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Ulrich Fey: Clowns für Menschen mit Demenz

Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 02.01.2013

Cover Ulrich Fey: Clowns für Menschen mit Demenz ISBN 978-3-86321-015-1

Ulrich Fey: Clowns für Menschen mit Demenz. Das Potenzial einer komischen Kunst. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2012. 120 Seiten. ISBN 978-3-86321-015-1. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR, CH: 24,90 sFr.

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Autor und Hintergrund

Ulrich Fey arbeitet freiberuflich als Journalist und in der Ausbildung von Journalisten. Seit 1997 arbeitet er als Clown Albert. Er geht in Alten- und Pflegeheime, besucht und erfreut dort vornehmlich Menschen mit Demenz. In Vorträgen, Aus- und Weiterbildungskursen gibt er seine Erfahrungen an Pflegende, Mediziner und Clowns weiter.

Zielgruppen

Das Buch wendet sich an alle, die mit Menschen mit Demenz leben und/oder für sie arbeiten und die neugierig sind auf die besondere Wirkkraft von Clowns und die Erkenntnisse der Clowns für das Zusammenleben und Arbeiten mit Menschen mit Demenz

Aufbau und Inhalt

Das Buch hat 14 Kapitel, ein Vorwort, einen Ein- und Ausblick, einen Dank, Endnoten, Literaturverzeichnis und Bildnachweis.

In den ersten 5 Kapiteln nähert sich der Autor konkret beschreibend und nachvollziehbar verschiedenen Aspekten – neurobiologisch, medizinhistorisch, demoskopisch, soziohistorisch und soziobiographisch – den Ursachen, der Bedeutung und Bewertung des Phänomens Demenz. Normalerweise wird jegliches Erleben und Erfahren neurologisch dreifach verankert und verkoppelt (Embodiment). Diese drei Verankerungen – emotional, kognitiv, körperlich – sind unterschiedlich intensiv und bilden die Quelle unserer Erinnerung. Demenz ist weder eine moderne noch eine grassierende Krankheit, sondern ein schleichender Prozess, der zunehmend die zeitliche, räumliche, persönliche und planerische Orientierung der Betroffenen beeinträchtigt, da die Fähigkeit Neues und Altes zu „verknüpfen“ reduziert ist und dadurch „Fehlverknüpfungen“ passieren. Demenz bedeutet „einfach Mensch sein“ – befreit und frei von Attributen wie Status, Rollen, Wissen, Ansehen, Wohlstand, Armut u.ä.m. Menschen mit Demenz treten in ihrer (ur)eigenen Art in Kontakt und sind darin authentisch, ehrlich, eigensinning, bedingungslos und glaubhaft. Es geht darum, sie für „ihr Sein schätzen zu lernen, zu mögen, vielleicht zu lieben.„(vgl. S.14).

Der Clown lebt, handelt und kommuniziert herzens- und nicht hirnorientiert. Scheitern ist bei ihm Programm, aber nie wirkliche Niederlage, sondern die Eröffnung neuer Perspektiven und in gewisser Weise ein Infragestellen des Üblichen und Verfestigten. Durch Wechseln der Perspektiven und Ebenen schafft/generiert er neue Wirklichkeiten bzw. begibt sich – in Bezogenheit zum Gegenüber – in die ihm angebotenen Wirklichkeiten. Frei von Berührungsängsten und Vorurteilen leitet ihn der Wunsch, Kontakt herzustellen, zu halten und zu pflegen. So ist er für jedes Lebensalter und vielfältige Lebenssituation ein Gegenüber, das weder vergleicht, urteilt noch bewertet.

Menschen mit Demenz erleben Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit elementar und existentiell bedrohlich. Aktiviert werden dadurch die archaischen Notfallprogramme im Hirnstamm, d.h. Angriff oder Flucht und wenn diese beiden nicht mehr greifen ohnmächtige Erstarrung, d.h. sie sind Signale tiefer Not und müssten verstanden werden als Verteidigung, als Suche nach dem Vertrauten, dem Sicherheit Gebendem. Demenz ist kein Verlust des Selbst, sondern eine angstauslösende Veränderung.

Mit Beispielen untermalt beschreibt der Autor, was Menschen mit Demenz unterstützt und ihnen hilft. Zentral sind menschliche Nähe, Zugewandtheit, Anteilnahme, Offenheit, Wertschätzung, Würdigung ihrer Vergangenheit, ihrer Erinnerungen und ihrer Gefühle. Für das Ein-Fühlen und Ein-Denken ist sowohl biographisches Wissen hilfreich, als auch eigene Erfahrungen der Ohnmacht, Hilflosigkeit, Einsamkeit, um einerseits gezielt und sinnlich In-Kontakt-zu gehen – z.B. über vertraute Lieder, Gedichte, Texte, über Gerüche, Klänge und Melodien, über sanfte Berührungen – ohne lebensgeschichtliche Grenzen zu verletzen, schmerzvolle, unbewältigte Erinnerungen zu aktivieren und verletzende Korrekturen – verbal und manuell – zu unterlassen. Menschen mit Demenz benötigen – wie jede/r von uns auch – so viel Selbstständigkeit wie möglich.

In den Kapiteln 6 bis 10 beschreibt Fey die Figur des Clowns, die Wirkweise und Wirkung von Humor, Komik, Musik und Gesang.

Der Clown ist immer der Andere, der Außenseiter, der Außer-Gewöhnliches zeigt und tut. Er ist eindeutig, offen, ehrlich – authentisch. Er ist der Antipode nirgend zugehörig, weshalb er sich allem Gängigen widersetzen kann/darf/soll und das Gegenteil verkörpert. Er ist eine Projektionsfläche für Wünsche/Vorstellungen. Er lebt und bewegt sich in Zwischenwelten. Regeln /Ordnungen missachtet er aus Unkenntnis/Ahnungslosigkeit.

Der Clown will entängstigen, Vertrauen schaffen, in Beziehung treten, will Kontakt herstellen mit der ursprünglichen Lebensfreude und Lebensvitalität. Präsent im Augenblick, im hier-und-jetzt ohne Vorsatz, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft vergisst er sich und die Zeit . Er nimmt ernst und würdigt, was da ist, was sich ihm zeigt – insbesondere Gefühle -. So wie Eigenart, Eigensinn und Seltsamkeit des Gegenübers ihm Herausforderungen sind, sind Fehler, Störungen erwünscht. Alles liefert ihm Ideen und Spielmaterial für Improvisationen, die Freude machen. Er spielt aus dem Herzen, der Intuition -absichtslos- ohne wozu und warum. wählt die schwierigen Varianten. Versagen und Scheitern sind positiv besetzt, Lachen ist erlaubt. Er stellt sich bloß, nie die Anderen.

So relativiert der Clown die Schwierigkeiten des Lebens. Durch den Humor hilft er, nicht nur sich von den Problemen zu distanzieren, ihre komische Seite zu sehen, sie neu und anders wahrzunehmen, sondern ermöglicht handelndes Subjekt in der Situation zu bleiben.

Mit kindlicher Weltfremdheit, Neugier und vertrauter Zerstreutheit nutzt er die Magie des Augenblicks. Durch maßlose Über-/Untertreibung, Inkongruenzen, Absurditäten, Wortspiele, Imitationen, Spiegelungen, Umkehrungen, Minimalismen, ungewöhnliche Körperbewegungen und außergewöhnliche (Be)-Nutzung von Gegenständen erzeugt der Clown handelnd Komik, jedoch nie auf Kosten des Gegenübers oder zur Selbstaufwertung.

Humor ist der Antagonist der Angst. Menschen können zeitgleich nur eine Emotion spüren. Somit reduziert Humor und Lachen den Leidensdruck – Hilflosigkeit, Verzweiflung, Scham und Schuld. Er stärkt das Selbstvertrauen, verbindet und würdigt und bringt in Resonanz mit Anderen.

Neurobiologisch gibt es weder ein Humor- noch ein Musikzentrum, sondern bei beiden liegen neuronale Netzwerke mit kognitiven, emotionalen, motorischen und sensualen Knotenpunkten vor, die sich wechselseitig beeinflussen. Singen – allein oder mit-ein-ander wirkt angstreduzierend, lässt soziale Resonanz erleben, aktiviert Emotionen, Assoziationen, Erinnerungen, die aktuell, in der konkreten Situation, neu geordnet werden können.

Clowns bei Menschen mit Demenz

Clown-Sein verlangt eine Bewusstheit der eigenen Lebensgeschichte – ihrer freuden-, leid- und schmerzvollen Anteile – und eine Selbstsensibilität, wenn Situationen Altes und Tiefverankertes wie eigene Ängste, Bedrohungen, Verletzungen re-aktivieren und die Einfühlung blockieren.

Der Clown bekommt Zugang zu Menschen mit Demenz über Emotionen. Er akzeptiert sein Gegenüber in und mit all seinen Gefühlen und Handlungen Er scheidet nicht zwischen „gut“ und „schlecht“, angemessen/unangemessen. Er hat Zeit, Ruhe, Geduld, ist ziellos in der Begegnung, frei von Erwartungen und Bedingungen. Seine Verbundenheit ist eine ursprüngliche und spezielle. Denn beide verstoßen auf ihre Weise gegen Normen, Regeln und das sogenannte Normale und sie erfahren Grenzen. Seine clowneske Intuition ist Triebkraft seines Handelns, in der konkreten Begegnungssituation greift er das Angebotene auf und wählt das situativ Angemessene zur Gestaltung und Entfaltung des Kontaktes, der sozialen Resonanz. Er begegnet im Gefühl, erdet Ängste, Schmerzen und Scham, enttabuisiert die Situation. In der „gemeinsamen“ anderen – z.T. irrealen – Wirklichkeit kann er Erfahrungen, Wünsche inszenieren (lassen) und wird so zum Komplizen und/oder zur Projektionsfigur.

In der Begegnung und Interaktion lässt er sich auf den Perspektivenwechsel ein, sieht die Verwirrtheit als einen „alternativen Bewusstseinszustand“ und fühlt sich verantwortlich für eine beid- und wechselseitige Verständigung. Er hat Zeit, ist entschleunigt, sucht den Augenkontakt, ist neugierig auf und interessiert am Gegenüber, wählt tief verankerte Rituale z.B. Hand geben, Winken beim Abschied. Er spricht wertschätzend und empathisch, d.h. hält Augenkontakt, nutzt eindeutige, kurze Sätze, vermeidet W- und Entscheidungsfragen, spricht langsam, deutlich mit Pausen, unterstützt sein Reden mit Mimik und Gestik, lässt sich auf den Mund schauen. Er ist achtsam bei Berührungen, fragt vorher; denn sie könnten körperlich, geistig oder seelisch Belastendes antriggern. Und er bedankt sich für das Mitmachen – für die Begegnung in Resonanz.

Clowns verbessern die Lebensqualität der Menschen mit Demenz und das Arbeitsklima des Personals.

Fazit

Das Buch ist einfühlsam, wohlwollend, wertschätzend und die Menschen mit Demenz würdigend geschrieben. Es zeugt von der tiefen Zugewandtheit und Liebe zum Menschen, seinem Leben und seinem Vergehen. Von daher überrascht es nicht, dass der Clown Albert = Autor diese Menschen tief berührt und in ihnen Altes weckt, ihnen Freude ermöglicht und Lebensqualität schenkt.

Wer den „Arche„typ Clown und Menschen mit Demenz tiefer verstehen will, sollte dieses Buch unbedingt lesen.

Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
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Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 02.01.2013 zu: Ulrich Fey: Clowns für Menschen mit Demenz. Das Potenzial einer komischen Kunst. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2012. ISBN 978-3-86321-015-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13075.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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