Klaus Hurrelmann, Tanjev Schultz (Hrsg.): Jungen als Bildungsverlierer
Rezensiert von Lorena Rautenberg, 06.09.2012
Klaus Hurrelmann, Tanjev Schultz (Hrsg.): Jungen als Bildungsverlierer. Brauchen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen?
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
150 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2750-1.
D: 14,95 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Pädagogische Streitschriften.
Thema
Während die Bildungsbilanzen von Mädchen und jungen Frauen seit Jahrzehnten steigende Tendenzen aufweisen, blieben die Leistungen von Jungen und jungen Männern weitgehend auf dem gleichen Niveau. Die Hintergründe für dieses Phänomen sind noch nicht geklärt und so wird darüber diskutiert, ob die Ursache für diese Beobachtung darin liegen könnte, dass in der frühkindlichen Erziehung sowohl im institutionalisierten wie auch im familiären Rahmen bis zu 90% Frauen beteiligt und nur wenige männliche Rollenvorbilder zu finden sind. Wenn dem so wäre, könnte es eine Lösung sein, eine Männerquote für pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen einzuführen. Über die Vor- und Nachteile einer solchen Männerquote wird in dieser Streitschrift diskutiert. Dabei geht es um den reinen Austausch von Argumenten, ohne den Anspruch zu erheben, einen Lösungsweg herauszuarbeiten.
Aufbau
Das Buch gliedert sind in fünf Hauptabschnitte, von denen jeweils das erste und zweite Kapitel sowie das dritte und vierte Kapitel eine Einheit von Pro- bzw. Kontraargumenten für eine Männerquote aus unterschiedlichen Blickwinkeln bilden. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit Irritationen und offenen Fragen.
- Kapitel 1: Pro Männerquote – aus pädagogischer und soziologischer Perspektive. Katja Irle: Die Quote ist ein Gewinn für Jungen und Mädchen.
- Kapitel 2: Kontra Männerquote – aus pädagogischer und soziologischer Perspektive.
- Kapitel 3: Pro Männerquote – aus psychologischer und therapeutischer Perspektive.
- Kapitel 4: Kontra Männerquote – aus psychologischer und therapeutischer Perspektive.
- Kapitel 5: Irritationen und offene Fragen.
Inhalt
1 Pro Männerquote – aus pädagogischer und soziologischer Perspektive.
Katja Irle: Die Quote ist ein Gewinn für Jungen und Mädchen. Irle zufolge würde eine Männerquote sowohl für Jungen als auch für Mädchen dazu beitragen, dass die Persönlichkeiten beider Geschlechter gestärkt, Rollenklischees überwunden und die Basis für eine chancengerechtere Gesellschaft gelegt würden.
Ulf Preuss-Lausitz: Der hilflose Umgang mit Jungen in Schule und Pädagogik. Der Beitrag skizziert zunächst den Diskurswandel im Schulwesen von den 1970er Jahren bis heute, betrachtet danach die genderspezifische Sozialisation von Jungen und Mädchen heute und diskutiert abschließend, ob eine jungenfreundlichere Schule ohne einen entsprechenden Anteil männlicher Pädagogen erreicht werden kann. Preuss-Lausitz beantwortet die Frage, ob eine Quote dazu ausreichend ist, in diesem Artikel ganz eindeutig mit nein. Er fordert, dass die politische Einführung der Männerquote von weiteren Maßnahmen aus dem jungenpädagogischen Bereich begleitet werden müsse, um erfolgreich greifen zu können.
Klaus Hurrelmann: Pädagogische Arbeit braucht gemischte Fachkollegien. Zunächst beschäftigt sich Hurrelmann mit der Frage, wie die Stagnation der Bildungsverläufe von Jungen zu erklären ist. Daraus entwickelt er mögliche Interventionen für eine gezielte Förderung, die ihren Abschluss in der Forderung finden, Schulkollegien und Teams von Vorschuleinrichtungen gemischgeschlechtlich zu besetzen, um dem Förderauftrag in vollem Umfang gerecht werden zu können. Aus diesem Grund hält der Autor eine Männerquote für unverzichtbar.
Christoph Fantini: Pädagogik der Vielfalt? In männerlosen Grundschulen ein Lippenbekenntnis. Ausgehend von einem beispielhaft angeführten Anteil männlicher Grundschullehrer von etwa zwölf Prozent in Bremen beschäftigt sich dieser Beitrag mit den Folgen dieses Männermangels an Schulen. Kinder, die in den prägenden ersten Entwicklungsjahren bis zum Ende der Grundschule überwiegend oder gar ausschließlich von Frauen betreut werden, erhalten unterschwellig die Botschaft, dass Männer sich nicht um dieses Alter kümmern. Für Mädchen heißt das zugleich aber, dass sie ein weibliches Rollenvorbild vorgelebt bekommen und ihre Bedürfnisse gut aufgehoben sehen, während Jungen nur erfahren, was Männer offensichtlich nicht tun und keine Ansprechpartner für jungenspezifische Problematiken finden. Daher fordert Fantini vehement die verpflichtende Einführung einer Männerquote an allen Grundschulen, die durch weitere Maßnahmen wie etwa niedrigschwelligere Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung und attraktivere Perspektiven begleitet werden müsste.
Jeanne Rubner: Wer für die Frauenquote ist, muss auch die Männerquote befürworten. In ihrem Beitrag stellt Rubner dar, dass berufliche Biografien weder bei Männern noch bei Frauen ausschließlich von der Qualifikation und Begabung eines Bewerbers abhängen, sondern durchaus mit dem Geschlecht zusammenhängen. Da diese Faktoren immer subjektiv sind und nicht durch bessere Qualifikation ausgeglichen werden können, fordert sie analog zur Frauenquote eine Männerquote, die diese Subjektivität zumindest abfedern würde. Der Beitrag diskutiert außerdem die Schwierigkeiten auf dem Weg zur Verwirklichung der Männerquote.
Michael Cremers, Jens Krabel: Männer-Quoten in Care-Bereichen. Die Autoren befürworten trotz einer kritischen Haltung gegenüber den Behauptungen, dass Jungen einer Bildungsbenachteiligung ausgesetzt sind und diese vom Mangel an männlichen Fachkräften in Bildungsinstitutionen verursacht wird, die Einführung einer Männerquote. In ihrem Beitrag weisen Cremers und Krabel darauf hin, dass die Forderung nach einer Männerquote für den gesamten Care-Bereich nicht losgelöst von den Vorgaben unserer modernen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft und den damit verbundenen Einkommensverteilungen betrachtet werden darf. So entsteht für die Autoren eine Verknüpfung der geforderten Frauenquote in Spitzenpositionen mit der geforderten Männerquote im Care-Bereich. Die Erfolge der Frauenquote zeigen, dass analog auch eine Männerquote erfolgversprechend ist. Im Kitaalltag ist es bisher so, dass zwar männliche Mitarbeiter sehr erwünscht, aber schwer zu finden sind, was außerdem noch mit der sozialräumlichen Lage von Einrichtungen korreliert. Daher wäre eine flexible Männerquote – ausgehend von den unterschiedlichen Ausgangslagen – eine geeignete Maßnahme.
2 Kontra Männerquote – aus pädagogischer und soziologischer Perspektive.
Robert Baar, Thomas Fuhr, Ruth Michalek, Gudrun Schönknecht: Genderkompetenz statt Quote. Die Autoren stellen die kritische Frage, ob es wirklich auf die Feminisierung der Elementar- und Primarbereiche zurückzuführen ist, dass Jungen in der Schule mittlerweile als benachteiligt gelten und setzt dem Studien entgegen, die den empirischen Beweis offen lassen, ob es einen Zusammenhang gibt. Den Autoren zufolge setzte diese Tendenz auch bereits ein, als die Bildungsinstitutionen noch von männlichen Fachkräften dominiert wurden. Auch stellen sie in diesem Beitrag in Frage, ob die reine Zuordnung zu männlich – weiblich ausreichend Erklärungen liefern kann und hinterfragen, ob nicht durch die Fokussierung auf Jungen als Bildungsverlierer sogar eine Ungerechtigkeit entstehe. Jungen erlernten ihr männliches Rollenverhalten nicht durch das Beobachten von Vorbildern in der Schule, sondern durch das aktive Handeln als Junge oder Mann. Es stellt sich also die Frage, wie Jungen Männlichkeit lernen können und ob sie dazu wirklich Männer als Vorbilder benötigen bzw. sich nicht viel eher untereinander männliches Verhalten beibringen. Weiterhin geht dieser Beitrag der Frage nach, welche männlichen Rollenmodelle für den Bildungsbereich gesucht werden und weisen darauf hin, dass nicht stereotype Rollenmuster reproduziert werden dürfen, sondern dass moderne Formen von Männlichkeit vorgelebt werden müssten. In einem weiteren Schritt analysiert der Beitrag, welche Bedeutung das Geschlecht für Grundschullehrer hat. Es wird belegt, dass Grundschullehrer einer Dramatisierung ihrer Geschlechtszugehörigkeit sowohl von außen als auch von innen ausgesetzt sind, was Auswirkungen auf die Professionalität der Männer habe. Die Autoren befürchten, dass diese Tendenz durch die Einführung einer Männerquote noch weiter verstärkt würde. Bestärkt wird die Ablehnung einer Männerquote durch eine Studie, in der Schülerinnen und Schüler überwiegend geschlechtsneutrale Qualitäten als Kriterium für eine gute Lehrkraft äußern, was zu dem Fazit führt, dass Professionalität und Vielfalt die ausschlaggebenden Kriterien sein sollten und nicht die Geschlechtszugehörigkeit.
Heike Diefenbach: Gegen den kollektivistischen Aktionismus! Die Autorin tritt in ihrem Beitrag für die Interessen von Jungen ein, spricht sich jedoch klar gegen eine Männerquote aus. Sie sieht die Einführung einer Männerquote als blinden Aktionismus an und betrachtet die Einführung einer Quotenregelung zudem als Missachtung von Idividualrechten. Die Lösung der Bildungsbenachteiligung von Jungen kann Diefenbach zu Folge daher nicht in der Quotenregelung liegen.
Hannelore Faulstich-Wieland: Quoten sind Machtinstrumente – Erziehung aber braucht Professionalität. Die Autorin zieht in der Beantwortung der Frage: Wozu braucht man Quoten? die Parallelen zur Frauenquote und weist sie als politische Steuerungsinstrument aus. Bei der Frage, wozu Männer in Kitas und Grundschulen gebraucht werden, unterscheidet sie zwei Hauptantworten: als männliches Rollenvorbild und als Beitrag zur Heterogenität in der Bildungslandschaft. Die Autorin weist im letzten Teil ihres Beitrags nach, weshalb eine Quotenregelung jedoch ein ungeeignetes Instrument darstellt, um Jungen in ihrem Bildungsprozess zu stärken und Männlichkeit in Kitas und Schulen zu bringen.
Uwe Ihlau: Eine Männerquote behindert Qualifizierungsprozesse. Ihlau vertritt die These, dass eine Männerquote als Antwort auf die Bildungsbenachteiligung von Jungen eine zu vereinfachende Lösung für ein komplexes Phänomen darstelle. Der Autor stellt im Vergleich zur Frauenquote, die dafür sorgen sollte, dass Frauen bei gleicher Qualifikation auch gleiche Chancen auf beruflichen Aufstieg haben, fest, dass Männer im Bildungsbereich bereits ohnehin bevorzugt eingestellt würden und hält entgegen, dass eine isolierte Betrachtung des Geschlechts zu kurz greife. Auch könne man Männer in Bildungsberufen nie betrachten ohne auch ihre Einflussnahme auf die Mädchen zu hinterfragen. Ausschlaggebend für das Handeln von Fachkräften sei deren Selbstreflexion, nicht die Geschlechterzugehörigkeit, so dass sich vielmehr die Frage stelle, was Fachkräfte berücksichtigen sollten, wenn sie mit Kindern des eigenen bzw. anderen Geschlechts arbeiten und was zur Qualifizierung in dieser Hinsicht nötig sei. Der Autor sieht als Hintergrund der männlichen Minderheit in pädagogischen Berufen weniger die Verdienstmöglichkeiten als Ursache als vielmehr das Verharren in traditionellen Geschlechterrollenbildern, denen eine Quote nicht entgegenwirken kann.
Reinhard Winter: Qualität statt Quote! Der Autor vertritt die Ansicht, dass Geschlechterzugehörigkeit allein kein pädagogisches Qualifizierungsmerkmal darstellt und dass das vorleben von traditioneller Rollenteilung – der männliche Erzieher ist für die handwerklichen und sportlichen Bereiche verantwortlich, die weibliche Erzieherin für die kreativen und versorgenden Bereiche – nicht zur Entwicklung eines modernen Verständnisses von Männlichkeit beiträgt. Daher fordert er die fachliche Qualifizierung und Sensibilisierung pädagogischer Fachkräfte im Bezug auf Rollenbilder im professionellen Zusammenhang unabhängig von deren Geschlecht. Zwar ist es auch für Winter wünschenswert, einen höheren Männeranteil in pädagogischen Berufen zu finden, jedoch nicht durch eine Quotenregelung.
Elisabeth Tuider, Mart Busche: Queer und/oder Quote. Dieser Beitrag fordert zum kritischen Überdenken der Forderung einer Männerquote unter dem Aspekt auf, dass Gleichstellungsforderungen nicht auf ein Geschlecht beschränkt sein können, sondern konsequenterweise auch auf Gleichstellungsforderungen von anderen Minderheiten übertragen werden müsste.
3 Pro Männerquote – aus psychologischer und therapeutischer Perspektive.
Frank Dammasch: Ohne Männer können Jungs sich nicht gut ent-wickeln. Dammasch beschreibt, dass jahrhundertelang sozialisierte Rollenbilder von Männlichkeit ihre Gültigkeit verloren haben, junge Männer aber oft Schwierigkeiten haben, diese Bilder zu modernisieren. Er führt dies u.a. darauf zurück, dass Mädchen sich im frühkindlichen, durch weibliche Dominanz geprägten Bildungsbereich an modernen weiblichen Rollenvorbildern orientieren können und sich mit ihren Wünschen, Bedürfnissen und Gefühlen gut aufgehoben fühlen, während Jungen diese Möglichkeiten durch den Mangel an männlichen Fachkräften verschlossen bleibt. In der männlichen Identitätsentwicklung kommt dem Vater – und männlichen Bezugspersonen – eine besondere Bedeutung zu. Aus diesem Grund spricht sich der Autor klar für eine Männerquote aus.
Hans Hopf: Mich beunruhigen die unruhigen Jungen. Der Diagnose ADHS setzt der Autor entgegen, dass hormonell bedingt Jungen schon im Mutterleib ein höheres Bewegungsbedürfnis haben als Mädchen und die Diagnose oft erfolgt, weil das Bewegungsbedürfnis von Jungen dem Wunschbild unserer heutigen Gesellschaft entgegensteht. Kinder werden ursprünglich von der Mutterbeziehung geprägt; während Mädchen durch die Gleichgeschlechtlichkeit eine längere Bindung erleben, werden Jungen meist schon im Kleinkindalter von der Mutter distanzierter wahrgenommen. Daher erfolgt die Umorientierung von der Mutter als primäres Identifizierungsobjekt auf den Vater. Fehlt jedoch eine Vaterfigur, können wesentliche psychologische Entwicklungsschritte nicht oder nur unvollständig erfolgen.
4 Kontra Männerquote – aus psychologischer und therapeutischer Perspektive.
Josef Christian Aigner: Sag mir, wo die Männer sind – Quoten bringen sie geschwind? Aus der Analyse der Fragwürdigkeit der Quoten-Frauen leitet der Autor über zur Frage nach Quoten in Kitas und Schulen. Er lehnt eine Quote ab und argumentiert mit dem fachlichen Qualitätsanspruch von Pädagoginnen und Pädagogen entgegen, der gleichermaßen für beide Geschlechter gilt. In einem weiteren Teil entwickelt der Autor Perspektiven, wie ein höherer Männeranteil gewonnen werden könnte. Für ihn geht es darum, günstige Bedingungen zu schaffen, die dafür sorgen, dass eine Berufswahl in pädagogischen Bereichen erstrebenswert scheint und so gut ausgebildete Männer in Kita und Grundschule arbeiten wollen.
Gisela Steins: Für wen und für was soll eine Männerquote gut sein? Auf Grund einer geschlechtsspezifischen Identitätsentwicklung sind Jungen und Mädchen von Anfang an unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen ausgesetzt. Dazu gehört oft auch, dass Jungen schlechter auf die Schule vorbereitet sind als Mädchen, was eine mögliche Erklärung für den schlechteren Bildungsverlauf sein mag. Als Lösungen werden häufig Monoedukation oder eine Männerquote vorgeschlagen. Die Unterrepräsentation von Männern in Bildungsberufen lässt sich nach Steins mit dem traditionell geringen Prestige und der schlechteren Bezahlung erklären, so dass eine Quotenregelung nicht erfolgreich greifen würde, solange das Berufsfeld nicht so attraktiv ist, dass Männer sich dafür interessieren.
Tim Rohrmann: Wo keine Männer sind, da hilft auch keine Quote. Grundsätzlich wird in diesem Beitrag die Position vertreten, dass mehr Männer in pädagogischen Berufen arbeiten sollten; die diskutierte Frage ist, ob eine Quote ein passendes Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen. Den Überlegungen voran seht die Beleuchtung der Frage, ob Jungen Männer brauchen, um erfolgreich am Bildungssystem teilhaben zu können. Da die Anzahl der Männer, die eine Ausbildung in einem pädagogischen Bereich beginnt sehr gering ist, wäre die Forderung nach einer Quote wenig erfolgversprechend. Statt dessen wäre es nach Ansicht des Autors besser, Jungen bereits in der Phase der Berufsorientierung anzusprechen und für Berufe im pädagogischen Bereich zu interessieren. Dazu gehöre für ihn auch, die Zugangsbedingungen für diesen Berufszweig zu überdenken.
Holger Brandes: Jungen wie Mädchen profitieren von männlichen Fachkräften – aber kaum von einer Quote. Im Vordergrund muss die Frage stehen, was die Bedürfnisse der Kinder sind und welche Vorteile sie aus dem Umgang mit Erwachsenen beider Geschlechter ziehen. Allerdings ist es schwierig, über den Einfluss des Geschlechts von Bezugspersonen eine verlässliche Aussage in Bezug auf die Entwicklung von Kindern zu machen. Die Frühpädagogik galt lange unstrittig als Frauensache, mittlerweile hat sich das Rollenbild von Vätern und Männern in der modernen Gesellschaft jedoch dahingehend gewandelt, dass Männer in der Rolle als fürsorglicher Vater und begleitender Pädagoge denkbar und sogar gewünscht sind. Es hat sich gezeigt, dass Männer und Frauen gleichermaßen fähig sind, auf die Bedürfnisse von (kleinen) Kindern einzugehen, dass Mütter und Väter dies jedoch auf unterschiedliche Weise tun. Auch wenn eine professionelle Ausbildung gleiches fachliches Handeln beider Geschlechter zum Ziel hat, liegt die Vermutung nahe, dass auch in professionellen Kontexten Männer und Frauen andere Handlungspräferenzen haben. Für eine ausgewogene Begleitung von Kindern ist es daher wünschenswert, einen höheren Anteil männlicher Fachkräfte zu gewinnen. Dass eine Quote hier Abhilfe schaffen könnte, wird jedoch angezweifelt.
5 Irritationen und offene Fragen.
Christian Oswald: Erzieher – ein Frauenberuf? Dieser Beitrag skizziert die historischen Bedingungen, die dazu beigetragen haben, institutionalisierte Erziehung als ein von Frauen dominiertes Berufsfeld zu etablieren. Kinder und Eltern hat es schon immer gegeben, die Kindheit als eigene Lebensphase mit besonderen Bedürfnissen zu erkennen ist jedoch ein relativ modernes Phänomen. Das traditionelle Familienbild der weist eine geschlechtsspezifische und arbeitsteilige Rollendifferenzierung aus, in dem der Mann für materielle Sicherheit und Orientierung sorgt, während die Frau für den Haushalt und die Versorgung der Kinder zuständig ist. Daraus ergibt sich eine Zuordnung der kindlichen Betreuung und Förderung durch die Mutter und somit auch die Zuordnung sozialer Arbeit zu den Leitwerten des klassischen Frauenbildes. Friedrich Fröbel manifestierte diese Zuordnung für den professionellen Bereich. Moderne Ergebnisse aus der Bindungsforschung belegen längst, dass es keine biologisch angelegten Begabungen von Männern oder Frauen in der Bindungsgestaltung zu Kindern gibt, sondern nur unterschiedliche Zugänge. So gesehen ist Erzieher keinesfalls ein Frauenberuf und die Frage, weshalb Männer in diesem Bereich unterrepräsentiert bleiben, bleibt weiter offen.
Walter Hollstein: Das vergessene Geschlecht. Die einseitige Frauenförderung und ihre Folgen. Die seit etwa 40 Jahren politisch vorangetriebene systematische Förderung von Frauen und Mädchen hat Wirkung gezeigt und schlägt sich mittlerweile zunehmend auch im Berufsleben nieder. Parallel dazu entwickelte sich im Feminismus eine Haltung, die von einer Entwertung und negativen Stigmatisierung des Männlichen geprägt ist und die Männer zu Sündenböcken für alle Missstände in relevanten gesellschaftlichen Bereichen stilisiert. Männer werden nicht länger als Ansprechpartner verstanden; diese Haltung überträgt sich auch auf die Kinder und löst bei den heranwachsenden Jungen Probleme in der Entwicklung aus. Nicht selten halten Jungen und Männer deshalb an den traditionellen Bildern fest, da es keine positiv besetzten modernen Haltungen gibt. Die Aufgabe ist also zunächst, genau diese zu entwickeln und die Haltung gegenüber Männlichkeit neu zu definieren.
Philipp Hein, Vera Neugebauer und Bill Schneider: Die Debatte über eine Männerquote – wie sehen wir Jüngeren das? Philipp Hein befürwortet in seinem Beitrag die Einführung einer Männerquote, will sie aber als Anreiz – gefördert durch zusätzliche finanzielle Mittel für die Einrichtungen, welche die Quote erfüllen – verstanden wissen, nicht als Instrument, das bei Nicht-erfüllen Sanktionen nach sich zieht. Bill Schneider hingegen lehnt eine Männerquote ab. Er stellt zum einen die Frage, wo gut qualifizierte Männer in pädagogischen Berufen herkommen könnten, wenn sie in Ausbildung und Studium nicht auftauchen. Zum anderen fragt er nach dem Vorteil für die Schüler, wenn sie bestimmte Inhalte von Männern anstatt von Frauen vermittelt bekommen. Er fordert, die Rollenbilder zu hinterfragen und das Berufsbild attraktiver zu gestalten anstatt durch eine Quotenregelung für Zwanghaftigkeit zu sorgen. Vera Neugebauer sieht die Einführung einer Quote ebenfalls kritisch. Für sie wäre es zielführender, wenn die Attraktivität von Erzieher- und Lehrerberufen gesteigert und zugleich eine Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung hin zu mehr sozialer Anerkennung befördert würde.
Diskussion
Das Buch bietet einen ausführlichen Einblick in die aktuelle Debatte um Jungen als Bildungsverlierer und der möglichen Gegensteuerung durch die Einführung einer Männerquote in Kitas und Schulen. Die Streitschrift skizziert die wesentlichen in der Fachwelt diskutierten Positionen zu diesem Thema und bildet die aktuelle Situation ab: es herrscht Uneinigkeit darüber, ob eine Männerquote das Mittel der Wahl ist und die Bildungschancen von Jungen verbessern wird.
Fazit
Die Streitschrift fasst die wesentlichen Aspekte gelungen zusammen und bündelt die Meinungen von Fachleuten. Indem es beide Seiten ohne weitere Bewertung zu Wort kommen lässt, ermöglicht es die eigenen fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema und die Entwicklung einer eigenen Positionierung. Da bei der Auswahl der Beiträge auf gute Lesbarkeit geachtet wurde, eignet sich das Buch nicht nur für pädagogische Fachkräfte zur Information und Auseinandersetzung, sondern kann auch Interessierten aus anderen Bereichen ein Bild über den aktuellen Stand der fachlichen Diskussion vermitteln.
Rezension von
Lorena Rautenberg
Amtsleitung Amt für städtische Kindertageseinrichtungen
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Es gibt 33 Rezensionen von Lorena Rautenberg.
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Zitiervorschlag
Lorena Rautenberg. Rezension vom 06.09.2012 zu:
Klaus Hurrelmann, Tanjev Schultz (Hrsg.): Jungen als Bildungsverlierer. Brauchen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen? Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
ISBN 978-3-7799-2750-1.
Reihe: Pädagogische Streitschriften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13090.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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