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Georg Kremer, Michael Schulz: Motivierende Gesprächsführung in der Psychiatrie

Rezensiert von Patrick Zobrist, 06.03.2013

Cover Georg Kremer, Michael Schulz: Motivierende Gesprächsführung in der Psychiatrie ISBN 978-3-88414-486-2

Georg Kremer, Michael Schulz: Motivierende Gesprächsführung in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2010. 144 Seiten. ISBN 978-3-88414-486-2. 14,95 EUR. CH: 26,50 sFr.
Reihe: Basiswissen.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-88414-658-3 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

„Motivierende Gesprächsführung ist eine anerkannte, in der Suchthilfe seit langem praktizierte Methode. Mit ihr können Ambivalenzen und Widerstände der Patientinnen und Patienten aufgegriffen und neue, oft realistische Ziele mit ihnen verabredet werden.“ Das Buch „(…) gibt eine grundlegende Einführung in das Konzept und zeigt anhand vieler Praxisbeispiele die Anwendungsmöglichkeiten motivierender Gesprächsführung im akutpsychiatrischen Setting auf.“ (Auszug aus dem Klappentext).

Autoren

Georg Kremer ist psychologischer Psychotherapeut und therapeutischer Leiter der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel im Ev. Krankenhaus Bielefeld. Er ist Mitglied des MI-Trainernetzwerks.

Michael Schulz ist Krankenpfleger und Diplompflegewirt, leitet den Bachelor-Studiengang Psychiatrische Pflege an der FH der Diakonie Bethel und ist in der Pflegeforschung tätig.

Entstehungshintergrund

Das Buch (erschienen in der Reihe „Basiswissen“) verfolgt das Ziel, das in den 1980er-Jahren von Miller und Rollnick entwickelte Konzept der motivierenden Gesprächsführung (motivational interviewing, MI) spezifisch für das akutpsychiatrische Arbeitsfeld und die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen zu konkretisieren, weil dieses – so die Autoren – „(…) in den bisherigen Veröffentlichungen zur Motivierenden Gesprächsführung zu kurz kam.“ (S. 10). Das Buch richtet sich, wie es die Autoren präzisieren, an alle Fachkräfte (nicht nur im Akutbereich), die mit psychisch erkrankten Klienten arbeiten.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in sechs (leider unnummerierte) Hauptkapitel.

Im ersten Kapitel führen die Autoren in das Konzept des MI ein, präsentieren im zweiten Kapitel („Was kann Motivierende Gesprächsführung) einige empirische Befunde zu Wirkung und Wirksamkeit des Ansatzes und referieren im dritten Kapitel („Motivierende Gesprächsführung und Selbstbestimmung“) einige interessante Ausführungen zur Entwicklung des Compliance-Konzepts hin zur aktuell diskutierten „Adherence“.

Das vierte Kapitel („Grundlagen der Motivierenden Gesprächsführung in der Psychiatrie“) führt in die grundlegende Konzeption von Miller und Rollnick ein (Grundhaltungen, Motivation, Phasen der Veränderung, Prinzipien und Strategien des MI, Umgang mit Widerstand, Förderung der Zuversicht).

Das fünfte Kapitel („Praxis der Motivierenden Gesprächsführung in der Psychiatrie“) konzentriert sich auf die Absicht des Buches, nämlich den Ansatz der motivierenden Gesprächsführung für das Arbeitsfeld Akutpsychiatrie zu konkretisieren. Die Autoren beschreiben typische Situationen aus dem ambulanten, teilstationären und stationären Psychiatriebereich und zeigen die Anwendungsmöglichkeiten des MI in diesen Settings auf. Zunächst gehen die Autoren auf Erstkontakte in der Ambulanz und in der stationären Notaufnahme ein, anschließend fokussieren sie auf die Gesprächssituationen, in denen eine Anschlussmöglichkeit gesucht werden muss. Eine typische Herausforderung in psychiatrischen Arbeitsfeldern ist die Diskussion über Vor- und Nachteile einer medikamentösen Behandlung. Hier schlagen die Autoren verschiedene Techniken aus der MI vor. Auch zur Thematik des Einhaltens von Regeln in einer Betreuungseinrichtung, zum Umgang mit Suizidalität und zur sozialen Mehrfachproblematik eines süchtigen Klienten skizzieren die Autoren praktische Beispiele, wie MI angewendet werden kann. Ein kleines Unterkapitel widmet das Buch auch dem Umgang mit persönlichkeitsauffälligen Klienten.

Im abschließenden sechsten Kapitel kommen Mitarbeitende zu Wort, die über ihre (positiven) Erfahrungen bei der Einführung von MI in der Psychiatrie berichten.

Diskussion

Den Autoren gelingt es sehr gut, das Konzept der motivierenden Gesprächsführung für das Arbeitsfeld der Psychiatrie in praxisorientierter und gut verständlicher Art und Weise zu konkretisieren. Dies wird vor allem im fünften Kapitel geleistet. Sie verfolgen hier – im Gegensatz zu eher störungsspezifischen Zugängen (vgl. Arkowitz et al. 2010) – einen breiteren Ansatz, indem sie nicht bestimmte Pathologien vertiefen, sondern typische Situationen im psychiatrischen Alltag vorstellen, bei denen der Ansatz von MI zum Tragen kommen kann. Dabei haben die Autoren verschiedene berufliche Hintergründe in ihre Praxisbeispiele eingeflochten, was sehr positiv ist und deutlich macht, dass der MI-Ansatz unabhängig des beruflichen Hintergrunds (Ärzte, Sozialarbeiter, Pflegefachkräfte, Psychologen etc.) eingesetzt werden kann. Zudem wird die interprofessionelle Kooperation erleichtert, weil beispielsweise identische Vorstellungen über den Umgang mit „Widerstand“ bestehen.

Das zweite Kapitel über die Wirksamkeit des Ansatzes ist aufschlussreich und im Zuge der aktuellen Diskussion um eine evidenzbasierte Praxis notwendig. Etwas schade ist, dass die Autoren die wichtige Meta-Analyse zu MI von Lundahl et al. (2010) nicht berücksichtigt haben. Den Autoren ist hoch anzurechnen, dass sie auf die „magere“ empirische Evidenz von MI im psychiatrischen Bereich hinweisen und im Gegensatz zu anderen Autoren den MI-Ansatz nicht als „Wundermittel“ für alle „schwierigen“ und „unmotivierten“ Klienten anpreisen. Neuartig ist zudem die von den Autoren hergestellte theoretische Verbindung zwischen MI und „Adherence“, was für viele Praktiker aufschlussreich sein kann.

Das vierte Kapitel (quasi der „Theorieteil“) verschafft einen guten Überblick zu den Grundlagen von MI, ohne sich in unnötige Details zu verlieren. Ebenfalls gelungen sind die Merksätze im ausklappbaren Umschlag. Sie eigenen sich ideal dafür, als „MI-Wochenmotto“ im Stationszimmer oder Teambesprechungsraum auf großen Plakaten aufgehängt zu werden! Das fünfte Kapitel, bei dem MI in verschiedenen psychiatrische Situationen eingesetzt wird, liest sich allerdings streckenweise sehr unspezifisch und der kritische Leser mag sich fragen, wie sich nun in der konkreten Umsetzung der MI-Ansatz von den bekannten Roger´schen Grundvariablen, von lösungsorientierten Fragetechniken oder von ressourcenorientierten Ansätzen unterscheiden soll (möglicherweise liegt das aber weniger an den Autoren sondern es ist im eklektischen MI-Konzept begründet). Schade ist auch, dass die Autoren in diesem Praxiskapitel zum Thema Ambivalenzen bei der Medikamenteneinnahme und in suizidalen Krisen – entgegen ihren theoretischen Ausführungen auf Seite 32ff. – simple „Vor-/Nachteile“-Listen als Beispiele vorstellen. Es kann nicht darum gehen, Vor- und Nachteile einer Medikamenteneinnahme zu besprechen und damit eine mögliche Ambivalenz aufzulösen zu wollen (das Pro/Contra macht ja die Ambivalenz aus…). Vielmehr läge der MI-Zugang darin, die Vor- und Nachteil des Status quo vs. der Veränderung zu explorieren.

Ebenfalls kritisch hinterfragen könnte man die von den Autoren wiederholt eingebrachte Selbstbestimmungsprämisse in den von ihnen beschriebenen Zwangskontexten. Ob sich die Haltung von MI in forensischen Arbeitsfeldern ohne weitere Modifikationen anwenden lässt, und wie Menschen mit (beispielsweise dissozialen) Persönlichkeitsstörungen und manipulativen Beziehungsstrategien auf den MI-„Spirit“ reagieren, müsste weiter diskutiert werden. Generell scheint es - nicht nur beim vorliegenden Buch – notwendig zu sein, die Indikation von MI genauer zu fassen.

Fazit

Die von den Autoren präsentierten Fallbeispiele illustrieren deutlich, dass hier zwei praxisversierte und theoretisch überzeugende Experten ihr methodisches Know-How zum Besten geben. Das Buch charakterisiert den oft zitierten „Spirit“ der Motivierenden Gesprächsführung sehr verständlich. Die lesenswerten Ausführungen der Autoren können allen medizinischen und psychosozialen Fachkräften, die mit psychisch erkrankten Menschen arbeiten, als kurzweilige Lektüre empfohlen werden!

Literatur

  • Arkowitz, H., Westra, H., A., Miller, W. A., & Rollnick, S. (Hrsg.). (2010). Motivierende Gesprächsführung bei der Behandlung psychischer Störungen. Weinheim: Beltz.
  • Lundahl, B. W., Kunz, C., Brownell, C., Tollefson, D., & Burke, B. L. (2010). A meta-analysis of motivational interviewing: Twenty-five years of empirical studies. Research on Social Work Practice, 20(2), 137-160.

Rezension von
Patrick Zobrist
M.A./Sozialarbeiter, Dozent/Projektleiter, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Luzern (Schweiz)
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Es gibt 8 Rezensionen von Patrick Zobrist.

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Zitiervorschlag
Patrick Zobrist. Rezension vom 06.03.2013 zu: Georg Kremer, Michael Schulz: Motivierende Gesprächsführung in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2010. ISBN 978-3-88414-486-2. Reihe: Basiswissen. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13195.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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