David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.05.2012
David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Campus Verlag (Frankfurt) 2012. 328 Seiten. ISBN 978-3-593-38974-5. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,90 sFr.
Wenn unser Gehirn sich verändert, verändern wir uns mit ihm
Das Gehirn, als Zentralnervensystem unseres Körpers, ist seit Menschengedenken Forschungs- und Spekulationsobjekt. Die Erkenntnis, dass das Gehirn des Menschen aus zwei Hälften besteht, die jeweils unterschiedliche Funktionen ausüben, erkannten bereits die antiken Denker. Aristoteles etwa gliederte das enkephalos, in ein „kaltes“ und ein „warmes“ Gehirn, das die Aufgabe hat, „die kochende Wärme des Herzens auszugleichen und ein ideales Temperaturverhältnis herzustellen“ (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 185).Nach den moderneren Vorstellungen befindet sich im Großhirn das Zentrum unserer Wahrnehmungen, unseres Bewusstseins, Denkens, Fühlens und Handelns (http://de.wikipedia.org/wiki/Gehirn). Es sind insbesondere die neurophysiologischen und -wissenschaftlichen Forschungen, die in der öffentlichen Meinung euphorische, euphemische, empathische wie enragierte und eskapatische Auffassungen der Bedeutung der (Spiegel-)Neuronen für das Denken und Verhalten der Menschen hervorrufen (vgl. dazu auch: Ulrich Herrmann, Hrsg., Neurodidaktik, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8376.php). Der Aufbau des menschlichen Gehirns aus mehreren Hundert Milliarden Zellen verursacht beim naiven wie beim wissenschaftlichen Betrachter eher Staunen denn Wissen; und in der neurowissenschaftlichen Forschung wird immer deutlicher, dass ein Mehr-Wissen über das, was Denken, Fühlen, Erfahren und Erleben beim Menschen ausmacht, nur als gemeinsame Anstrengung der Wissensdisziplinen, der Biologie, Medizin, Psychologie, Philosophie, Sprachwissenschaften, Mathematik, Physik…, möglich ist. Die sich daraus ergebenden Forschungsergebnisse füllen mittlerweile ganze Bibliotheken; und die Befürworter wie Kritiker zum Erkenntnisstand über das menschliche Gehirn tappen vielfach weiterhin im Dunkeln, bzw. haben sich mit ihren Konzepten mehr oder weniger eingeigelt (vgl. dazu auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, München 2011 www.socialnet.de/rezensionen/12903.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Es wirkt irritierend oder gar verstörend und bedrohlich, wenn unser Bewusstein vom selbständigen Denken und Tun mit Behauptungen korrigiert wird, wie: „Gehirne haben sich darauf spezialisiert, Informationen zu sammeln und das Verhalten entsprechend zu steuern. Dabei ist es egal, ob das Bewusstsein an der Entscheidungsfindung beteiligt ist oder nicht“. Was passiert da mit uns ohne unser intellektuelles Zutun? Sind wir den evolutionsgeschichtlichen Entwicklungen, die unser Gehirn zu diesem geheimnisvollen Megasystem gemacht hat, machtlos ausgeliefert? Steuert uns unser Gehirn? Solche Fragen bieten Medien reißerische Schlagzeilen. Und, wenn wir nicht das einsetzen, was uns Menschen zu den vernunftbegabten Lebewesen macht, geraten wir unversehens in Fatalismen oder Euphorismen.
Der 1971 geborene US-amerikanischer Neurowissenschaftler David M. Eagleman lehrt und forscht am Baylor College of Medicine in Houston. Er ist bereits mit mehreren Publikationen u. a. über das menschliche Wahrnehmungsvermögen hervorgetreten. Die Europäische Zentralbank ist auf seine Forschungen über fälschungssicherere Eurobanknoten aufmerksam geworden und konnte ihn als Berater gewinnen. 2011 hat er sein Buch „Incognito. The Secret Lives of the Brain“ veröffentlicht, das nunmehr in deutscher Sprache vorliegt.
Darin unternimmt der den Versuch zu argumentieren, dass bei diesen ungeheuren Ungewissheiten und Unverständlichkeiten – und bei den allzu wenigen Gewissheiten, wie unser Gehirn funktioniert – nicht das große Malheur ausbrechen, nicht Fatalismus oder Verzweiflung einstellen muss, sondern Neugier und Wissensanstrengungen Entdeckungen sichtbar werden können, „die wunderbarer sind als alles, was wir uns haben träumen lassen“, auch, dass „unser neues Verständnis des menschlichen Verhaltens ( ) sich direkt in eine bessere Gesellschaftspolitik übersetzen (lässt)“.
Aufbau und Inhalt
„Kaum etwas von dem, was sich in unserem Geist abspielt, können wir bewusst kontrollieren“; schon wieder so ein Satz, der einem (ver)zweifeln lassen kann. Denn: Ist der Mensch nicht die Krone der Schöpfung? Ist er nicht der Herr über alles, was sich auf Erden bewegt, gedacht und getan wird? Im ersten Kapitel „Der Fremde in meinem Kopf“ zieht der Autor Parallelen vom unbegrenzten Weltall, dem Entstehen und Vergehen von Himmelskörpern zum Firmament des Gehirns. Und genau so, wie das Winzlein Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, kann das Bewusstsein nicht Selbstauslöser unseres Denkens sein; sondern: Es sind Fragen, wie das komplizierte Netzwerk in unserem Kopf evolutionsgesteuert tätig ist.
Wie unsere Sinne funktionieren und wie Sinnestäuschungen unsere Erfahrungen bestimmen, das sind oftmals erstaunliche Entdeckungen und Aha-Erlebnisse, gelingt es erst einmal, unseren Blick zu „richten“, wird deutlich, dass wir mit unserem Gehirn sehen – und unsere Augen lediglich die Vollzugsorgane dieser Gerichtetheit sind, das nicht linear, also etwa von A nach B, sondern in verschiedenen Bahnen verläuft, rückgekoppelt. querverweisend und vorwärtsorientiert. Diese Erkenntnis lässt sich in vielfältigen Querverbindungen aufweisen; etwa in der systemischen Pädagogik (Birgit Jäpelt / Henriette Schildberg, Hrsg., Wi(e)der die Erfahrung. Zum Stand der Kunst systemischer Pädagogik, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12764.php), bei der Frage, wie auch unsere Wahrnehmung von Zeit (siehe dazu auch: Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12020.php ).
Die faszinierenden Unterschiede zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis nutzen wir bei vielfachen Anwendungen, etwa in der Werbung, im Konsum; und nicht selten ist es das so genannte „Bauchgefühl“, das über die scheinbar richtige Auswahl der Mittel oder Entscheidungen entscheidet. Wie flexibel wir dabei vorgehen, wie gezielt oder automatisch, also gewohnheitsgemäß wir uns dabei verhalten, entscheidet unser Gehirn.
Im Sinne der Jacob von Uexküllschen Unterscheidung in „Umwelt“ als den Teil, den wir wahrnehmen und als „Umgebung“ das, was wirklich ist, wird die Frage nach den „denkbaren Gedanken“ zu einer philosophischen Herausforderung; etwa, wenn synästhetische Erfahrungen auftreten, oder auch, in welcher (unbewussten) Weise menschliche Bindungen zustande kommen und halten oder zerbrechen.
Denn das ist eine aufregende und merkwürdige Entdeckung: Auch das Gehirn lebt von Konflikten, weil „das Gehirn ein Apparat mit widerstreitenden Teilen“ ist. Obwohl wir den technischen Begriff „Apparat“ zögerlich aufnehmen und eher dagegen protestieren möchten – denn der Mensch ist doch keine Maschine! – zeigen doch die zahlreichen Experimente von Neurowissenschaftlern, über die der Autor berichtet, dass unser Gehirn aus einem „Team von Gegenspielern“ besteht: „“Das Gehirn sucht nach Mustern im Chaos und will sinnlose Daten in eine Ordnung bringen“.
Wir sind auf dem Minenfeld von Bewusstsein und Zwang, die durch unser Gehirn gesteuert werden. Experimente zeigen nämlich, dass das Gehirn Entscheidungen treffen kann, bevor ein Mensch das Bedürfnis dafür spürt, sie auch auszuführen, eine Beobachtung, die enorme Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von Willensfreiheit hat, bis hin zu den Fragen nach Schuld und Unschuld und unseren Rechtsauffassungen. Und es geht um die Frage, die der Autor in seinem Buch immer wieder in unterschiedlicher Weise thematisiert: Können wir einen Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten feststellen? Eine eindeutige, alle Imponderabilien berücksichtigende Antwort gibt es nicht; lediglich eine Hoffnung, oder die Verwirklichung eines Traums, dass „eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende, mit dem Gehirn kompatible Gesellschaftspolitik statt einer Politik (möglich wird), die mit veränderten Kriterien hantiert und von erwiesenermaßen falschen Annahmen ausgeht.
Der „Sturz aus unserer eigenen Mitte“, der dadurch zustande kommt, „dass wir kaum bewussten Zugang zu dem Apparat unter unserer Haube haben“, es klar ist, dass wir nicht immer Meister unseres Bewusstsein sein können, „dass unser Sehen nur bedingt mit dem zu tun hat, was wir vor Augen haben…“, macht uns nicht zu willenlosen Wesen und auch nicht zu Sklaven unseres Gehirns. Trotzdem bleibt die für manche Menschen durchaus bange Frage: „Was bleibt denn dann überhaupt noch vom Menschen übrig?“. Viel, sagt David Eagleman: „Der Sturz vom Thron hat uns den Blick geweitet, und was wir an Egozentrismus verloren haben, das haben wir an Überraschungen und Staunen dazugewonnen“. Auch die durch die neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse neue „Kartierung unserer Innenwelt“ können uns helfen, ein überzeugendes Sinnes- und Tugendverständnis zu erwerben. Das Bild von den „Gegenspielern“ im Gehirn ermöglicht nämlich auch die Frage: „Wer bin ich?“; und die Antwort darauf ist nicht: „Ein Apparat“, sondern die geheimnisvolle Erfahrung, dass „unser Gehirn ( ) ein verwirrendes Meisterwerk (ist)“; und, ob uns das gefällt oder nicht, ob es in unser „Weltbild“ passt oder nicht, „besteht unser Gehirn aus gewaltigen., komplexen und sich dauernd verändernden Kombinationen von Untereinheiten, die sich zum größten Teil unserem Zugriff entziehen“.
Fazit
David Eagleman stellt mit dem Buch „Inkognito: Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns“ das Faszinosum dieses Apparates in unserem Kopf vor, indem er unser scheinbar gefestigtes, überkommenes Wissen vom „Ich“ und der Allmacht des Ego immer wieder in Frage stellt. Er lässt uns Anteil haben an den vielzähligen neurowissenschaftlichen Experimenten, und er erzählt die komplizierten, neuronalen, physikalischen und biologischen Zusammenhänge in einer Sprache, die auch für weniger firme ExpertInnen verständlich ist und die Komplexität nachvollziehen lässt, die das menschliche Gehirn aufweist. Die Desillusionierungen von (lieb gewonnenen und nicht hinterfragten) „Gewissheiten“ brauchen freilich nicht zu Fatalismus und Verzweiflung führen, sondern eher zu dem Triumph: Als Mensch „( ) sind (sie) das regste und hellste Wesen auf diesem Planeten“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 08.05.2012 zu:
David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Campus Verlag
(Frankfurt) 2012.
ISBN 978-3-593-38974-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13120.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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