Don Hanlon Johnson: Klassiker der Körperwahrnehmung
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Fischer, 14.01.2013

Don Hanlon Johnson: Klassiker der Körperwahrnehmung. Erfahrungen und Methoden des Embodiment. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2012. 400 Seiten. ISBN 978-3-456-85093-1. 36,95 EUR. CH: 49,90 sFr.
Thema
Die Textsammlung stellt europäische und nordamerikanische Klassiker der (nicht nur therapeutischen) Körperarbeit vor. Kurze biographische Portraits (verfasst von Thea Rytz), Interviews und Ausschnitte aus Originalwerken der Protagonisten machen den Hauptkorpus der Sammlung aus. Ein von der Herausgeberin aktuell zusammengestelltes Literaturverzeichnis verschafft einen guten Zugang auch zur deutschen Diskussion.
Herausgeber und Herausgeberin
Don Hanlon Johnson ist seit drei Jahrzehnten als Professor am California Institute of Integral Studies in San Francisco tätig. Der heute 80jährige hat als gelernter Ingenieur, Ordensgeistlicher (SJ) und akademischer Philosoph (Ph.D. in Yale) früh Bekanntschaft mit der Humanistischen Psychologie und dem Human Potential Movement gemacht. Selbst als prominenter Rolfing-Praktiker tätig, entwickelte er sich am Esalen-Institut, Big Sur, Kalifornien seit den frühen 1970ern zu einer Integrationsfigur für unterschiedliche Körperpraktiken, die sich bis dahin überwiegend in Konzepten, Praxen und auch unternehmerisch als Schulen stark voneinander abgrenzten und um ihre Klienten konkurrierten. Nicht zuletzt durch die Tagungs- und Netzwerkarbeit des Herausgebers entstand eine Bewegung der Körperpraxis mit Zielen im Sinne der Humanistischen Psychologie und einer liberalen Spiritualität, die sich seit den 1980ern den Namen Somatics gab. Johnson hat gut ein halbes Dutzend Bücher und viele Artikel verfasst, die sich in einem ganzheitlichen Zugang mit dem Zusammenhang von Körperpraxen und sozialer wie spiritueller Aktivität befassen. Mit dem vorliegenden Band (Erstausgabe 1995 unter dem Titel: Bone, Breath and Gesture) repräsentiert Johnson einen Großteil der ersten und zweiten Generation von KörperpraktikerInnen und trägt somit zu einem akademischen Archiv der Somatics bei.
Thea Rytz, die 43jährige Schweizer Herausgeberin der übersetzten und erweiterten Ausgabe ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet als Körpertherapeutin in Bern vorwiegend klinisch im Bereich von Essstörungen. Sie hat eigene Publikationen zur Körperpraxis und -therapie vorgelegt.
Entstehungshintergrund
Die im Buch vorgestellten frühen VertreterInnen der Körperarbeit und der Somatics-Bewegung waren in Deutschland, England, Israel und den USA Schulen bildend. Sie bewegen sich konzeptionell in einem Feld, in dem es um menschliche Bewegung, Berührung, Atmen, Haltung, körperbezogene Selbst- und Fremdwahrnehmung geht. Konzeptionell und auch in den praktischen Settings oszillierte man zwischen Gymnastik, Tanz, (Reform-, Theater- und Musik-) Pädagogik, Meditation und Psychotherapie (von der man sich z.T. wegen der dort vorherrschenden Defizitorientierung stark abgrenzte) und steht insgesamt der später so genannten Humanistischen Psychologie nahe. Ihnen allen ist bei großen Unterschieden doch ein ganzheitliches Verständnis von Körper - Geist und Sozialität eigen. Wer allerdings wirklich lernen wollte, wie diese Techniken angewandt werden und wirken, konnte weniger auf Literatur als in erster Linie auf praktische Instruktionen in Workshops und Seminaren zurückgreifen, wo man in „Meister-Schüler-Settings“ ausgebildet und zum Anhänger oder legitimen und auch lizensierten Vertreter wurde. Noch stärker als die ganze Humanistische Psychologie lebten die Körperpraxen von dieser direkten Vermittlungsarbeit und haben sich wenig um akademische Institutionalisierung (Studiengänge, wissenschaftliche Untersuchungen, Dissertationen, Verankerung an Universitäten) gekümmert. Mit zunehmender Festigung von Aus- und Weiterbildungsgängen und kommerziell angebotenen Seminaren, stellte sich nicht zuletzt beim Nachwuchs offenbar ein gewisser Bedarf an wissenschaftlicher Grundierung oder Legitimierung ein. Die Weitergabe der körperbezogenen Techniken an die zweite und heute bereits dritte Generation im Kontext eines generellen Booms von Beratungs- und auch therapierelevanten Psychotechniken macht den Ausweis von Klassikern der Bewegung nützlich und wünschbar. Der vorliegende Band trägt einem solchen Wunsch Rechnung; er präsentiert (und schafft auch in gewisser Weise) in Kurzform anderthalb Dutzend "Klassiker" der neueren Körperpraxis.
Aufbau und Inhalt
Der Erstherausgeber hat in der englischen Ausgabe die Texte der Sammlung gruppiert:
- Sinnliche Wahrnehmung und Erfahren (Elsa Gindler und Heinrich Jacoby (neu in der deutschen Ausgabe), Charlotte Selver, Carola Speads, Marion Rosen und Ilse Middendorf)
- Verstehen der Feinheiten körperlicher Struktur und Funktion (Frederick Matthias Alexander, Moshé Feldenkrais, Ida Rolf, Bonnie Bainbridge Cohen, Ruth Aston)
- Wiedererlangen vielfältiger Bewegungsmöglichkeiten (Irmgard Bartenieff, Mary Whitehouse, Gerda Alexander, Emilie Conrad Da'Oud)
- Ansätze einer Feldtheorie der Körperpraxen (Elizabeth A. Behnke, Thomas Hanna, Deane Juhan.)
Diese Einteilung kommt auf den ersten Blick einem Wunsch nach Zusammenschau nach und ihr soll auch rezensionstechnisch unten gefolgt werden. Sie hat sich aber inhaltlich dem Rezensenten beim Lesen nicht ganz erschlossen, denn die Systematisierung und Kategorisierung der sich vielfach überlappenden, aufeinander z.T. persönlich beziehenden, aber auch in Einzelheiten widersprechenden Ansätze fällt schwer. Offenbar ging es der Herausgeberin der deutschen Ausgabe ähnlich, denn im vorliegenden deutschen Band ist diese Aufteilung in vier Abteilungen (nicht aber die Reihenfolge der Protagonisten) aufgegeben. Thea Rytz hat die einführenden Biographien überarbeitet, fachgeschichtlich stimmig Jacoby neu zu Gindler hinzugenommen und, wo es möglich war, die deutschen Originaltexte, verwendet, statt aus dem Englischen rückzuübersetzen. Dies sind Entscheidungen, die die deutsche Ausgabe m.E. für den aktuellen Leser interessanter machen als das englische Original von 1995.
Nach den einführenden biographischen Notizen werden die einzelnen Klassiker in unterschiedlichen Formaten (Interviews, Gespräche mit den Protagonisten oder ihren Schülern, Erinnerungen, Vortragstexte, Auszüge aus größeren grundlegenden Werken) vorgestellt. Das macht die Lektüre abwechslungsreich und bedient unterschiedliche Vorlieben von Anschaulichkeit oder abstrakt-konzeptioneller Darstellung.
Die erste Gruppe (Gindler, Jacoby, Selver, Speads, Rosen, Middendorf – die Geburtsjahrgänge variieren zwischen 1885 und 1914) wurzelt in der deutschen Jugendbewegung des Wandervogels und der reformpädagogischen Musik- und Bewegungslehre. Die bewegten und bewegenden Lebensläufe – Selver, Speads und Rosen wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft durch den Nationalsozialismus zur Emigration aus Deutschland gezwungen – und die Gesprächsdokumente belegen (noch mehr als die kurzen Originaltexte der VerfasserInnen) ein frühes Ringen um körperbezogene Selbstfindung in Auseinandersetzung mit körperfeindlichen alltäglichen, professionellen und sozialen Umwelten. Es wird sichtbar gemacht, wie in der körperlichen Zentrierung durch Bewegen und Atmen, im sich verdichtenden Kontakt zu sich selbst Persönlichkeiten und Praxen entstanden, die vorhandene menschliche Potentiale zum Vorschein bringen und längerfristig - auch in der Gründung von Aus- und Fortbildungsinstituten – wirksam werden lassen. Die präsentierten KörperpraktikerInnen haben mit ihren wirksamen Konzepten und heilsamen Praxen das Human Potential Movement seit den späten 1960er Jahren in Kalifornien bereits vorweg genommen – und ja auch de Facto mit beeinflusst.
Die zweite Gruppe (Frederick Matthias Alexander, Moshé Feldenkrais, Ida Rolf, Bonnie Bainbridge Cohen, Ruth Aston – mit Geburtsjahr 1869 ist Alexander der Senior, Aston mit Jahrgang 1941 die Jüngste) hat prägnante Techniken auch als anerkannte Therapieverfahren entwickelt. Daraus sind schließlich Marken entstanden, die auch institutionell und kommerziell reüssierten. Alexander, Cohen und Aston bringen Theater und Tanz in die Körperpraxen ein. Während bei Alexander ein kognitiv stark disziplinierter Umgang mit dem Atem und der Inhibition von Störungsreaktionen im Körper kennzeichnend ist, stehen bei Cohen und Aston Tanz und freie Bewegung im Mittelpunkt. Auffällig ist bei dieser Gruppe, vor allem bei Rolf und Cohen der starke Bezug zu medizinisch-physiologischen und anatomischen Diskursen, wobei man sich eher komplementär oder auch als Alternative zu schulmedizinischen Ansätzen verstand. Der Vortragstext von Ida Rolf, deren Konzept der Tiefenmassage von Bindegewebsstrukturen als Rolfing sehr erfolgreich und verbreitet ist, wirkt minimalistisch, fast spröde; die vorgeschaltete Erinnerung von Rosemary Feitis mildert dies etwas ab. Aus ihrer Praxis entwickelte Cohen theoretisch, auch unter Einbezug fernöstlicher Traditionen, das Konzept eines sensomotorischen Regelkreises, in dem Bewegung, Berührung, Perzeption und Handlung zusammengeführt werden. Feldenkrais der noch bei Gindler und Jacoby seit den 1940ern entscheidende Prägungen erhielt, entwickelte seine Schule in Israel; sie ist heute in Europa und weltweit verbreitet.
Die dritte Gruppe (Irmgard Bartenieff, Mary Whitehouse, Gerda Alexander, Emilie Conrad Da„Oud – Geburtsjahrgänge 1900 – 1934) wurde geprägt durch Tanzarbeit, die sie weitgehend in tanz- und bewegungstherapeutische Praxen umsetzte. Alexander wurde mit ihrem Konzept der Eutonie bekannt. Conrad, die seit fünf Jahrzehnten unter ihrer Marke „Continuum“ in USA und auch Europa bewegungstherapeutische Workshops anbietet, zeichnet sich in dieser Gruppe durch eine stark poetisch-spirituelle Arbeit aus, die auch den abgedruckten autobiographischen Text prägt.
Bei der letzten Gruppe (Elizabeth A. Behnke, * 1948; Thomas Hanna, † 1990; Deane Juhan, * 1945) handelt es sich um die am stärksten theoretisch verdichteten Ansätze. Behnke bezieht ihr Matching-Konzept – es formuliert eine mentale und praktische Übereinstimmung des Menschen mit seinen körperlichen Gegebenheiten – auf philosophisch-phänomenologische Traditionen (Edmund Husserl, Erwin W. Strauss, Richard Zaner, Alfred Schütz u.a.) zurück. Hanna umreißt mit "Somatics" das Leibkonzept der Bewegung. Der Neologismus im Englischen – es gibt dort nur „body“ für Körper – greift auf das griechische „soma“ zurück und wird hier im deutschen Text stimmig mit „Leib“ wiedergegeben. Ohne irgendeinen Rückgriff auf die reiche europäische Leib(-Seele) -Diskussion in der Philosophie und der Körpersoziologie entwickelt Hanna das ganzheitliche Konzept einer Leib-Theorie, das mentale Selbstwahrnehmung und biologische Selbstregulation vereinigen will. Juhan geht in dem Buch, aus dem der Textausschnitt stammt, der Frage nach, wie sich funktionierende Körperarbeit als Praxis in ihrer Wirkung erklären lässt und welche Symptome man folglich auch damit behandeln kann. Außer begrifflichen Vorklärungen bleibt der Textausschnitt die Antwort schuldig, man ist aber gespannt auf das ganze Buch (das auch in deutscher Übertragung vorliegt).
Diskussion
Die Textsammlung bietet einen interessanten Querschnitt von Klassikern der Körperpraxen. Da die vertretene mittlere Generation Aus- und Fortbildungseinrichtungen geschaffen hat, die noch aktiv sind, eignet sich das Buch auch als Einstieg und Überblick zu verschiedenen Schulen für fachlich Interessierte Professionelle (Pädagogen, Therapeuten, KörperarbeiterInnen). Das lebensgeschichtliche Ambiente und einige grundlegende Konzepte der Protagonisten werden sehr gut repräsentiert und sind auch von den Textgenres abwechslungsreich dargestellt. Die Originaltexte der Gründerinnen und Gründer sind teilweise weniger ergiebig. Sie fallen einerseits – zwangsläufig – hinter die praktische Ausführung und auch Bedeutung der Ansätze zurück. Andererseits können sie neugierig machen auf die umfangreicheren Originalschriften und leisten somit das, was ein Florilegium leisten kann, nämlich unterhaltsame Ein- und Hinführung zur vertieften Beschäftigung. Soziologisch gesehen hat die massive „Wiederkehr des Körpers“ in öffentlichen Diskursen, Bildern und Praxen bei den im Buch vertretenen Ansätzen eine ganz andere sympathisch ganzheitliche Prägung.
Wer von dem Buch eine stärker philosophische Diskussion um Körperwahrnehmung – etwa in der Tradition von Husserl, Merleau-Ponty oder Waldenfels – oder auch einen Diskurs zu anthropologischen Konzepten in der Nachfolge eines Plessner, zu sozialphilosophischen Thesen des Embodiment – etwa in der Tradition von Zaner – erwartet, wird enttäuscht sein, denn diese Ansätze kommen mit Ausnahme des Behnke-Textes überhaupt nicht vor. Insofern wirkt auf den Rezensenten der Buchtitel "Körperwahrnehmung" etwas fehlleitend; "Klassiker der Körperpraxen" wäre aus dieser Sicht korrekter. Wer von dem Buch eine zusammenfassende wissenschaftliche Diskussion der vorgestellten Körperpraxen und damit auch eine Einordnung in gegenwärtige motologische, physio- und psychotherapeutische oder soziologische Diskurse erwartet, wird enttäuscht werden. Dies kann und wollte die Textsammlung nicht leisten, allerdings könnte sie durchaus ein Anreiz sein, eine solche Analyse in Angriff zu nehmen.
Die neu für deutsche Leser erstellte Literaturliste sei ausdrücklich positiv hervorgehoben; sie macht zumindest deutlich, dass es noch ganz andere Diskussionszusammenhänge gibt, die durch die Textsammlung nicht repräsentiert sind. Die Zusammenstellung der Internetadressen zeigt, wie lebendig die vorgestellten Traditionen aktuell sind und erlaubt Interessenten auch eine einfache Kontaktaufnahme zu den einschlägigen Einrichtungen.
Fazit
Das Buch bietet einen interessanten Einstieg und Überblick zur reichen Tradition von Körperpraxen. Es ist nicht nur für Insider zusammengestellt – obwohl der familiäre Ton, der etwa in der Einleitung von Thea Rytz angeschlagen wird, dies vermuten lassen könnte. Pädagogen, Psychotherapeuten und alle, die in helfenden Berufen arbeiten und sich speziell für Körperarbeit interessieren, werden hier fündig. Wer sich vertieft einzelnen Techniken in Theorie oder Praxis zuwenden will, erhält Orientierung und auch praktische Hinweise zur weiteren Beschäftigung.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Fischer
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