Tilmann Moser: Geld, Gier & Betrug
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.03.2012
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Tilmann Moser: Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird – Betrachtungen eines Psychoanalytikers. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2012. 176 Seiten. ISBN 978-3-86099-888-5. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 25,90 sFr.
Die Täuschgesellschaft
Dass in unseren Gemeinwesen, lokal und global, individuell und kollektiv, etwas nicht stimmt, ist eine sich über die Jahrtausende hinziehende Klage. Grundlage dabei ist die Vorstellung, dass der Mensch ein vernunftbegabtes, auf Gerechtigkeit, Genügsamkeit und nach euzôia, einem guten, glücklichen Leben strebendes Lebewesen ist und pleonexia, ein Mehrhabenwollen als zur Befriedigung eines guten Lebens notwendig ist, als Abweichung des Menschseins verstanden wird (vgl. dazu: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005). Mehr haben wollen als zu sein (Erich Fromm, Haben oder Sein. Die Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 1976), oder die Erkenntnis, dass „Mehr für Weniger“ zu mehr gerechtem Wohlstand in der Gesellschaft führt (Ernst Ulrich von Weizsäcker / Amory B. Lovins / L. Hunter Lovins, Faktor Vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch. Der neue Bericht an den Club of Rome, 1995), die Diskussion um ein „Allmende-Bewusstsein“ (Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php), die Erkenntnis, dass die Welt Allgemeingut ist (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php), die Menschheitsfrage (Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php). Es ist die Utopie, Gleichheit für die Menschheit zu schaffen (Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10159.php), die Anklage, dass Reichtum Armut schafft (Karl Georg Zinn, Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4493.php), wie es gelingen kann, das Ungeheuer „Kapitalismus“ zu bändigen (Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10929.php). Es ist die Analyse, wie die ökonomischen und ökologischen Krisen in der Welt zustande kommen und bewältigt werden können (Elmar Altvater, Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10533.php), welche Mittel erforderlich sind, um eine andere, bessere Welt zu schaffen (John Holloway, Kapitalismus aufbrechen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10534.php) und die Erkenntnis, dass, wenn das System falsch programmiert ist, der gute Wille des Einzelnen an Grenzen stößt (Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10494.php), die Frage nach dem ökonomischen Ethos (Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php). Es ist die Suche danach, wie das Konsumverhalten der Menschen verändert werden kann Moritz Gekeler, Konsumgut Nachhaltigkeit. Zur Inszenierung neuer Leitmotive in der Produktkommunikation, www.socialnet.de/rezensionen/12966.php), die auch darin mündet, wie eine gute Regierungsführung Elemente für eine nachhaltige Entwicklung implementieren kann (Petra C. Gruber, Hrsg., Nachhaltige Entwicklung und Global Governance. Verantwortung – Macht – Politik, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/5854.php); und es ist die Frage, wie „ehrliche Arbeit“ verwirklicht werden kann ( Norbert Blüm, Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11382.php ). Wie also kann ein globales Bewusstsein dafür geweckt werden, dass die Menschheit vor der Herausforderung steht, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden, wie dies 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ den Menschen ins Stammbuch geschrieben hat? Wie Empathie als Steuerungs- und Antriebsmittel für eine humane Menschheitsentwicklung in die Welt gebracht werden kann? (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Das Werk, eine gerechtere (Eine?) Welt mit zu gestalten, so der Tenor der intellektuellen Bemühungen, kann nur gelingen, wenn allen Menschen diese globale Herausforderung bewusst gemacht werden und sie dazu zu gebracht werden können, mitzumachen; individuell und kollektiv, privat und ordnungspolitisch, im Alltag und als Systemwandel, fachspezifisch und ganzheitlich. Aus diesem Grund wurden die Hinweise auf die ausgewählte Literatur gegeben, gewissermaßen als Hoffnungsträger, dass sich (schon) viele Menschen auf den Weg machen, nach Alternativen zum scheinbar selbstverständlichen und fälschlich naturgegebenen Gründen eines „Immer-mehr“ – Denkens und Handelns der Menschen zu suchen. Es sind Anthropologen, Philosophen, Soziologen, Bildungs-, Sozialwissenschaftler und Ökonomen, die Konzepte, Utopien und konkrete Handlungsmodelle in den gesellschaftlichen Diskussionsprozess einbringen.
Da ist es erst einmal besonders interessant, wie ein Psychoanalytiker und Psychologe mit soziologischem, rechtsphilosophischem und literaturwissenchaftlichem Rüstzeug seine Sichtweisen über Banken- und Finanzkrisen, Schulden und Geld, Spekulationen und Korruption, Größenphantasien und Egozentrismen, in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt: Der Psychoanalytiker mit privater Praxis (in Freiburg), Tilmann Moser, legt seine Betrachtungen in dem Taschenbuch vor, deren Tendenz sich bereits aus dem Buchtitel ergibt: Wie unser Vertrauen missbraucht wird. Während der Tausch, als traditionelles Mittel zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen, als traditionelle Wirtschaftsform und Versorgungsweise über Jahrtausende hinweg menschliches Denken und Handeln bestimmte, hat sich – durch Bevölkerungsvermehrung, Besiedlung und konsumtives Verhalten – der Waren- zum Geldwert entwickelt; doch daran hat sich erst einmal nichts wesentliches am Grundprinzip des Tauschens von Waren, die an einer Stelle vorhanden sind und an anderer gebraucht werden, verändert. Erst die Ablösung des Warenwerts durch den materiellen und virtuellen Kapitalmarkt hat „Geld“ im Wirtschaftsleben der Menschen eine andere Bedeutung erlangt (Gerhard Kolb, Wirtschaftsideen. Von der Antike bis zum Neoliberalismus, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6968.php).
Aufbau und Inhalt
Mit einer einfachen umlautlichen Brechung verdeutlicht Tilman Moser das Problem: Tauschwirtschaft – Täuschwirtschaft / -gesellschaft“. Er beginnt mit der rechtlichen Grundlage, wie sie das (deutsche) Strafgesetzbuch mit den Paragraphen 263 (Betrug) und 266 (Untreue) ausweist. Damit macht er eindeutig deutlich, dass jemand, der sich rechtswidrig einen Vermögensvorteil verschafft, Unrecht begeht und bestraft wird; ebenso derjenige, der durch Gesetz, behördlichen oder Regierungsauftrag Vermögens- und Wertinteressen anderer Menschen wahrnimmt und diese verletzt oder missbraucht.
Ein Blick in die Geschichte über Betrugsfälle in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gibt kein allzu positives Bild; vielmehr registriert der Autor „einen fortschreitenden Verfall der Moral“, trotz der Verfeinerung der Rechtsprechung im Laufe der Jahrhunderte – und wegen der Skrupellosigkeit von Einzelnen, Klassen und Systemen, wie z. B. die unsägliche Entwicklung, die der Berlusconismus in Italien verursacht und zur „Verseuchung des Wesens der Italiener“ beigetragen hat.
Es wäre freilich zu einfach, mit dem Finger auf andere zu zeigen und dabei zu vergessen, dass beim Fingerzeig drei Finger auf sich selbst zurückweisen. Der „Raubtierkapitalismus“, wie dies bereits 2004 als „paranoid-schizoides Phänomen der Globalisierung“ bezeichnet wurde (Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus?“ Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, www.socialnet.de/rezensionen/1787.php), macht auch vor den deutschen Türen nicht Halt. Die „Täuschwirtschaft“ (Alexander Dill, Täuschwirtschaft, 2010), mit den Symptomen Vorteilsnahme, Steuerbetrug, Täuschung und Missachtung der für die Existenz der Menschheit unverzichtbaren Balance zwischen Natur und Kapital, zwischen Ökonomie und Ökologie (siehe dazu auch: Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11451.php).
Wem freilich soll man da ins Gewissen reden? Den Einzelnen, der Gesellschaft, den Regierenden, den Kapitalisten? Wie bildet sich öffentliche Moral? Sicherlich nicht per Ordre Mufti, aber schon mit einem gerechten, demokratischen Ordnungssystem, mit Eingriffen in die Gier von Menschen in Betrieben und Konzernen. Die Erklärungsversuche des Psychologen sind (beinahe) hierbei freilich ebenso vage wie bei Stammtischen.
Aber der Autor bringt ja (zum Glück) seine eigenen Befindlichkeiten ein: „Mein persönlicher Bezug zum Thema Geld und Gier“. Die Schilderungen des heute 74jährigen Tilmann Moser klingen für den knapp ein halbes Jahrzehnt älteren Rezensenten als nur allzu bekannt, und manches Aha-Erlebnis über Entbehrungen und Verführungen in den Zeiten des Mangels und des Überflusses tut sich dabei auf.
Es ist ja immer auch „die tägliche Schlagzeile über Betrug“, die Zeitgenossen aufmerksam macht auf Tricks und raffiniert eingefädelte Manöver, Menschen ihr Geld aus den Taschen zu ziehen, mit Taschenspielertricks, bei denen scheinbar seriöse Firmen, Banken und Staaten das oftmals naive Vertrauen der Menschen missbrauchen. Die „Universalität des Betrugs“ führt ja schließlich zu der Entwicklung, die, lokal und global dazu führt, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden.
Die Psychoanalyse spricht, bei der Frage nach den Ursachen und Wirkungen von „sozialen Erkrankungen“ von „Sozialpathologie“ (vgl. dazu z. B. auch die Arbeit des französischen Psychiaters und Psychoanalytikers Christophe Dejours, Psychopathologie der Arbeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13188.php). Es ist insbesondere die Anonymisierung von ökonomischen Vorgängen, im Alltag wie in den Finanzgeschäften, die zu einem Verlust von Empathie geführt und Werte wie „Gewissen“ und Vertrauen“ zu eher vernachlässigbaren Nebensächlichkeiten reduziert hat. Vertrauen aber, als urmenschliches Bedürfnis und Voraussetzung für Kommunikation, ist auch bei ökonomischen Zusammenhängen unverzichtbar (siehe dazu auch: Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12878.php).
Den flächendeckenden Betrug, der sich überall breit macht, im privaten Alltagsleben wie in geschäftlichen, behördlichen und politischen Lebensbedingungen und Umgangsformen, bezeichnet der Autor als „neue Volkskrankheit“. Wohin man schaut und bei welchen Gelegenheiten auch immer, ob bei Geldgeschäften, im Sport, bei Politikern, beim Einkaufen, ja selbst in den Arztpraxen, in der pharmazeutischen Werbung, auch bei den Religionsgemeinschaften und bei der Abzocke durch Formen von Zeitarbeit und Minimalentlohnungen, (fast) immer wird deutlich: Wir leben in einer vaterlosen Betrugsgesellschaft; was bedeutet, dass Orientierungen, Verantwortungsbewusstsein und soziales und ethisches Verhalten abhanden gekommen sind. Der Psychoanalytiker spricht dabei von den „Auswirkungen des falschen Selbst“.
Die Verwahrlosung der Moral (siehe dazu auch: Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11429.php) zeigt sich auch im Umgang mit unserer Nahrung, durch Manipulationen in der Werbung, der Macht der Lebensmittelindustrie und der Ohnmacht der Politik, der Verbraucherberatung und der Justiz. Psychoanalytisch-kriminologisch spricht der Autor von der „breit gestreuten Korrumpierung des sozialen Überichs“. Bei der Frage – „Wo wurzelt die Gier?“ – werden zwar eine Reihe von Tatorten benannt, von der Börse bis zur Schnäppchenjagd und die gierigen Begehrlichkeiten von Individuen und Institutionen aufgezählt; doch die Ohnmacht von Kritikern an den Un-Zuständen der kapitalistischen und neoliberalen Entwicklungen zeigt sich auch hier.
Fazit
„Geld, Gier & ‚Genoven‘ (nein: Betrug)“ – die Titelung des Versuchs des Psychoanalytikers Tilmann Moser, psychologische und psychoanalytische Erkenntnisse über die kollektiven, ökonomischen Prozesse in unserem Jahrzehnt zu vermitteln, kann nur als teilweise gelungen betrachtet werden. Da ist zum einen die allzu ungeordnete Benennung von real existierenden, gesellschaftlichen Zuständen zu kritisieren; zum anderen die schlagwortartige Skizzierung der tatsächlichen, lokalen und globalen Wirklichkeiten, die ohne Zweifel einer stärkeren Reflexion und Analyse der „Volkskrankheiten Gier und Betrug“ erforderten.
Zwar tritt der Autor mit dem Anspruch an, die komplexen, negativen Entwicklungen im gesellschaftlichen und konsumtiven Leben der Menschen aus der Sicht eines Psychoanalytikers zu betrachten und die „persönliche Betroffenheit“ in diesem (Ohnmachts-)Prozess als Marker zu benutzen; doch es bleibt beim Rezensenten ein Gefühl des Unbefriedigtseins beim essayistischen Versuch, überzeugendere Reaktionen als die Stammtischparole: „Die Welt ist schlecht!“ zu lesen.
Die „Heuschrecken“ auf dem Titelblatt des Taschenbuchs signalisieren deshalb eher Ohnmächte als Strategien. So mag die Anstrengung eines Psychoanalytikers, danach zu forschen, Wie (und warum? Mit welchen Mitteln?) unser Vertrauen missbraucht wird, ein Mosaiksteinchen für den Aufbau eines überzeugenderen (Welt-)Bildes sein, dass eine andere, bessere Welt möglich und notwendig ist, soll die Menschheit human überleben (vgl. dazu auch: Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php sowie: Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität des Menschseins im Diskurs der Disziplinen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php). Ein (zu) s(S)chnell(er) Schuss? Der Versuch Tilmann Mosers, psychoanalytische Aspekte in den Widerstands-Diskurs gegen „den ganz normalen Wahnsinn“ einzubringen (vgl. dazu auch: Theresia Volk, Unternehmen Wahnsinn. Überleben in einer verrückten Arbeitswelt, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11726.php), kann, trotz der Kritik, als durchaus anerkennenswertes Bemühen gewertet werden, zum Nachdenken und zum Widerstehen anzuregen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.03.2012 zu:
Tilmann Moser: Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird – Betrachtungen eines Psychoanalytikers. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2012.
ISBN 978-3-86099-888-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13080.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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