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Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.05.2012

Cover Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch ISBN 978-3-88680-924-0

Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. Siedler Verlag (München) 2011. 367 Seiten. ISBN 978-3-88680-924-0. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 42,90 sFr.

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Bewusstsein ist nicht nur Wachsein

„cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“), so drückte der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 – 1650) das Wissen über sich selbst aus, wobei er auswies, dass der Mensch sich seiner Gedanken unmittelbar bewusst sei, während er die Dinge, die von der Außenwelt auf ihn einwirken, nur unmittelbar aufnehme (vgl. dazu: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 96). Es zeigt sich also bereits in dieser frühen philosophischen Zuordnung, dass unser Bewusstsein Bestandteil unseres Geistes und damit unseres individuellen Daseins ist. „Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert“

Entstehungshintergrund und Autor

Die existentielle Frage „Wer bin ich?“, die jeder Mensch sich stellt und stellen muss, ist ja für die eigene wie die kollektive Identität die Grundlage für das Menschsein und die Menschlichkeit. Es ist eine philosophische und alltägliche Frage; und die Antworten darauf stellen sich als Selbstverständlichkeiten wie Überraschungen und Entdeckungen dar. Wie aber entsteht unser Bewusstsein? Auch auf diese Frage gibt es philosophische Antworten wie Vermutungen. Eine der Antworten lautet: Aus unserem bewussten Geist. Was aber unser Geist ist, lässt sich wiederum nicht messen und schon gar nicht anschauen; denn unseren Geist spüren wir nur selbst von unserem Innern heraus. Die Vermutung, dass unser Geist in unserem Gehirn entsteht, ruft – neben den Philosophen – diejenigen auf den Plan, die unser Gehirn als ein Organ kennen: Die Neurologen und Psychologen.

Der portugiesische Neurowissenschaftler von der University of Southern California, Fellow bei zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen, u. a. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, António R. Damásio, setzt sich in seinem Buch „Selbst ist der Mensch“ mit zwei spannenden Fragen auseinander: „Wie baut das Gehirn einen Geist auf?“ und „Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?“. Damasios Forschungen zum Bewusstsein gehen auf Konfrontation zu der bisherigen, durch Descartes überkommenen Postulate, dass es eine Trennung zwischen Körper und Geist gebe; er geht vielmehr davon aus, dass ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Körper und Geist bestehe und sich die Eigenschaften ständig gegenseitig beeinflussten (vgl. dazu u. a. die in deutscher Sprache vorliegenden Bücher von Antonio Damasio: Descartes“ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, 1994 und: Ich fühle, also bin ich – Die Entschlüsselung des Bewusstseins, 2000).

Aufbau und Inhalt

Der Autor gliedert das Buch in vier Kapitel.

Im ersten Teil führt er mit dem Titel „Neuanfang“ in die Thematik und das Frage-Interesse ein, indem er die historischen und aktuellen Auffassungen und Forschungen über das Bewusstsein darstellt, die Wege und Irrwege aufzeigt und seine Position vom Selbst als einen Prozess einbringt: „Das Selbst-als-Wissender beruht auf dem Selbst-als-Objekt“. Die neurobiologische Forschung macht deutlich, dass der bewusste Geist sich dadurch zeigt, dass er sich direkt und bei jedem Individuum einzigartig bildet, zum anderen durch die Beobachtung der Verhaltensweisen und Handlungen anderer Menschen, und schließlich durch Kenntnisse über Gehirnfunktionen, wie sie die Gehirnforschung liefert. Mit der originären Forschungsleistung, dass es einer vierten Sichtweise bedürfe, um Geist und Selbst zusammen zu bringen, sucht der Autor danach, wie es gelingen kann, durch den neurobiologischen und evolutionsgeschichtlichen Blick eine Momentaufnahme eines menschlichen Gehirns zu erhalten. Damasio benutzt dafür den Begriff „Gerüst“, um deutlich zu machen, dass die theoretischen Annahmen mehr sind als Hypothesen, nämlich „Verbindungen zwischen Verhalten, Geist und den Vorgängen im Gehirn her(zu)stellen“. Weil der Körper das Fundament des bewussten Geistes ist, und zwar nicht als Additivum, sondern in unauflöslicher Verbindung, kommt den Gefühlen, als „unmittelbare Ausdrucksform der Empfindungsfähigkeit“, eine herausragende Bedeutung zu: Der bewusste Geist entsteht also als dynamischer Prozess aus der Geschichte der Lebenssteuerung. Und entwicklungsgeschichtlich betrachtet sind die Zusammenhänge zwischen Homöostase, Werten und Bewusstsein Transmitter für den Aufbau des bewussten menschlichen Geist.

Im zweiten Kapitel kommt die spannende Frage zur Geltung: „Was im Gehirn könnte der Geist sein?“. Es sind die kartierten Muster im Gehirn, die reale Objekte und Vorstellungen abbilden: „Das auffälligste Ergebnis der unaufhörlichen, dynamischen Kartierungstätigkeit des Gehirns ist der Geist“. Nach den bisherigen neurologischen Kenntnissen sind es die Regionen der Großhirnrinde, die Bilder erzeugen, die wir als unseren Geist betrachten. Neuere Forschungen allerdings lassen dies zweifelhaft erscheinen und machen deutlich, dass die ersten Ausdrucksformen des Geistes im Hirnstamm entstehen. Welche Bedeutung hat das für den Erkenntnisprozess? Es ist die Komplexität, die einer festumrissenen Kartierung des Gehirns widerspricht und die Einschätzung, „dass das Gehirn dieses scheinbare Durcheinander braucht, um etwas so Reichhaltiges, Bruchloses und Anpassungsfähiges wie die geistigen Zustände zu erzeugen“. Es ist schließlich die „Körper-Gerichtetheit des Gehirns“, die das Nachdenken über das Leib-Seele-Sein auf eine Theorie des Bewusstseins zu bringen vermag: „Die Repräsentation der Welt, die sich außerhalb des Körpers befindet, (kann) nur über den Körper ins Gehirn gelangen“. Damit kommt der Umwelt im Zusammenhang mit der Bewusstseinsforschung eine völlig neue Bedeutung zu. Die Kartierung des Geistes im Gehirn geht mit der Kartierung des Körpers mit seinem Außen einher. In diesem Prozess des Verbindens, Agierens und Kombinierens ist die Frage wichtig, wie sich Emotionen und Gefühle dazu verhalten. Während sich „Emotionen …(als) komplexe, größtenteils automatisch ablaufende, von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen“ darstellen, definiert der Autor „Gefühle… (als) zusammengesetzte Wahrnehmungen dessen, was in unserem Körper und unserem Geist abläuft, wenn wir Emotionen haben“. Weil eine Emotion aber den Körper verändert, ist die Nachschau darüber, wie dies im Gehirn abläuft, eine wichtige Forschungsfrage; nicht nur deshalb, weil Emotionen (von außen) gesteuert, gerichtet und sogar ge-oder missbraucht, also manipuliert werden können, sondern auch und vor allem, weil das Gefühl von Emotionen am Aufbau des Selbst beteiligt und unverzichtbar ist, etwa bei der Frage, wie Empathie sich äußert (vgl. als Exkurs: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php). Unverzichtbar in dieser Auseinandersetzung ist auch die Frage nach den Phänomenen und Wirkungen des Gedächtnisses und dem Wesen von Gedächtnisaufzeichnungen. Der Autor diskutiert diesen Zusammenhang am neuronalen Muster der Konvergenz-Divergenz-Zonen die Möglichkeiten, wie man bestimmte komplexe Verhaltensweisen und geistige Vorgänge im Menschen erklären kann (siehe dazu auch: Christian Gudehus, Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php).

Im dritten Kapitel „Bewusst sein“ beginnt der Autor mit einer Definition: „Bewusstsein ist ein Geisteszustand, in dem man Kenntnis von der eigenen Existenz und der Existenz einer Umgebung hat“. Bewusstsein ist demnach mehr als Wachsein, als Aufmerksamkeit und Aktivität; denn es handelt sich um einen wandelbaren Prozess, der differiert in ein „Kernbewusstsein“ als Gespür für das persönliche Hier und Jetzt, wie auch um ein „erweitertes oder autobiographisches Bewusstsein“, das die Identität und das zukünftige Personsein einschließt. In diesem Denkprozess kommt eine weitere Variante hinzu, nämlich die Frage, wie ein bewusster Geist aufgebaut wird. Dazu bedient sich de Autor zweier Hypothesen: Zum einen die, „dass das Gehirn ein Bewusstsein konstruiert, indem es innerhalb eines wachen Geistes einen Selbst-Prozess erzeugt; zum anderen, „dass das Selbst stufenweise aufgebaut ist“. Der Zusammenbau der Argumentationsketten und der Forschungs- und Praxisbeispiele ergibt eine „Neurologie des Bewusstseins“, die mit der Methode der Kartierung aufgeschlüsselt werden in „Karten einer bestimmten Sinneswahrnehmung, die von dem jeweiligen Sinnesorgan erzeugt wurden…, zweitens Karten der Aktivität im sensorischen Portal, in dem das Sinnesorgan im Körper eingebettet ist, und drittens Karten der emotional-gefühlsmäßigen Reaktionen…“.

Im vierten und letzten Kapitel geht es um „Bewusstsein und seine Folgen“. Menschliche, bewusste Verhaltensweisen sind Merkmale für das Menschsein und die individuellen und kollektiven Identitäten. Der anthrôpos, der mit eigenem Willen und Vernunft ausgestattete Mensch ist, nach Aristoteles, gleichzeitig ein zôon politikon, ein vernunftbegabtes politisches und gesellschaftliches Lebewesen, das fähig ist, ein eu zên, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben zu führen (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005). Dass dabei das Bewusstsein Dreh- und Angelpunkt ist, bedarf keiner Erklärung. Die Frage jedoch, wie der Mensch sein Bewusstsein kennt, es einsetzt und nicht zuletzt kontrolliert, ist in der sich immer interdependenter, entgrenzender, unsicherer (und manche sagen auch unpersönlicher ) gestaltenden (Einen?) Welt eine eminent bedeutsame Frage. Denn nur ein bewusstes Denken und Handeln kann bewirken, was als globale Ethik in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 eingeschrieben ist, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Dabei ist es wichtig zu erkennen, wie sich Bewusstes und Unbewusstes im menschlichen Denken und Verhalten, individuell und kollektiv, zeigt und verändert werden kann.

Fazit

Die Forscher sind dem Geheimnis des menschlichen Bewusstseins weiterhin auf der Spur. „Das Geheimnis des Bewusstseins“, sagt Antonio Damasio, „ist nach wie vor ein Geheimnis, auch wenn wir ein wenig weiter vorgedrungen sind“. Der Autor liefert mit seiner Arbeit über Körper, Geist und Entstehung des menschlichen Bewusstseins einen wichtigen Baustein für ein Bewusstsein des Selbst. Der bewusste Geist wächst aus der Geschichte der Lebenssteuerung, was bedeutet, dass das Individuum in der Lage ist, Bewusstsein als dynamischen Prozess wahrzunehmen und zu verstehen. Im beigefügten Anhang skizziert der Autor, auch für Laien verständlich, Aufbau und Funktionsweise des Gehirns. Die vom Autor anfangs gestellte Frage, welchen Sinn es gebe, sich Gedanken über die Entstehung und Wirkungsweisen des Bewusstseins zu machen, ist beantwortet: Es ist die Fähigkeit des Menschen zu denken, zu verstehen und sich zu ändern, denn, das dürfte eine der interessantesten Erkenntnisse sein, die der Neurowissenschaftler Antonio Damasio formuliert, „das Bewusstsein erwächst … nicht aus einer bestimmten Stelle im Gehirn, sondern es entsteht gleichzeitig als Produkt dieser vielen Regionen“.

Das Sachbuch ist ohne Zweifel nicht nur bedeutsam für professionelle „Geistesarbeiter“ und für Studierende der Geisteswissenschaften, sondern kann als Perpetuum mobile für dich und mich, im Alltag, in der Schule, im Beruf und in der Freizeit Denk-Beweger sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1707 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245