Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt [...]
Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 07.05.2012
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Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
332 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2818-8.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 37,90 sFr.
Reihe: Juventa Paperback.
Thema
Seit den Enthüllungen über zahlreiche Missbrauchsfälle gegen Kinder und Jugendliche in Einrichtungen wie der Odenwaldschule, dem Kloster Ettal oder dem Canisius-Kolleg ist dieses eigentlich permanent aktuelle Thema zum Gegenstand einer umfangreichen medialen Berichterstattung geworden. Die Problematik erfordert jedoch nicht nur eine rekonstruktive Analyse; sie stellt auch und in stärkerem Maße eine Herausforderung an die Erziehungswissenschaften dar, die zu klären haben, wie es zu Erniedrigungen und Verletzungen im institutionellen Rahmen kommt, und wie verhindert werden kann, dass sich der Missbrauch zu einem schleichenden Begleitphänomen „im Schatten der Erziehung“ etablieren kann. Die Beiträge des Sammelbandes thematisieren körperliche und psychologische Gewalttaten in Bildungseinrichtungen und anderen sozialen Institutionen mit dem Zweck, das strukturell bedingte Interaktionsgeflecht zu durchleuchten, das diese Taten möglich macht.
Herausgeberin und Herausgeber
Sabine Andresen ist Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung am Fachbereich Erziehungswissenschaften der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wilhelm Heitmeyer ist an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld Professor und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband geht auf eine internationale Tagung zum Thema „Missachtung und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Institutionen“ zurück, die im Januar 2011 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand.
Aufbau
Der Band gliedert sich in sechs Hauptkapitel, die jeweils in mehrere Aufsätze (insgesamt 22) untergliedert sind:
- Der institutionelle Rahmen, soziale Prozesse und psychosoziale Dynamiken
- Erfahrungen von Betroffenen
- Zur Anfälligkeit pädagogischer Konzepte und Kontexte
- Historische Einordnungen
- Interventionen, Ansätze und Herausforderungen
- Die öffentliche Debatte.
Inhalt
Bildungseinrichtungen sind generell von einer Machtasymmetrie geprägt; diese Ungleichheit zwischen Lehrenden und Schülern sorgt für „institutionelle[] Gelegenheitsstrukturen“ (14). Ein weiterer, nicht minder zentraler Aspekt ist der Verstärkungsfaktor des Wegsehens: Opfer von Gewalt in Institutionen müssen im Durchschnitt acht Erwachsene ansprechen, bevor sie Gehör finden (11). Bereits dieses deprimierende statistische Auskunft macht die gesellschaftliche Problemlage im Kontext „zerstörerischer Vorgänge“ evident: Wenn die ersten sieben Erwachsene, denen Kindern und Jugendliche sich in ihrer Not anvertrauen, die Erlebnisse pauschal als unglaubwürdig abtun, wie sehr verwundert es dann noch, dass immer wieder neue Tätergenerationen heran wachsen, die sich auf diese Ignoranzhaltung als mittelbares Schutzschild ihrer Straftaten verlassen können?
Zu dem Problemzusammenhang gehört darüber hinaus die relative Abschottung der Einrichtungen gegen die Außenwelt: Es geht um „elitäre“ Reformpädagogik, „heilige“ Priesterschaft, „fördernde“ Sportvereine, „exkludierende“ Heime (27). Was hinter ihren Mauern geschieht, dringt meist nur fragmentarisch und nur gefiltert an die Öffentlichkeit. Die verschiedenen Formen der Misshandlung (körperlich, sexuell, vernachlässigend, emotional; 36 f.) können sich daher in einem weitgehend abgekapselten Umfeld ereignen. Die Aufdeckungsrate solcher Missbrauchsdelikte schwankt zwischen 58 und 72% (52). Eine seit April 2010 aktive telefonische Anlaufstelle hat binnen 16 Monaten 22.000 Kontakte zu verzeichnen gehabt, die zu 57% innerfamiliären Missbrauch und zu 29% den Missbrauch in Institutionen zum Gegenstand hatten – aber lediglich zu 6% Missbrauch durch Fremde (117). Starke Tendenzen zur Tabuisierung, die insbesondere die Bildungseinrichtungen betreffen, greifen nicht zuletzt deshalb, weil die betroffenen Institutionen gemeinhin von außen zunächst als helfende Einrichtung angesehen und respektiert werden.
Auch Betroffene kommen zu Wort: „Max“ gibt persönliche Reflexionen preis, der Eindruck einer „Täterorganisation Kirche“ wird artikuliert (88 f.), ebenso die These, dass eine Erziehungslogik im Sinne eines „pädagogischen Eros“ (155) problematische Entwicklungen ebenso begünstigt wie die Idee der „Familisierung“ von Erziehung (164). Als gefährliche Milieus lassen sich dabei sowohl „deutlich autoritäre“, wie auch „unstrukturierte Laissez-faire-Führungsstile“ betrachten (112). Es sind „Risikostrukturdimensionen“, die dabei zum Vorschein treten: Das Paradox von Intimität und Macht, die Spannung von Nähe und Distanz und die Reibung zwischen Normalität und Abweichung konstituieren zwischen Akteuren eine Interaktionssphäre, die Missbrauch möglich macht (173). Dies bezieht auch Strategien der offenen Missachtung (182) und Beschämung (152 ff., 195 ff.) mit ein.
Die „Schülerfeindlichkeit“ (190) bzw. „Hasspädagogik“ (233) kann auf eigene kulturgeschichtliche Entwicklung zurück blicken, die im 20. Jahrhundert besondere Ausprägungen in der NS-Zeit erfuhr. Um 1968 wandelte sich die Perspektive: Im Zuge der allgemeinen Liberalisierung sexueller Erfahrungsformen wurden beispielsweise auch Pädophilie, nun mehr als positive „Entwicklungshilfe“ am Kind verkleidet, zumindest in einigen Kreisen hoffähig: Die „'sexuelle Befreiung' als Legitimation für sexuellen Missbrauch von Kindern“ (238) konnte in dieser Aufbruchzeit mit einer Politrhetorik verknüpft werden, die wider die Kriminalisierung der Täter argumentierte (248 f.).
Gegenwärtig baut die Vorstellung einer erfüllten Kindheit auf Entwicklung, Bildung, Schutz und Rechten auf – Ressourcen und Ansprüche, die allerdings durch Angriffe gefährdet werden können (284). Die Analyse der aktuellen Mediendebatte (308 ff.) zeigt, dass zwar die Aufarbeitung der Vergangenheit durch externe Instanzen umfangreich erfolgt, dass aber die Täter und ihre Institutionen mitunter gegenaufklärerisch, entschuldigend und verharmlosend auftreten. Eine erst nachträglich stattfindende Kritik leidet jedoch immerzu unter dem Makel, dass Interventionen nicht mehr möglich sind: Der Schaden ist angerichtet, und die Täter können damit für gewöhnlich besser leben als die Opfer – zumal dann, wenn Strafe ausbleibt und die durchgeführten „Sanktionen“ das Wort kaum wert sind.
Diskussion
An den Befunden des Sammelbandes gibt es wenig auszusetzen: Sie konturieren das Problem aus einer generell pädagogischen, aber auch andere disziplinäre Sichtweisen berührenden Vorgehensweise, die als ziemlich umfassend angesehen werden kann. Es liegt in der Natur des Themas, dass es in diesem Kontext rasch zu Empörung und Entsachlichung kommt, wodurch letztlich die nüchterne Kritik der Tatsache leidet; genau diese Tendenz wird hier aber konsequent vermieden, sodass im Ergebnis ein sehr empfehlenswertes und informatives Werk vorliegt. Es lässt sich zwar hinterfragen, ob die Formel vom „sozialen Tod“ (22) tatsächlich zu den beschriebenen Zuständen passt: denn sozialer Tod meint den Ausschuss aus gesellschaftlichen Bezugsfeldern, während die Missbrauchsopfer doch eher zu sehr in einen unerwünschten Sozialkontakt geraten. Besser passt da schon die „soziale Taubheit“ als Chiffre für den Unwillen und das Unvermögen Dritter, sich einzumischen (296 f.). Unklar bleibt auch, weshalb gerade die Einschaltung der feministischen Forschung hilfreich wäre (12)? Die Missbrauchsproblematik trifft ebenso männliche wie weibliche Kinder und Jugendliche, und der akademische Diskurs ist daher folgerichtig auch nicht nur auf Gender-Effekte begrenzt. Sozial- und erziehungswissenschaftliche Gegenstrategien werden umfangreich auch von außerhalb dieser einen theoretischen Perspektive artikuliert.
Fazit
Ein lehrreiches, partiell in den Berichten über die Missbrauchstaten verstörendes Buch, das für die erziehungswissenschaftliche Debatte wichtig ist – letztlich auch deshalb, damit die Befürchtung nicht wahr wird, dass erst die Pädagogen des Jahres 2040 den Missbrauch von heute werden erkennen können.
Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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