauchen die Menschen am Lebensende?“ zu bedenken gibt. Sehr ausführlich und in mehreren Unterkapiteln widmet sich der Autor zentralen Themen einer gelingenden Betreuung und Begleitung: der Kommunikation und der medizinischen Therapie, der psychosozialen Betreuung sowie der spirituellen Begleitung schwer erkrankter Menschen, dem Spiritual Care. Dabei ist es wichtig, zwischen Spiritualität und Religiosität zu differenzieren und eine übergreifende Spiritualität zu benennen, die sich nicht auf eine bestimmte Religionsform einengen lässt.
In Kapitel 5 wird die Mediation als eine Methode der Krankheitsbewältigung vorgestellt, mehr als ergänzende, die Therapie unterstützende Maßnahme, als ein für alle gleichermaßen geeigneter Weg.
„Verhungern und Verdursten“ lassen sind hochgradig emotionale Themen, denen sich der Autor im folgenden Kapitel 6 widmet, Umstände, die vor allem bei Menschen mit Demenz und Patienten im Wachkoma schwierige Entscheidungen abverlangen und Zündstoff vieler hitzige Debatten um ethische, rechtliche und den Patientenwillen betreffende Aspekte liefern.
In Kapitel 7 stellt Borasio überblicksmäßig „Die häufigsten Probleme am Lebensende“ vor und gibt Hinweise, wie man diesen vorbeugen kann. Thematisiert werden Kommunikationsprobleme etwa zwischen Arzt und Patient oder innerhalb der Familie, psychosoziale und spirituelle Probleme, aber auch Therapiefehler wie die Angst der Ärzte vor Morphin, eine immer noch weit verbreitete Angst, so der Palliativmediziner. Befürchtet wird eine Bremsung der Atmung und folgend die Herbeiführung des Todes. Entsprechend zurückhaltend wird das Mittel gegen Schmerzen verordnet, obwohl bereits erwiesen, dass dem nicht so ist.
Ein Dauerbrenner auch ist die Diskussion um eine richtige Vorsorge für das Lebensende etwa in Form von Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung, wie in Kapitel 8 erläutert. Es sind dies Instrumente, die den Fall eines Äußerungsverlustes vorwegnehmen und entsprechende Vorkehrungen treffen. Dies setzt einen fortwährenden Dialog voraus, mit sich selbst und dem sozialen Umfeld, um im Fall des Falles die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Denn viel zu oft setzen sich Ärzte über den Willen Schwerstkranker hinweg und versuchen medizinisch und technisch alles erdenklich mögliche. Damit tragen sie aber eher zu einer mitunter qualvollen Verzögerung des Sterbens bei als zur sinnvollen Verlängerung des Lebens. Statt Sterbende um jeden Preis am Leben zu erhalten, müssen Mediziner lernen, ein friedliches Sterben in aussichtslosen Lagen zu ermöglichen, so Borasio.
Was zum Thema Sterbehilfe aus heutiger Sicht zu sagen ist, versucht der Autor in dem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge aus der Sicht der Medizin in Kapitel 9 zu beantworten. Was heißt aktive und passive Sterbehilfe, was meint indirekte Sterbehilfe und was Beihilfe zur Selbsttötung? Brauchen wir überhaupt den ärztlich assistierten Suizid? Eine bestmögliche Palliativversorgung für alle Betroffenen sicherzustellen hat absolute Priorität. Trotz aller Bemühungen ist bei einem kleinen Teil der Palliativpatienten eine ausreichende Symptomlinderung nicht möglich. Erfahrungsgemäß gründen die meisten Sterbewünsche vor allem in einem Verlust von Lebenssinn, oft verbunden mit Gefühlen der Isolation, der Angst vor Kontrollverlust und der Angst, den Mitmenschen zur Last zu fallen.
Die beiden abschließenden Kapitel 10 und 11 geben einerseits nützliche Hinweise zur Palliativmedizin und Hospizarbeit, brechen mit Mythen und zeigen die Realität einer zunehmenden Professionalisierung und Institutionalisierung, die es zu überwinden gilt, spielen mit Gefahren und Hoffnungen zukünftiger Entwicklungen; vor allem aber, so Borasio weiter, ist es in der Palliativ- und Hospizarbeit wichtig, sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu sein. So zieht er die für ihn entscheidende Schlussfolgerung, dass Menschen, die von Sterbenden und ihrem Wissen lernen, deutlich weniger Angst vor dem Tod zeigen. Ein Grund mehr, dem eigenen Sterben positiv gegenüberzustehen.
Diskussion
Gian Domenico Borasios Buch „Über das Sterben“ greift tief in unsere Vorstellungen und teils unreflektierten Übernahmen über Sterben und Tod. Der Versuch einer aktuellen Hinführung, was wir tun können, um uns auf das Sterben einzustellen, liest sich angenehm leicht. Und dies alles trotz atemberaubender Aufdeckungen und unerwarteter Einsichten, die dessen ungeachtet seltsam vertraut erscheinen. Aufbau und Durchführung des Buches sind hinsichtlich ihrer vermittelnden Leistung ausgezeichnet. Der systematische Zugang zur eigenen Sterblichkeit erschließt sich auf einem Niveau, das dieses in seinem vollem Umfang und ihrer denkerischen Stringenz äußerst facettenreich vor Augen führt. So zeugt Borasio ein lebensechtes Portrait unserer gegenwärtigen Sterbekultur, Ansichten, die wachrütteln und heilsam anmuten. Gerade in dieser gewählten Darstellungsform bietet das Buch in seiner zwingenden Bloßstellung einen höchst öffnenden Zugang zu den existentiellsten Fragen des Menschenseins, den Fragen rund um Endlichkeit, Sterben und Tod, und bietet gleichzeitig eine Hilfestellung, den Schleier der Unwissenheit zu lüften. Den Tod zu tabuisieren geschieht nicht dadurch, den Tod als selbstverständlichen Teil unserer Existenz anzunehmen und im ständigen Angesicht des Todes verharrend auf das Ende zu warten. Was wir von Schwerstkranken und Sterbenden lernen können, so Borasio, ist, dass die Vorbereitung auf den Tod gleichzeitig die beste Vorbereitung auf das Leben ist. Eine sorgsam abgesicherte Diagnose. Damit bleibt es an uns, den Tod als das anzunehmen, was er ist – ein normaler Bestandteil unseres Lebens. Der, der es lernt, den Tod als Teil seines Lebens zu bejahen, kann das Sterben als eine zum Leben gehörende Phase gestalten. Eine Vorstellung, die nur dann gelingen kann, wenn der Tod perspektivisch gesehen wird. Eine den Bedürfnissen des Sterbenden angepasste Begleitung im Sinne von Spiritual Care gelangt damit weiter an Gewicht, fordert damit aber auch gleichzeitig Kompetenzerweiterungen im interreligiösen und damit multiprofessionellen Dialog. Und noch etwas gibt uns das Buch mit auf dem Weg: in Kommunikation zu bleiben. Denn Ängste nähren sich dadurch, dass man Unwissenheit Raum gibt. Nicht zuletzt beeindruckt auch diese Einsicht.
Fazit
Gerade im Buchstabieren und Übersetzen des Themas für eine Allgemeinheit tritt die Erfahrungsnähe und dessen wahrer Kern vor Augen: dass nämlich Sterben durchaus als Teil des Lebens begriffen werden kann, den man nicht immer und ausschließlich mit Angst und Überforderung begegnen muss. In diesem Sinne vermag Borasio hiermit vor allem eines: über den allerorts konstatierten Status quo der Sterbedebatte produktiv hinauszuweisen. Das Buch ist eine äußerst verdienstvolle und wichtige Erscheinung für jedermann, der einen tieferen Einblick in die Thematik gewinnen möchte.
Rezension von
HS-Prof. Dr. Doris Lindner
Institut Qualitätsmanagement und Hochschulentwicklung
Private Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems
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Zitiervorschlag
Doris Lindner. Rezension vom 30.05.2012 zu:
Gian Domenico Borasio: Über das Sterben. Was wir wissen, was wir tun können, wie wir uns darauf einstellen. Verlag C.H. Beck
(München) 2011.
ISBN 978-3-406-61708-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12993.php, Datum des Zugriffs 10.09.2024.
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