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Paul Willis: Spaß am Widerstand

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.04.2013

Cover Paul Willis: Spaß am Widerstand ISBN 978-3-88619-489-6

Paul Willis: Spaß am Widerstand. Learning to Labour. Argument Verlag (Hamburg) 2011. 320 Seiten. ISBN 978-3-88619-489-6. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 30,90 sFr.

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Bildungsgerechtigkeit: Chance oder Zumutung?

Was ist dran an der These, dass Mensch die Kräfte des Zentrums am wenigsten vom Zentrum aus wahr nähme? Oder falsch einschätze und mit ungeeigneten Mitteln dagegen angehe? Als der Philosoph, Theologe und Pädagoge Georg Picht 1964 seine Analyse über „die deutsche Bildungskatastrophe“ veröffentlichte und dabei feststellte, dass das traditionelle Bildungssystem in der Bundesrepublik längst nicht mehr die Aufgaben erfülle, für die es gegründet wurde, da richtete sich sein Blick in erster Linie auf den Bildungsnotstand, der einen wirtschaftlichen (materiellen) Notstand bedinge. Der Deutsche Bildungsrat hat in seinen „Gutachten und Studien der Bildungskommission“ von 1966 an versucht, etwa im Band 4 „Begabung und Lernen“ mit der Frage „Wie ist in der Lernentwicklung des jungen Menschen das Verhältnis von naturgegebener Anlage und menschlicher Einwirkung durch Umwelteinflüsse und veranstaltete Lehr- und Lernvorgänge zu sehen?“. Die Kritik an den schichtenorientierten Lehrplänen, Lernmethoden, Sortierungsmaschinerien und gespaltenen Bildungsstrukturen (Jörg Dräger, Dichter, Denker, Schulversager. Gute Schulen sind machbar – Wege aus der Bildungskrise, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12102.php), haben zwar die Diskussion um den Anspruch nach gerechter Bildung für alle befördert und die Forderungen nach Bildungsgerechtigkeit verstärkt (Dorothea Krüger, Hrsg. Genderkompetenz und Schulwelten. Alte Ungleichheiten – neue Hemmnisse, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11841.php), wie auch Alternativen (Utta Isop / Viktorija Ratkovič, Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11666.php) und gangbare, demokratische Wege aufgezeigt (Marianne Krüger-Potratz / Ursula Neumann / Hans H. Reich, Hrsg., Bei Vielfalt Chancengleichheit. Interkulturelle Pädagogik und Durchgängige Sprachbildung, www.socialnet.de/rezensionen/10508.php; auch wird die Frage, wie das System Schule darauf reagieren solle, diskutiert (Roland Reichenbach, … für die Schule lernen wir. Plädoyer für eine gewöhnliche Institution, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14609.php) – doch es bleibt, trotz einiger bildungspolitischer Korrekturen, die hinweisen auf eine „Schule für alle“, beim Dilemma, dass das dreigliedrige Schulsystem „Elend“ produziert, indem es von unten nach oben sortiert und dabei z. B. Haupt- und SonderschülerInnen auf der Strecke bleiben (Stefan Wellgraf, Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13484.php).

Zwar hat in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft die Frage nach der körperlichen und geistigen Entwicklung immer schon eine Rolle gespielt, doch die didaktische Bedeutung etwa der adoleszenten Entwicklung wird von der Institution Schule nach wie vor nur im Sinne des hierarchischen, traditionellen Denkens auf- und zudem mit ideologischen Scheuklappen wahrgenommen (Susanne Hauser / Franz Schambeck / Juliane Bründl / Peter Bründl / Yecheskiel Cohen, Hrsg., Übergangsraum Adoleszenz. Entwicklung, Dynamik und Behandlungstechnik Jugendlicher und junger Erwachsener, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9762.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Anlässe zum Paradigmenwechsel und Herausforderungen zu Veränderungsprozessen verlaufen selten spontan und kurzzeitig orientiert; vielmehr sind langfristige Forschungsergebnisse Merkposten und Fingerzeige dafür, dass etwas faul ist in der Schule, insbesondere was Bildungsgerechtigkeit betrifft; und zwar als Definitions- und Identitätsproblem. Bildungsbewusstsein als Standesprinzip steht quer zu einem Aufklärungsbewusstsein, dass der Mensch als fehlbares und unvollständiges Lebewesen sich aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit befreien kann. Begriffe und Herausforderungen wie „Arbeiterbildung“, „Solidargemeinschaft“, „soziale Bildung“ verschwinden im Bildungsdiskurs meist in der Tabu-Ecke, oder sie kommen als neoliberale Heilsversprechen daher (Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12103.php). Die konservative Furcht vor einer schulpolitischen Systemdiskussion wird ja nicht selten übertüncht durch Akte des Gesundbetens und der Einmauerung in ideologisches, kapitalistisches Denken. Die prekären gesellschaftlichen und demokratiefeindlichen Tendenzen begünstigen nationalistisch-ausgrenzende Orientierungen (Thomas Lühr, Prekarisierung und ?Rechtspopulismus. Lohnarbeit und Klassensubjektivität in der Krise, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11297.php) und produzieren neue gesellschaftliche Gefährdungen (Steffen Mau, Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13978.php).

Es ist die Entwicklungsphase der Pubertät, die junge Menschen in der Spannweite des „Everything is posential“ und „Häutung“ sich selbst sein und gleichzeitig im Nirgendwo landen lässt (Nina Pauer, Pubertieren in Würde, DIE ZEIT, Nr. 10 vom 28. 2. 2013, S. 65); und es ist die immer wieder funktionierende und gewissermaßen im Schulsystem verankerte Automatik eines durch Herkunft und soziale Privilegierung vorbestimmte Schulkarriere. „Abschulung“ heißt diese Automatik in der Sprache der Schulforschung. Im Schuljahr 2011/12 sind bundesweit mehr als 50.000 Kinder in diesen Abstiegstrudel geraten, wie die Soziologin und Wissenschaftsforscherin Jutta Allmendiger in ihrem Buch „Schulaufgaben“ (Pantheon-Verlag, 2012, 304 S.) ermittelt hat.

Der britische Kultursoziologie und Anthropologe Paul Willis hat 1977 eine Studie vorgelegt, in der er sich mit der Frage auseinandersetzt, „was Arbeiterkinder veranlasst, ihr schulisches Scheitern nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern dieses selbst aktiv durch die Zurückweisung des schulischen Leistungsindividualismus und durch ihr schuloppositionelles Handeln zu bewerkstelligen“. Mit seiner Young-Lad-Studie „„Learning to Labour: how working class kids get working class jobs“ hat er den Diskurs um soziale Gerechtigkeit beeinflusst. Die in den angelsächsischen Ländern entstandene „New Sociology of Education“ übt Kritik an der positivistischen und funktionalistischen Bildungssoziologie, indem sie für die Einbeziehung qualitativer Forschungsmethoden im Sinne des Marxismus und der Kritischen Theorie plädiert. Wenn der an Pädagogischen Hochschule in Freiburg/Br. lehrende und forschende Soziologe Albert Scherr und die Vorsitzende des "Berliner Instituts für kritische Theorie", Frigga Haug, empfehlen, die vor fast 40 Jahren erschienene Studie, die 1979 unter dem irgendwie irritierenden Titel „Spaß am Widerstand – Learning to Labour“ auf Deutsch vorgelegt wurde, auch heute zu beachten, wollen sie damit ja zum Ausdruck bringen, dass sich Schule, Schulpolitik und Bildungsverständnis in der Gesellschaft bisher grundlegend nicht geändert haben und der „Hau-Ruck“ weiterhin ausbleibt.

Aufbau und Inhalt

Paul Willis stellt mit dem Bericht die Forschungsergebnisse vor, die er mit seinem Team vom Centre for Contemporary Cultural Studies der University of Birmingham im Zeitraum von 1972 bis 1975 im Auftrag des britischen Social Science Research Council ermittelt hat. Gruppen von Arbeiterjungen wurden während ihrer letzten beiden Schuljahre und den ersten Monaten im Arbeitsleben mit Fallstudien, Interviews, Gruppendiskussionen und teilnehmenden Beobachtungen beforscht. Herausgekommen ist eine „Ethnographie der Schule“, in der die aus der Herkunft der Arbeiterklasse determinierten Zugkräfte beitragen, dass die (ungehinderte) Reproduktion der Gesellschaft weiterhin vonstatten geht und soziale und gesellschaftliche Veränderungsprozesse wirkungslos bleiben.

Neben der Einleitung, in der Willis die Forschungsmethoden erläutert, die Bedeutung aufzeigt, die Unterrichtsmodelle, Inhalte- Lehr- und Lernmethoden in der Schule (in der Region der „Midlands“) darstellt und die Herkunft der Schüler analysiert, gliedert der Autor seine Studie in zwei Teile.

Der erste Teil wird mit „Ethnographie“ getitelt. Es sind die „lads“, die durch Provokationen, abweichendes und oppositionelles Verhalten gegen Normen und Benimm-Regeln in der Gesellschaft vorgehen, als Clique in der Schule Macht-, Ansehenspositionen erringen und Hierarchien aufbauen. Die sich verdeutlichenden Alltagselemente – zwischen Langeweile, Rumhängen, Gruppenzugehörigkeit und -zwang, Auffallen, Sexismus und Rassismus – werden in Fallbeispielen transkribiert, die institutionellen Muster der Zuordnung zu einer Schulklasse aufgezeigt, die Tendenzen der Abgrenzung und Zuordnung der Lehrkräfte in der Schule werden diskutiert und die Lern- und Leistungsanforderungen der Schule, wie auch die gesellschaftlichen Erwartungen und Einflüsse analysiert: „Für die lads bedeutet Arbeit in der modernen Gesellschaft ( ) nicht Erweiterung, sondern subjektive Eindämmung“, die sie tatsächlich als „Eindümmung“ erleben.

Im zweiten Teil geht es um die „Analyse“ der Fallstudien. Um die vielfältigen Fragen und Widersprüche der Verhaltensweisen der lads aufzuzeigen, wählt der Autor mit den Begriffen „Durchdringung“ (penetration) und „Beschränkung“ (limitation) zwei Forschungsmethoden. Es geht um Fragen, wie die lads werden und wurden, was sie sind und zu meinen zu sein, um Selbstverständnis, Gewohnheit und herkunftsbedingte soziale Erfahrung; und um Denkweisen und Formen, wie sich Denken und Handeln gegen die etablierte Kultur wendet. Es sind Begrenzungen, die sich ideologisch aufdrängen: „Ideologie bestätigt und verrückt – dies sind die beiden für unsere Zwecke wichtigsten der vertikal ‚nach unten‘ verlaufenden Wirkungen von Ideologie auf die Gegenschulkultur“. Im Spiel von nonkonformistischem und oppositionellem Verhalten hat der Reproduktionsanspruch der aufsteigenden Gesellschaftsmitglieder eine entscheidende Bedeutung, wie auch der quer zu etablierten Gesellschaftsnormen verlaufende Widerstand der Absteigenden: „Das Wesen des Kulturellen und der kulturellen Formen in unserer kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, zur kreativen, ungewissen und mit Spannung aufgeladenen gesellschaftlichen Reproduktion der jeweiligen Verhältnisse beizutragen“. Dass unter diesem Druck auch die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, wie die Schule, stehen, ist ein Fait accompli; ob er auch dazu führt, dass sich ein gesellschaftlicher Perspektivenwechsel vollzieht?

Fazit

Warum kann es sein, dass Jugendliche aus der Arbeiterklasse – anscheinend aus eigener Entscheidung – Arbeiterjobs annehmen, wobei der Begriff „Arbeiterjobs“ nicht als Abwertung von „Arbeit“ verstanden werden darf, sondern als, im Sinne der marxistischen Theorie „Arbeit zu vergesellschaften“ (Antonio Gramsci)? Diese Frage stand am Anfang der Studie „Learning to Labour“. Sie richtete sich, vor beinahe 40 Jahren, an Gesellschafts- und Bildungspolitiker, Wissenschaftler und Pädagogen, in England und in Europa; sie stellt sich weiterhin Hier und Heute für uns. Es ist die Erkenntnis, dass Veränderungsprozesse in der Schule nicht alleine dadurch zustande kommen, dass curriculare und organisatorische Formen der Bildungsvermittlung eingeführt werden, dass die theoretischen Lernmethoden durch praktische ergänzt werden, auch nicht, dass „man nur im kulturellen Milieu einen Hebel umlegen müsste, um zum erwünschten Ergebnis zu gelangen“; vielmehr bedarf es eines grundsätzlichen Perspektivenwechsels, den Paul Willis in sechs Prinzipien aufzeigt:

  • Erkenne die kulturelle Ebene in ihrer relativen Einheitlichkeit!
  • Erkenne die möglichen oder unterschwelligen Bedeutungen hinter Einstellungen und Verhaltensweisen!
  • Versuche zu verstehen, welche reproduktiven Funktionen die kulturelle Ebene zu erfüllen vermag!
  • Lerne von den kulturellen Formen und versuche, zwischen ihren Durchdringungen und Beschränkungen zu unterscheiden!
  • Handle so, dass die kulturellen Prozesse aufgedeckt, nicht mystifiziert oder verstärkt werden!
  • Erkenne die strukturellen Grenzen des Kulturellen und organisiere…politisches Handeln!

Wenn Willis 1977 feststellte, „wir befinden uns gegenwärtig in einer Erziehungs-Krise“, gilt diese Erkenntnis bis heute, und in der sich immer interdependenter, entgrenzender und kapitalistischer entwickelnden Welt in besonderem Maße. Es lohnt, die Studie von 1977 heute zu lesen, Ähnlichkeiten und Veränderungen einzubeziehen und in Theorie und Praxis des schulischen Lernens anzuwenden. Die Frage „Junge, warum hast du nichts gelernt?“ im Song der „Ärzte“ ist an uns alle zu stellen, denn unsere Schule ist so, wie wir sie zulassen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.04.2013 zu: Paul Willis: Spaß am Widerstand. Learning to Labour. Argument Verlag (Hamburg) 2011. ISBN 978-3-88619-489-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13174.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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