Christophe Dejours (Hrsg.): Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.04.2012
Christophe Dejours (Hrsg.): Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2012. 176 Seiten. ISBN 978-3-86099-896-0. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR, CH: 25,90 sFr.
Arbeit als Lust und Last des Lebens
Lust an und Entfremdung von der Arbeit sind An- und Aufregungen, die das Nachdenken und die Auseinandersetzung mit den Tätigkeiten von Menschen über Jahrhunderte hinweg immer wieder herausfordern. Im philosophischen Diskurs ist Arbeit ein „Prozesse der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und der Gesellschaft“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeit_Philosophie). Im gesellschaftskritischen Verständnis und in der Kapitalismuskritik ist Arbeit, wenn sie nicht selbstbestimmt abläuft, nicht mehr und nicht weniger als Ausbeutung und Gier von kapitalistischen Mächten (vgl. dazu sowohl: Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10159.php, als auch: Norbert Blüm, Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11382.php). Die physikalische Formel für Arbeit findet man in jedem einschlägigen Schulbuch.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Über die moralische und soziale Bedeutung der Arbeit wird in dem vorgestellten Buch nur am Rande gesprochen, und die arbeitspsychopathologischen Aspekte als Theoriebildungen und Erklärungsversuche werden ebenfalls nicht als Schwerpunkt diskutiert. Es geht vielmehr darum, Klinikern ausgewählte Fallstudien anzubieten, mit denen verdeutlicht wird, dass die Beziehung zur Arbeit und die sich daraus ergebenden Folgen und Wirkungen für die seelische Gesundheit Ursachen haben, die nur dann erkannt und diagnostiziert werden können, wenn der Arzt (oder auch der Gutachter oder Therapeut) ein Mindestmaß an Kenntnissen und Wissen über die Welt der Arbeit besitzt: „Im Hinblick auf die seelische Gesundheit ist die Beziehung zur Arbeit niemals neutral“.
Der Psychiater und Psychoanalytiker der Universität in Paris und Autor von mehreren Büchern zur Psychodynamik der Arbeit, Christophe Dejours, legt als Herausgeber des Sammelbandes und Autor insgesamt sechs Fallstudien vor, aus denen deutlich werden soll, „dass die Trennung zwischen Arbeit und Nichtarbeit unter dem Aspekt des psychischen Funktionierens irrelevant ist“. Es komme für den Kliniker darauf an, „die subjektive Beziehung zur Arbeit selbst dann zu analysieren, wenn … der Patient nicht direkt über seine Arbeit klagt“, also den Tätigkeitsprozess in die ätiologische Diagnose einzubeziehen.
Aufbau und Inhalt
Es sind insgesamt sechs Problemstellungen, die sich aus den Forschungsergebnissen der Psychopathologie der Arbeit ergeben, in sechs Kapiteln und mit sechs Fallbeispielen dargestellt werden. Christophe Dejours reflektiert im ersten Kapitel „Wahn und Arbeit“ das Dilemma, dass sich psychopathologische Erkrankungen, wie etwa burn out, meist in Widersprüchen zeigen und in der Ursachenforschung und Anamnese nicht selten in falscher, für den Patienten oft katastrophaler Weise Schlüsse gezogen werden. Es sind die unterschiedlichen Methoden, wie sie in der Psychodynamik der Arbeit und der Psychopathologie der Arbeit Anwendung finden. Am Fallbeispiel eines Bauarbeiters zeigt Dejours auf, dass die Dekompensation gelingen kann, wenn sowohl der Prozesstyp, der den Erkrankungsverlauf in den Blick nimmt, als auch der, der den Gesundungsprozess in den Vordergrund rückt. Es kommt also darauf an, beide Interpretationen miteinander in Einklang bzw. in Ergänzung zu bringen.
Die Psychiaterin und Autorin Annie Bensaïd schildert in ihrem „Beitrag der Arbeitspsychopathologie zur Untersuchung eines akuten Wahnzustands“ den klinischen Fall eines Bauarbeiters, der zwei verschiedene Typen von Belastungen zeigt: Probleme bei den sozialen Beziehungen und der Arbeitsorganisation, und Belastungen bei den zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familie. Die drastisch geschilderten Abläufe im Arbeitsprozess, die zunehmenden Misserfolge, gepaart mit Gewaltausübung, Vereinsamung und Alkoholkonsum, führten zu einem Arbeitsunfall und einer Therapie, die sich auf arbeitspsychopathologische Deutungsarbeit stützte und mit dem Wechsel des Arbeitsplatzes und der Arbeitsanforderungen zu einer seelischen Stabilisierung führte.
Die Psychiaterin Marie-Pierre Guiho-Bailly und Entspannungstherapeut Patrick Lafond berichten in ihrem Fallbeispiel von einer rätselhaften Störung der kognitiven Funktionen einer 40jährigen Patientin: „Frau Doktor, Alzheimer in meinem Alter, gibt es das?“. Die suizidgefährdete Mutter zweier Kinder findet, nach einer Therapie eine Arbeit, die sie zufrieden stellt; sie benötigt die weitere Therapie nicht mehr, wie sie entscheidet. Einige Zeit später kommt sie erneut in die Praxis und klagt über Gedächtnis- und Kompetenzverlust bei der Handhabung von einfachen Dingen. Sie verdrängt und verschweigt anfangs die Symptome. In der Therapie, die aus Entspannungsübungen und Anamnese besteht, kommen die Therapeuten zu der Erkenntnis, dass die kognitiven und psychomotorischen Störungen nicht der Grund für ihre Probleme am Arbeitsplatz sind, sondern deren Folge; die Therapie hatte Erfolg.
Christophe Dejours stellt im vierten Kapitel ein weiteres Fallbeispiel vor, bei dem er den Zusammenhang von „Zentralität der Arbeit“ und „Theorie der Sexualität“ thematisiert. Die 20jährige Patientin suchte die Therapie, weil sie an Unterleibsschmerzen litt und diese mit ihrer mentalen und gesellschaftlichen Situation in Zusammenhang brachte. Es handelte sich um familiäre Dominanz- und Ablösungsprobleme und berufliche Schwierigkeiten, als Frau in Macho-Situationen zu bestehen. Die Gefahr bestand darin, dass die Patientin den Teufelskreis, der sich durch ihre familiäre und sexuell blockierte Lage abzeichnete, fortsetzte. Weil es aber dem Therapeuten gelingt, „die erotische Entscheidung an den Sublimierungsbesetzungen auszurichten“ (und nicht umgekehrt), stellte sich die Therapie als erfolgreich dar.
Im fünften Kapitel berichtet die Psychologin und Psychoanalytikerin Marie Grenie-Pezé über „Mobbing am Arbeitsplatz als körperlicher Zwang“. Dabei setzt sie sich mit dem im Arbeitsleben zunehmenden Konflikt von „Täter-Opfer“ – Beziehungen auseinander und zeigt am Fallbeispiel einer Frau, die im männlich dominiertem Betrieb Führungs- und Vermittlungsaufgaben bei Konflikten ausübt und daran zu zerbrechen droht.
Das sechste Kapitel übernimmt erneut Christophe Dejours mit seinem Beitrag: „Neue Formen von Verknechtung und Selbsttötung“. Während einerseits Fälle von Selbsttötung am Arbeitsplatz im produzierenden Bereich zunehmen, werden andererseits die Fälle eher tabuisiert und auch nicht im Rahmen einer mit Arbeit verbundenen Psychopathologie behandelt, obwohl in den meisten Fällen eine psychopathologische Dekompensation anzunehmen ist. Die Symptome dieser neuen Form von Anzeichen, dass das „Leiden an der Arbeit“ zunimmt, sind ohne Zweifel vielfältig; die emotionale Einsamkeit in der Menge wohl eine der wesentlichen Ursachen. Mit einem dramatischen Abschiedsbrief, der nach ihrem Tod veröffentlicht werden soll, schildert die Frau, wie sie in dem Unternehmen zuerst erfolgreich und für ihr Selbstbewusstsein und ihre Kompetenzen durchaus zufriedenstellend tätig war, aber nach einem Führungswechsel in der Firma, deren Klima als oberflächliche Geselligkeit ohne Solidarität bezeichnet wird und die der Autor als „strategische Geselligkeit“ und „Verschwörung des Schweigens“ bezeichnet, immer mehr ins Abseits gestellt wird. Mit dem rekonstruierten Fallbeispiel skizziert der Autor eine „Ätiologie der Selbsttötung“, die er exemplarisch für Formen der Leistungskultur in industrialisierten Gesellschaften sieht und als „Gespenst ganz neuer Formen von Verknechtung“ charakterisiert.
Fazit
Arbeit ist eine Lebenssituation wie jede andere auch, verbunden mit Beglückungen, Gewohnheiten und Gefährdungen. Für die Pathologie der Arbeit sind es unangemessene Zumutungen, Irritationen und Störungen, die sich zu Krankheiten auswachsen können und den Therapeuten herausfordern: „Leiden an der Arbeit“ als ein Symptom dafür, dass im individuellen und gesellschaftlichen Leben der Menschen etwas nicht stimmt!
Die klinischen Fallstudien, die von den Autorinnen und Autoren vorgestellt werden, signalisieren demnach ein hässliches Loch im humanen Gerüst einer Gesellschaft; und die Darstellungen, wie sie für das Konzept der Psychopathologie der Arbeit signifikant sind, schreien gewissermaßen nach einer Gesamtschau der existentiellen Lebensumstände der Menschen in der (Einen?) Welt und fordern geradezu heraus, die Problematik der Arbeit interdisziplinär und ganzheitlich zu betrachten.
Die ausgewählte Literatur, die allesamt in Socialnet rezensiert wird, möge dazu beitragen:
- John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, 2002
- Richard Sennet, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 2004
- Jacob A. Goedthart, Über-Leben, 2006
- Karl Georg Zinn, Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel, 2006
- Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007
- Petra C. Gruber, Hrsg., Nachhaltige Entwicklung und Global Governance. Verantwortung – Macht – Politik, 2008
- Jochen Raue, Aggression verstehen. Psychoanalytische Fallstudie von Kindern und Jugendlichen, 2008
- Hans-Geert Metzger, Hg., Psychoanalyse des Vaters. Klinische Erfahrungen mit realen, symbolischen und phantasierten Vätern, 2008
- Michael Sommer / Hans J. Schabedoth, Hrsg., Europa sozial gestalten!, 2008
- Sigrid Scheifele, Hrsg., Migration und Psyche. Aufbrüche und Erschütterungen, 2008
- Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010
- Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“, 2010
- Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010
- Bernhard Rathayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011
- Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, 2011
- Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011
- Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2011. Hunger im Überfluss. Neue Strategien im Kampf gegen Unterernährung und Armut, 2011
- Norbert Blüm, Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier, 2011
- Peter Mortola, Hrsg., Einführung in die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen, 2011
- Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011
- Theresia Volk, Unternehmen Wahnsinn. Überleben in einer verrückten Arbeitswelt, 2011
- Tomá? Sedlá?ek, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 25.04.2012 zu:
Christophe Dejours (Hrsg.): Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2012.
ISBN 978-3-86099-896-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13188.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.