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Werner Tschan: Sexualisierte Gewalt

Rezensiert von Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, 25.07.2012

Cover Werner Tschan: Sexualisierte Gewalt ISBN 978-3-456-85109-9

Werner Tschan: Sexualisierte Gewalt. Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2012. 144 Seiten. ISBN 978-3-456-85109-9. 24,95 EUR. CH: 35,50 sFr.

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Thema

Hilflos müssen wir erkennen, dass sexualisierte Gewalt nicht auszurotten ist. Erschüttert schauen wir auf die Odenwaldschule, auf die Kirchen und (in der Schweiz) auf den vormals hoch geschätzten Pädagogen H.S. All diesen hatte niemand sexualisierte Gewalt zugetraut. Wem soll man noch trauen?

„Niemandem!“ stellt Werner Tschan fest und beschreibt in seinem Buch „Sexualisierte Gewalt“ Gegenmaßnahmen. Tschan ist Facharzt für Psychiatrie in Basel. Er hat verschiedene Beratungszentren und Forschungsinstitute zum Thema aufgebaut. Er ist ein erfahrener Fachmann.

Ratgeber werden benötigt und gern gelesen in Zeiten der Ratlosigkeit, der Fassungslosigkeit. Werner Tschan wundert sich allerdings, dass seine Vorschläge nicht schlagartig umgesetzt werden. Obwohl sie schockieren und schockieren sollen. Erschrecken sei nötig, erklärt er sich, sonst ändere sich nichts.

Aufbau und Inhalt

Schon in der Einleitung richtet er den Blick auf alle, die nicht wahrnehmen wollen. Besonders in den Institutionen: „Institutionen sind Hochrisikobereiche für sexualisierte Gewalt – eine Tatsache, die einfach ignoriert wird.“ (S. 23)

Sehr modern und sogar radikal sein Hinweis, dass das Nicht-Auslebenlassen der Sexualität von Klienten jemanden zum Mittäter macht. (S. 28) Ein paar Seiten später wird er sogar die Sexualassistenz als Förderung anerkennen.

Noch sympathischer sind mir seine Ausführungen zur Sprachgenauigkeit. Ohne Einvernehmlichkeit sollten wir nicht von Sexualität sprechen. Übergriffe sind nicht sexuell. Es geht um Gewalt, sexualisierte Gewalt. (S.31)

Im Kapitel Mythen und Fakten beschreibt er neben vielen Statistiken ein Projekt der Förderung für behinderte Menschen und weist darauf hin, dass der Fall H.S. aufgedeckt wurde, weil zwei Behinderte über ihre negativen Erfahrungen haben reden können und ihnen auch geglaubt wurde. (S.46)

Behinderte sind für Tschan die Schützenswerten, die von ihren Beschützern allein gelassen werden, ganz besonders von den Schweizer Schutzbeauftragten. Denn: „Schweigen ist die stärkste Waffe der Täter. Wir haben eine Kultur …, die die Täter gewähren lässt – und damit auch Mitverantwortliche.“ (S.52)

Selbstverständlich beschreibt der Autor den Fall H.S. in einem ausführlichen Kapitel und schließt in einem weiteren Kapitel die Frage an: Was lehrt uns der Fall H.S.? Wachsamkeit, selbst gegenüber pädagogisch vorbildlich erscheinenden Mitarbeitern. Das vor allem.

Wie Täter so ticken und wie Institutionen sie unterstützen führt er aus im Kapitel Täterstrategien vor dem Hintergrund institutioneller Strukturen. Für seinen Hauptvorschlag, ein Abklärungsprozedere bei Hinweisen auf Fehlverhalten, nutzt er das Kapitel: Reaktionen der Institution.

In den Kapiteln Folgen für die Betroffenen und Strukturelle Verankerung von Prävention wendet sich der Autor in der entsprechenden akademischen Sprache eher an seine Berufkollegen, formuliert dabei aber wichtige Forderungen. Ansonsten schreibt er gut verständlich.

Nach dem Kapitel Wie konnte so etwas 30 Jahre unentdeckt bleiben? fordert er im nächsten Kapitel eine Kultur des Hinschauens, fragt Was soll mit Täter-Fachleuten geschehen? und empfiehlt zum Schluss Nestentschmutzung.

Es folgen die Literaturliste, die Empfehlung von weiterführender Literatur, etwas über den Autor, ein Nachwort, Glossar und ein Personen- und Sachverzeichnis.

Diskussion

Werner Tschan macht es seinen Lesern schwer, sich nicht von ihm bedrängt zu fühlen. Denn zu schnell geraten die Menschen in seiner Umgebung zu Mitgliedern des Täternetzwerkes, das durch Nicht-Wahrnehmen-Wollen die Täter schützt. In seinen dynamischten Textpassa-gen gehört gleich die ganze Schweiz zum Täternetzwerk (S.53). Besonders die „Schweizer Eliten“ machen sich schuldig, indem sie nicht hinsehen. (S.51).

Irgendwie gerät der Schutz Behinderter vor sexualisierter Gewalt zum allerhöchsten Gut des Rechtsstaates, dem alles andere unterzuordnen ist. So fordert Tschan: Täterfachleute müssten in einem öffentlich einsehbaren Register aufgeführt werden, schon bevor ihre Schuld erwiesen ist. Auch die Institution, in der sie gearbeitet haben, muss öffentlich genannt werden. Andererseits ist er so naiv zu glauben, dass jemand beruflich und menschlich rehabilitiert werden könne, der einmal in diesem Register aufgeführt worden ist.

Einerseits schlägt er vor, dass alle Mitarbeiter einer Einrichtung verpflichtet sind, Wahrnehmungen, die auf ein entsprechendes Delikt schließen lassen, zu melden. „Die Nichtbefolgung dieser Vorschrift wird mit denselben Sanktionen geahndet, wie sie für das eigentliche Vergehen vorgesehen sind.“ (S.178) Das erzeugt einen wahnsinnigen Druck in den Teams. Andererseits soll ein Klima von Kontrolle, gegenseitigem Misstrauen und unausgesprochenen Verdächtigungen vermieden werden, weil das für den Betrieb eine Katastrophe wäre.

Einerseits betont er, es gäbe keine aussagekräftigen Täterkennzeichen, andererseits stellt er fest: „Die überwiegende Mehrzahl derjenigen, die sexualisierte Gewaltdelikte verüben, sind ausgewiesene Fachleute.“ (S.90) Es sind nicht absonderliche Finsterlinge, sondern geschätzte Teammitglieder in Institutionen.

Und bei all seinen konsequenten Forderungen bleibt ihm dennoch nichts anderes übrig als zu bekennen, dass auch sein System nicht den sicheren Schutz bieten kann.

Seine Vorschläge werden scheitern, weil keine Institution es sich leisten kann, ein System permanenten Misstrauens in ihr Betriebsklima zu internalisieren – und das ausgerechnet gegen ihre anerkanntesten Pädagogen.

Dabei beschreibt der Autor (leider nur nebenbei) auch, was eine Perspektive sein könnte, die gerade von den potentiellen Opfer selber ausgeht. Waren es doch gerade zwei Behinderte (fortgebildet zu sexueller Kompetenz), denen von Mitarbeitenden (fortgebildet zu sexueller Kompetenz) geglaubt wurde. Sie zusammen haben den Täter H.S. zu Fall gebracht.

Werner Tschan sieht Behinderte zu sehr aus der Mitleidsperspektive (S. 11, S.30, S.31, S. 120…) Auch die potentiellen Opfer haben Macht, wenn sie eingebettet sind in vertrauenserprobte Systeme.

Wir brauchen ein Klima sexueller Kompetenz in den Teams und bei den Behinderten selber. Denn die Opfer kennen die Täter (S.69). Wir brauchen Mitarbeitende, die den behinderten Menschen vertrauen, und Behinderte, die ohne Angst vor Sanktionen den Mitarbeitenden ihre Sorgen erzählen. Nicht nur in den Institutionen. Wir brauchen erfahrene Sexualberaterinnen und Sexualberater in der pädagogischen Nähe der behinderten Menschen. Sexualberatung, die gelassen und konsequent zu Stelle ist, wenn Verdachtsmomente auftauchen. Nicht nur Institutionen sind Hochrisikobereiche. Das Böse ist immer und überall – aber das Gute kann das auch.

Fazit

Eine schmerzvolle Geißel der Sexualität ist die sexualisierte Gewalt. Werner Tschan beschreibt hilfreiche und beängstigende Ideen zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderung. Leider setzt er zu sehr auf Repression und Bürokratie.

Es ist dem Autoren gelungen, eine pointierte Meinung konsequent zu beschreiben. Dafür lohnt es sich, das Buch zu lesen. Den Betroffenen eine Stimme zu geben, das sieht anders aus.

Rezension von
Dipl.-Psych. Lothar Sandfort
Psychologischer Leiter des „Institutes zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ (Trebel), seit 1971 querschnittgelähmt und so seit vielen Jahren als Peer-Counselor in Beratung und Psychotherapie tätig. Unter anderem Supervisor und Coach für Teams in Einrichtungen der Behindertenarbeit von körperlich, geistig bzw. psychisch behinderten Menschen.
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Es gibt 24 Rezensionen von Lothar Sandfort.

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ISSN 2190-9245