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Paul Collier: Der hungrige Planet

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.04.2012

Cover Paul Collier: Der hungrige Planet ISBN 978-3-88680-941-7

Paul Collier: Der hungrige Planet. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern. Siedler Verlag (München) 2011. 269 Seiten. ISBN 978-3-88680-941-7. D: 22,99 EUR, A: 23,70 EUR, CH: 38,90 sFr.

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Die Spannung zwischen Wohlstand und Plünderung

Während die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 mit dem Brundtland-Bericht die Weisung hin einem globalen Perspektivenwechsel mit der Herausforderung hin zu einer ökologisch tragfähigen und nachhaltigen Entwicklung erteilte, die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro mit der Agenda 21 die „globale Partnerschaft“ ausrief, stellt sich die Weltsituation weiterhin defizitär dar. Das New Yorker Worldwatch Institute titelt 2011 den Bericht zur Lage der Welt als „Hunger im Überfluss“ und stellt fest, dass es heute in der Welt soviel hungernde Menschen wie nie zuvor gibt (Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11455.php). Und die weltweite ökumenische Vereinigung ACT-Alliance fordert in ihrem Positionspapier, das sie der vom 20. bis 22. Juni 2012 geplanten Konferenz Rio+20 vorlegt, endlich den globalen Paradigmenwechsel durchzuführen, einen glaubwürdigen Weg nach vorne zu weisen, so dass eine nachhaltige Entwicklung unterstützt wird, die ein Leben in Würde für alle auf der Grundlage der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, des Naturschutzes und der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen garantiert.

Entstehungshintergrund und Autor

Die Nord-Süd-Kommission, eine Gruppe von internationalen und unabhängigen Experten, hat 1980 in einer Bestandsaufnahme die gemeinsame Verantwortung der Menschen aus den Industrie- und Entwicklungsländern hervorgehoben (Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer), und die Süd-Kommission, hat 1990 unter der Leitung des damaligen Präsidenten des afrikanischen Staates Tansania, Julius K. Nyerere, festgestellt, dass „die Länder des Südens ihr Schicksal selbst bestimmen, am der Entwicklung der Menschheit vollen Anteil nehmen und an der Bewahrung des gemeinsamen Erbes – des Planeten Erde – mitwirken können“ (Stiftung Entwicklung und Frieden, SEF, Hrsg., Die Herausforderung des Südens. Über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung. Der Bericht der Südkommission, Bonn 1991).

Eine intakte Natur, die weder als urwüchsige Landschaft, noch als Ausbeutungsort betrachtet werden kann, sondern als notwendiger Lebensraum für die Menschen verstanden und mit dem Bewusstsein gelebt werden muss, dass der Mensch zur Erde und nicht die Erde dem Menschen gehört (vgl. dazu z. B.: MAB, Der Mensch und die Biosphäre, Bonn 1990), ermöglicht es der Menschheit, zu überleben. Diese Erkenntnis ist verloren gegangen; und die Folgen des Raubbaus der Menschen an der Natur bedrohen die Menschheit, durch ein unkontrolliertes Wachstumsdenken und dem Streben nach „Immer-mehr“, durch die Schädigungen des Klimas, durch ungerechte lokale und globale wirtschaftliche Entwicklung, letztlich also durch die Zerstörung des eigenen Lebensraums. Pessimisten und Optimisten reagieren auf diesen Versuch der selbstverschuldeten „Selbstvernichtung“ in unterschiedlicher Weise: gleichgültig oder fatalistisch, gläubig oder euphorisch.

Der Ökonom von der Universität in Oxford, Paul Collier, hat sich bereits mehrfach zur Situation über Armut, Umwelt und Krisen in der Welt zu Wort gemeldet („Die unterste Milliarde“, 2008, und „Gefährliche Wahl“, 2009). Mit dem Buch „Der hungrige Planet“ bezieht er eine ethische Position zu der Frage, wie es gelingen kann, dass wir Menschen, lokal und global, die ökonomischen und ökologischen Interessen in Einklang bringen können: „Denn nur, wenn wir die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen regulieren und uns technischen Innovationen nicht verschließen, werden die Länder der untersten Milliarde der Armut entkommen und auch in den Industrieländern Wohlstand und Umwelt für kommende Generationen bewahrt“.

Aufbau und Inhalt

Der Autor gliedert seine Analyse in fünf Teile.

Im ersten Teil thematisiert er „Die Ethik der Natur“, indem er das Spannungsfeld von Armut und Ausbeutung diskutiert und das Dilemma darstellt, in dem sich der Mensch als Homo oeconomicus befindet. Dabei geht es nicht darum, wie dies von den Vertretern des so genannten Fortschrittsglaubens polemisch apostrophiert wird, dass die Menschen ja nicht mehr auf die Bäume zurück könnten (und wollten); vielmehr plädiert Collier für eine „Ethik des Bewahrens“, und zwar durchaus in ökonomischem Sinne: Die Natur ist zu wertvoll, um sie auszuplündern!

Im zweiten Teil „Natur als Ressource“ wird diskutiert, was möglicherweise bei der Frage nach dem Wohlstand der Menschen auf der Erde zum Kardinalsproblem wird: Ist Rohstoffreichtum für ein Land ein Segen oder ein Fluch? Die traditionelle volkswirtschaftliche Antwort darauf hat bisher unser ökonomisches Denken und Tun, zumindest in den so genannten Industrieländern gegeben. Der Autor unternimmt nun in seinen Forschungen eine Unterscheidung in agrarische und nichtagrarische Rohstoffe vor. Am Beispiel von Afrika zeigt er etwa auf, dass dabei differenziert werden muss zwischen kurz- und langfristigen Entwicklungen: Während für rohstoffexportierende Länder die globale Nachfrage nach Rohstoffen, etwa nach Öl, Metallen und seltenen Erden, zu wirtschaftlichem Wachstum und Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts führt, zeigt sich bei den längerfristigen Prognosen, dass dieser aktuelle Rohstoffboom jedoch zum Nachteil für die ökonomische und politische Entwicklung der Gesellschaft und sogar zum Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bevölkerung wird. Woran liegt das? Der Autor analysiert mit seinem Forscherteam dazu die jeweilige politische Situation in den Ländern und kommt zu dem Ergebnis: Es bestehen eindeutige positive und negative Relationen zwischen Ressourcenpolitik und -nutzung. Es ist also die Regierungsführung des jeweiligen Landes, die längerfristig dafür sorgen kann, ob es zu einem „Ressourcenfluch“ (als Schlüssel für schlechte Regierungsführung) bei der Rohstoffausbeutung kommt oder zu einem „Allmende“-Bewusstsein: „Der Ressourcenfluch beschränkt sich ausschließlich auf nichtagrarische Rohstoffe. Agrarische Rohstoffe sind erneuerbar, während nichtagrarische sich erschöpfen“; was bedeutet, dass für Länder, die über natürliche Rohstoffe verfügen eine gute, demokratische Regierungsführung unabdingbar ist, um die Werte der Rohstoffe auch für die gesellschaftliche Entwicklung nutzen zu können. Denn das wäre etwas, was sich die Weltgemeinschaft der Rohstoffbesitzenden und -nutzenden hinter die Ohren schreiben sollte: Suche und Verwertung von natürlichen Rohstoffen sind öffentliche (Allgemein-)Güter (vgl. dazu auch den Diskurs um Gemeingüter: Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7908.php sowie: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Der Autor liefert hier zahlreiche, auffordernde Überlegungen und Beispiele, wie Ressourcenpolitik aussehen könnte und wo die Probleme liegen. Eine positive Lösung des Problems kann für die rohstoffreichen Länder, so Paul Collier, nur darin bestehen, mit einer guten Regierungsführung in öffentliche und private Projekte zu investieren – und Korruption und Plünderung der Bodenschätze als einen wesentlichen Schlüssel gegen den Ressourcenfluch zu erkennen.

Im dritten Teil „Die Natur als Fabrik“ setzt sich der Autor mit der Diskrepanz auseinander, dass die Plünderung von nicht erneuerbaren Rohstoffen mit der von erneuerbaren korrelieren. Am Beispiel der Produktion von Meeresfrüchten, von Wäldern, zeigt er die ethischen Unterschiede auf, „dass ein erneuerbarer Rohstoff jedes Jahr automatisch etwas produziert“, zum Konsum und Verbrauch anreizt, aber auch Schadstoffe ausstößt und den Lebensraum der Menschen gefährdet. Damit begibt sich Collier auf das Feld der Klimaerwärmung (vgl. dazu auch den Bericht des New Yorker World Watch Institute zur Lage der Welt 2009: „Ein Planet vor der Überhitzung“, www.socialnet.de/rezensionen/7730.php). „Die zentrale Frage bei der Erderwärmung ist nicht, wer wen für vergangene Emissionssünden entschädigen sollte. Vielmehr geht es darum, dass sich die Welt so effizient wie möglich – -das heißt so preiswert wie möglich – an eine Zukunft mit niedrigem CO²-Ausstoß anpassen sollte“. Bei seinen interessanten Analysen, Vergleichen und Argumenten für eine nachhaltige „Ethik der CO²-Emissionen“ kommt er zu dem überraschenden Schluss: „Warum CO² wie Hummer ist“ – und zur Aufforderung, eine „Ethik des Bewahrens“ in unserem ökonomischem und ökologischem Denken und Handeln einzuführen.

Im vierten Teil „Die missverstandene Natur“ argumentiert der Autor dafür, mit der politischen Frage „Wer regiert die Welt?“ (Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen und beherrscht werden, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12186.ph ), den Zusammenhang von nachhaltiger Entwicklung und Global Governance zu erkennen ( Petra C. Gruber, Hrsg., Nachhaltige Entwicklung und Global Governance. Verantwortung – Macht – Politik, 2008, https://www.socialnet.de/rezensionen/5854.php ) und insbesondere die sozialen Dimensionen der Bedeutung von natürlichen Ressourcen sich bewusst zu machen (siehe dazu auch: Moritz Gekeler, Konsumgut Nachhaltigkeit. Zur Inszenierung neuer Leitmotive in der Produktkommunikation, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12966.php). Dabei zeigt er die Probleme auf, wie sie sich im Zusammenhang von „Natur und Hunger“ darstellen ( siehe auch: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2011: Hunger im Überfluss. Neue Strategien gegen Unterernährung und Armut, 2011 ). Er widerspricht jedoch der romantisierenden Auffassung, dass sich der Skandal, dass fast eine Milliarde Menschen auf der Erde ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können und hungern, dadurch aufheben lasse, dass eine kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion den Bedarf decken könne, wie ebenso ein Verbot von gentechnisch veränderten Lebensmitteln die Lösung des Hungerproblems sein würde; und schon gar nicht die romantische Vorstellung, etwa der USA, die Produkte für den benötigten Brennstoff, vor allem Getreide anzubauen und damit sich von der Abhängigkeit des arabischen Öls zu befreien.

Im fünften Teil „Natürliche Ordnung“ formuliert Collier Lösungsansätze, die es ermöglichen können, den Wohlstand aller Menschen auf der Erde zu sichern (und zu mehren), ohne die Erde auszuplündern. Da ist vor allem das Wichtigste: Aufklärung über ökonomische Grundlagen und ökologische Zielsetzungen. Es muss ein wesentlich größeres Gewicht darauf gelegt werden, dass die Menschen in den Gesellschaften der Erde, der wohlhabenden wie der armen, die Bedeutung der Ressourcennutzung und -bewahrung als politische Herausforderung erkennen und eine transparente, demokratische Regierungsführung einfordern und durchsetzen können. Die Forderung ist nicht utopisch, sondern in Ansätzen realisierbar; etwa durch eine internationale Zusammenarbeit, wie sie sich z. B. durch die „Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft“ (EITI) artikuliert, oder die Natural Resource Charter (www.naturalresourcecharter.org) als Aufklärungsanliegen und mit dem Ziel propagiert wird, eine internationale Konvention gegen Raffgier, Egoismus und Machtmissbrauch zu initiieren. Es ist ein Ansatz, Politik von unten, den Bürgern, nach oben, zu den Regierenden zu verstehen und durchzusetzen.

Fazit

Eine „Ethik des Bewahrens“, wie sie der Ökonom Paul Collier beschreibt und herbeiwünscht, ist keine radikale Kehrtwende in dem Sinne, wie sie mittlerweile von einer Reihe von System- und Kapitalismuskritikern propagiert wird (etwa von Elmar Altvater, John Holloway, Jeremy Rifkin u.a.; siehe Rezensionen in Socialnet, sowie: Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php), sondern eine durchaus realistische Einschätzung darüber, dass die Menschen den „Verlockungen des nationalen Egoismus“ und des neoliberalen, „business as usual“ und dem „throughput growth“, dem „Durchfluss-Wachstum“ (Brundtland-Bericht von 1987) nur dann widerstehen können, wenn der Perspektivenwechsel hin zu einer Ethik der Bewahrung gelingt, lokal und global. Mit zahlreichen historischen und aktuellen Beispielen liefert Paul Collier nicht nur einen theoretischen Diskurs darüber ab, wie wir der Ausplünderung des Planeten entgegenwirken können, sondern eben auch Denk- und Arbeitsanregungen für politisches und gesellschaftliches Handeln, Hier und Heute – für Morgen!

Quergelesen und ergänzend dazu bietet die Analyse von Joseph Nye (Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, München 2011, 384 S., www.socialnet.de/rezensionen/13126.php) politikwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Anregungen zum Slogan: Eine bessere, gerechtere Eine Welt ist möglich!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245