Yvonne Ploetz (Hrsg.): Jugendarmut. Beiträge zur Lage in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 30.12.2013
Yvonne Ploetz (Hrsg.): Jugendarmut. Beiträge zur Lage in Deutschland. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2012. 280 Seiten. ISBN 978-3-86649-484-8. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR, CH: 45,50 sFr.
Thema
Wenn von Kinder- und Jugendarmut die Rede ist, wird angenommen, dass sich Armutslagen und dadurch entstehende Probleme und Gefährdungen bei Kindern und Jugendlichen von denen Erwachsener teilweise unterscheiden. In Untersuchungen wird gewöhnlich der Frage nachgegangen, inwiefern Kinder und Jugendliche in besonderem Maße von Armut betroffen sind und wie sich diese auf ihr gegenwärtiges und künftiges Leben auswirkt. Manche Untersuchungen fragen auch, wie die Kinder und Jugendlichen Armut selbst wahrnehmen und sich mit ihr auseinandersetzen.
Im Unterschied zur Kinderarmut, zu der inzwischen mehrere Untersuchungen vorliegen, wird der Jugendarmut bislang geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist keineswegs angemessen. Zwar stehen Jugendliche in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal, wo inzwischen mehr als 50 Prozent (!) der Jugendlichen vergeblich eine bezahlte Arbeit suchen, vergleichsweise gut da, aber auch hierzulande sind seit Jahren Jugendliche überproportional dem Risiko ausgesetzt sind, in Armut aufzuwachsen und ihrer Lebensperspektiven beraubt zu werden.
Die für die europäischen Gesellschaften verfügbaren Daten basieren meist auf dem Konzept relativer Einkommensarmut. Darunter wird in der Europäischen Union verstanden, dass eine Person bzw. ein Haushalt über weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Bei Kindern wird dies auf das Einkommen ihrer Familie bezogen; bei Jugendlichen ist die Berechnung davon abhängig, welches Alter zugrunde gelegt wird und ob sie noch zum Haushalt der Familie gehören, was naheliegender Weise nicht bei allen Jugendlichen der Fall ist. In Deutschland lag die so berechnete Armutsschwelle 1911 bei 848 Euro für einen Einpersonenhaushalt (das könnte also auch für allein lebende Jugendliche gelten) und bei 1.526 Euro für einen Paarhaushalt mit einem Kind unter 14 Jahren. Unter Beachtung dieser Kriterien war im Jahr 2011 fast jeder fünfte junge Mensch unter 18 Jahren von Armut betroffen oder gefährdet. Folgen wir dem 14. Kinder- und Jugendbericht, der 2013 vom Deutschen Bundestag veröffentlicht wurde, sind die 11- bis 20-jährigen Kinder und Jugendlichen weiterhin überproportional von Armut betroffen, darunter vor allem diejenigen, deren Eltern oder Großeltern als Migranten nach Deutschland gekommen sind.
Aufbau und Inhalt
Yvonne Ploetz, die Herausgeberin des hier zu besprechenden Sammelbandes, ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN und langjähriges Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Die in dem Band versammelten Beiträge basieren großenteils auf Vorträgen einer Veranstaltungsreihe, die 2011 unter dem Titel „Jugend.Arm?Mut!“ stattgefunden hatte. Mit der Veröffentlichung, so die Herausgeberin in der Einleitung, soll gegen die weitverbreitete Meinung, dass Jugendliche an ihrer Misere selbst schuld seien, für die tatsächlichen Ursachen und Auswirkungen der Jugendarmut sensibilisiert werden. Der Band ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil („Jugendarmut. Ein Problem neben vielen?“) begründen zwei Autoren, warum die Jugendarmut besondere Beachtung verdient. Roland Lutz macht darauf aufmerksam, dass Jugendarmut im Unterschied zu Kinderarmut nicht nur das Ergebnis von Familienarmut sei; sie müsse als „eigenständige Armut“ junger Menschen verstanden werden, die entweder keinen Zugang zum Erwerbssystem finden oder darin marginalisiert werden und es bleiben; sie sei insgesamt das Ergebnis eines Prozesses sozialer Ausgrenzung von verwundbaren Jugendlichen aus bestimmten Lebenslagen, der in der Familie beginnt, sich im Schulsystem fortsetzt und sich biographisch verlängert, wobei die Teilhabechancen der Einzelnen abnehmen. Im zweiten Beitrag setzt sich Hans-Peter Michels mit oft erniedrigenden Mediendarstellungen Jugendlicher aus der sog. Unterschicht auseinander; demgegenüber vermittelt er einen differenzierten Einblick in deren tatsächliche Lebenssituation und ihre Versuche, mit ihr klar zu kommen.
Der zweite Teil des Bandes („Jugendarmut im flexibilisierten Kapitalismus“) enthält sechs Beiträge, die vor allem die gesellschaftlichen Ursachen von Jugendarmut in den Blick nehmen. Hervorgehoben seien zwei Beiträge. Christoph Butterwegge unternimmt den theoretisch anspruchsvollen Versuch, die Zusammenhänge wachsender Jugendarmut mit der kapitalistischen Globalisierung und den neoliberalen Sozialreformen zu erklären. Wolfgang Gaiser, Martina Gille und Johann de Rijke stellen unter Rückgriff auf vorliegende Studien und eine eigene empirischen Untersuchung die Konsequenzen dar, die Armut für die Lebensorientierung und soziale Integration der betroffenen Jugendlichen hat. In einem weiteren Beitrag (Jonas Boos) wird ein informativer Überblick über die Jugendproteste in Europa und deren Hintergründe gegeben.
Im dritten Teil („Dimensionen von Jugendarmut“) werden in fünf Beiträgen einige spezifische Aspekte von Jugendarmut beleuchtet. Heinz Bierbaum untersucht unter dem Stichwort „Generation Prekär“ die Situation der Jugendlichen am Arbeitsmarkt. Carola Bury setzt sich mit der „unübersichtlichen Doppelmoral“ des sog. Gesundheitsmodernisierungsgesetzes und der entsprechenden Finanzierungsnormen der gesetzlichen Krankenversicherung auseinander, die Verhütung und Familienplanung junger Frauen erschweren. Anne Ames zeigt, wie junge Arbeitslose unter 25 Jahren durch die 2006 erfolgte Verschärfung des Hartz-IV-Gesetzes (SGB II) zusätzlichen Sanktionsbestimmungen unterworfen werden, um sie mit Druck und Strafen „auf den rechten Weg zu bringen“. Gerhard Trabert geht den Gesundheitsrisiken von Jugendlichen nach, die in sozialen Brennpunkten oder auf der Straße leben. Stefan Thomas zeigt am Beispiel der Jugendszene am Berliner Bahnhof Zoo, wie die Jugendlichen, für die die Straße notgedrungen zum Lebensort geworden ist, durch eine „paternalistische Umdeutung“ ihrer Situation in eine nahezu ausweglose Marginalisierung getrieben werden.
In einem abschließenden Beitrag, der „mehr als ein Nachwort“ sein soll, vermittelt Klaus Farin, der Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen, am Beispiel junger Migrant*innen „Aufschlüsse über Ausschlüsse Jugendlicher“, gibt aber auch zu bedenken, dass viele benachteiligte Jugendliche in jugendkulturellen Netzwerken Gelegenheit zum gemeinsamen Engagement finden (können).
Diskussion und Fazit
Auch wenn manche Beiträge etwas holzschnittartig und ungeordnet sind und ihnen eine redaktionelle Bearbeitung gut getan hätte, erfüllt der Sammelband den intendierten Zweck, auf ein bisher vernachlässigtes soziales Problem aufmerksam zu machen. Er bringt verborgene Aspekte von Jugendarmut ans Licht, klärt über ihre sozialen, politischen und rechtlichen Hintergründe auf und gibt Hinweise auf mögliche und teilweise bereits praktizierte Gegenstrategien.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.
Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 30.12.2013 zu:
Yvonne Ploetz (Hrsg.): Jugendarmut. Beiträge zur Lage in Deutschland. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2012.
ISBN 978-3-86649-484-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13012.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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