Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger et al.: Einführung in die Ästhetische Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Hermann Sollfrank, 01.08.2012
Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger, Volker Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
200 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2177-6.
D: 19,95 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-2180-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Das Buch möchte einen Einstieg in die wesentlichen Elemente der ästhetischen Bildung bieten. Aufgezeigt werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ästhetischer Erfahrung, ästhetischer Erziehung und Bildung. Neben zentralen idealistischen und pragmatischen Begründungsfiguren, die exemplarisch an Friedrich Schiller und John Dewey entfaltet werden, stehen aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen sowie beispielshafte didaktische Arrangements im Mittelpunkt der Darstellung. Auf diese Weise sollen Leserinnen und Leser einen Überblick über dieses Themengebiet und die damit verbundenen Diskussionszusammenhänge erhalten.
Autorin und Autoren
Prof. Dr. Cornelie Dietrich ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Lüneburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungstheorien, Kulturelle und Ästhetische Bildung, Kindheitsforschung und Pädagogik der Frühen Kindheit.
Dr. Dominik Krinninger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorien der Erziehung und Bildung, Pädagogische Familienforschung und Ästhetische Bildung.
Prof. Dr. Volker Schubert ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Vergleichende Erziehungswissenschaft, Allgemeine Pädagogik und Ästhetische Bildung.
Ausgangspunkte
Den Begriff „ästhetische Bildung“ führen die AutorInnen als mehrdimensionalen. Er ist zum einen ein Sammelbegriff für jedwede pädagogische Praxis, in deren Realitäten und Verfahrensweisen ästhetische Felder wie Kunst, Musik, Literatur, Medien etc. eine zentrale Rolle spielen. Zum anderen ist er ein inhaltlich grundlegender Begriff im Kontext der Bildungstheorie, wenn es um Fragen der Persönlichkeitsbildung in und durch ästhetische Erfahrungen geht.
Ästhetische Bildung, so die Feststellung, hat in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen an Bedeutung gewonnen. Nicht nur die Relevanz und die Wirkungspotenziale ästhetisch-kulturellen Lernens über alle Lebensalter und pädagogischen Felder hinweg ist inzwischen in zunehmenden Maß empirisch gestützt, auch die Erkenntnis scheint sich zu etablieren, dass „ästhetische Weisen des Erkundens, Verstehens und Erkennens wesentlicher Bestandteil von Lernen überhaupt sind“ (S. 9). Ein weiterführender Blick auf makrosoziale Entwicklungen und Phänomene wie etwa der kulturellen Globalisierung und der Interkulturalität macht darüber hinaus deutlich, dass auch Themen wie die Chancen kultureller Teilhabe pädagogisch diskutiert werden müssen.
Der Bedeutungszuwachs ästhetischer Bildung ist nur ein Trend, auf den die AutorInnen hinweisen. Sie machen auch deutlich, dass sich eine Verlagerung der Bildungsaufgaben weg von der öffentlichen Hand hin zu den Kulturschaffenden selbst und zu anderen Formen der Finanzierung abzeichnet. Bedeutungszuwachs ästhetischer Bildung einerseits und Abwanderung derselben aus den öffentlich geförderten Bildungspraxen andererseits führt dazu, so die VerfasserInnen, „dass die Begründungs- und Legitimationszusammenhänge unübersichtlicher werden“. In diesem Sinne möchte die vorliegende Publikation Studierenden und pädagogischen PraktikerInnen eine „fundierte Einführung in die Diskussionszusammenhänge geben“ (S.10).
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert, die jeweils drei bis vier Kapitel umfassen.
Im ersten Teil (Annäherungen) gelangen die AutorInnen über Alltagsbeispiele ästhetischer Praxis von Heranwachsenden (Vorlesen, Fanchat, Popmusik) zu dem essenziellen Begriff der „ästhetischen Erfahrung“, der über die Abgrenzung von den Begriffen „Bildung“ und „Erziehung“ konkretisiert wird. Sie machen zunächst an den Beispielen von Lese- und Hörerfahrungen deutlich, dass ästhetische Erfahrung eine „Art Auseinandersetzung“ mit den eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen beinhaltet und sich offenbar ästhetisches Erleben in einem „gewissen Abstand“ zur Alltagswelt realisiert. Ausgehend von diesen Vorerwägungen nähern sich Dietrich, Krinninger und Schubert dem Begriff der Ästhetik. Dabei spannen Sie, beginnend mit Mollenhauers Thematisierung der subjektiven Wahrnehmungsvorgänge in einem Ich-Selbst-Verhältnis, einen Bogen über die Begründung der Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin bei Alexander Gottlieb Baumgarten hin zu den Modalitäten des Erfahrens und Urteilens bei Immanuel Kant. Thematisiert werden auch die unterschiedlichen Formen und der Umfang ästhetischen Wahrnehmens respektive Erlebens (ästhetische Empfindung, ästhetische Wirkung und ästhetische Erfahrung) und dessen Eingebundensein in soziale Verhältnisse (S. 20). Dem Themenkomplex der ästhetischen Erziehung und Bildung nähern sich die Verfasser über terminologische Skizzen. Sie differenzieren hierzu zuerst zwischen einem weiten, intergenerativ gedachten Erziehungsverständnis und einen auf Reproduktionsprozesse reduzierten Erziehungsbegriff und betrachten die Auswirkungen solcher Begriffsreichweiten für ästhetisch motivierte Pädagogik. Bildungsbegrifflich stellen sie das sich bildende Subjekt in den Vordergrund und eröffnen damit Denkperspektiven, die über rein material gedachte Bildungsverständnisse hinausgehen und in denen vor allem erworbene Bestände an Wissen, Fertigkeiten etc. im Vordergrund stehen würden. Die AutorInnengruppe stellt aber eine formale Perspektive auf Bildung in den Vordergrund, in der nicht nur gebildet wird, sondern der Mensch gleichzeitig sich auch selbst bildet. Mit der Skizzierung von vier „unabdingbaren Teildimensionen“ ästhetischer Erziehung und Bildung, die Entwicklung von Fingerfertigkeiten, eine Alphabetisierung im Sinne eines Kenntnisgewinns über „ästhetische Symbolbestände“, die Begünstigung von Selbstaufmerksamkeit und die Entfaltung von Sprachlichkeit, von Ihnen als „FASS-Schema“ bezeichnet, endet der erste Abschnitt (S. 27).
Abhängig von den jeweiligen theoretischen Grundlagen und historischen Traditionen, sind sowohl relevante Begriffe als auch die Beurteilung von Praxen ästhetischer Bildung unterschiedlich zu sehen. Im zweiten Teil des Bandes (Begründungsfiguren) werden deshalb die beiden in diesem Zusammenhang wichtigsten philosophischen Denktraditionen des Idealismus und des Pragmatismus exemplarisch an Ihren Hauptvertretern Friedrich Schiller und John Dewey verdeutlicht. Ausgehend von Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung (1795), werden dessen Vorstellungen einer Erziehung des Menschen als ästhetische Erziehung entfaltet. Im Wesentlichen stehen diese Ideen Schillers mit einer Theorie der Freiheit in Zusammenhang, die die Bildung der Subjekte zur Selbstbestimmung als auch die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft beinhaltet. Anthropologisch wird das Individuum in diesem Zusammenhang in der Ambivalenz zwischen Stoff- und Formtrieb gesehen, zwei gegensätzliche Triebe, die in Ihrer Koexistenz den Menschen auszeichnen. Während der Stofftrieb für die Empfindungen des Menschen steht, ihn zu einem sinnlichen Wesen macht, dessen Existenz zeitlich begrenzt ist, stellt der Formtrieb die Seite der Vernunft dar, steht im Gegensatz zur Individualität des Menschen und entgrenzt die Zeit. Die doppelte Erfahrung einer bewusst gewordenen Freiheit und eines empfundenen Daseins sieht Schiller in der Ästhetik verortet, zunächst begrifflich gefasst als menschliches Spiel, in der sich die Freiheit von allen Zwängen manifestieren kann (S. 37ff).
John Deweys Ansatz, hier vor allem entlang seiner Schriften „Demokratie und Erziehung“ (1916) und „Kunst als Erfahrung“ (1934) dargestellt, verknüpft ebenfalls anthropologische, gesellschaftlich-politische und ästhetische Perspektiven. In seiner Theorie der ästhetischen Erfahrung propagiert er die Inklusion von Kunst in die gewöhnlichen gesellschaftlichen Erfahrungsräume, die Wiederherstellung der Beziehung von Kunst und Leben. Hier spielt Deweys Konzept des „experience“ eine zentrale Rolle. Erfahrung bzw. experience stellt zugleich Begründung, Mittel und Ziel eines jeden Erziehungsprozesses dar. Der Erziehung wird dabei als eine Wirkungsdimension der sozialen Umgebung begriffen. Diese stellt einen Möglichkeitsraum dar, in dem das Individuum Gewohnheiten, so genannte „habits“ entwickelt, reflektiert und modifiziert. Ästhetische Erfahrungen sind dabei im Deweyschen Sinne „neben intellektuellen, praktischen und sozialen Erfahrungen eine grundlegende Form , in der wir uns in Beziehung zu der Welt setzen“ und tragen dazu bei, den durch unsere habits geprägten „Blick auf die Welt“ zu verändern und zu erweitern (S. 60). Diese pragmatistische Theorielinie Deweys und die idealistische Perspektive Schillers werden durch Dietrich, Krinninger und Schubert abschließend verglichen und in Bezug gesetzt zu zeitgenössischen Themen, die unter den Überschriften „Demokratie und die Autonomie der Kunst“, „Gegenstände ästhetischen Erlebens“ und „Ästhetik und Bildung“ gefasst werden.
Im dritten Abschnitt (Gegenwärtige Herausforderungen) werden vier „Dimensionen“ ästhetischer Bildung aufgegriffen, die inzwischen die spezifischen Praxen ästhetischer Bildung durchdringen und Organisation, inhaltliche Orientierung sowie „Legitimationsdiskurse“ mitbestimmen (S. 75ff). Die erste Dimension beinhaltet die Frage nach dem Beginn frühkindlicher ästhetischer Bildung und der Beschaffenheit der entsprechenden Bildungsprozesse. Dabei ist von der ästhetischen Erfahrung als sinnlich strukturierender Sinn, der Genese der Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes und der Relevanz intermediärer Räume zwischen Ich und Welt im psychoanalytischen Sinne die Rede, um dann auf eine „Doppelstruktur“ der elementaren ästhetischen Bildung hinzuweisen, die sowohl in der ästhetischen Erfahrung im Alltag als auch in der sich selbst genügenden Beschäftigung mit den Künsten jenseits des Alltags fußt (S. 83f). Die zweite Dimension umfasst die soziologische Fragestellung nach der Genese sozialer Unterschiede durch Entfaltung und Konstituierung ästhetischen Geschmacks. Hier wird u. a. auf die Beiträge der Bourdieuschen Habitustheorie zurückgegriffen. Im Dritten beschäftigen sich die AutorInnen mit der interkulturellen ästhetischen Bildung, die sich zwischen den gegensätzlichen Erwartungs- und Anforderungshorizonten der Anerkennung kultureller Verschiedenheit und der Assimilation unter kulturellen Leitvorstellungen bewegen muss (S. 85ff). Der Abschnitt endet mit einem Kapitel über aktuelle und zukünftige Veränderungen, welche die Organisation und Finanzierung ästhetischer Bildung betreffen. In aktuellen pädagogisch-ästhetischen Angeboten stehen sich zusehends bildungsphilosophische und ökonomische Motive gegenüber, die sich entlang der Frage abzeichnen, welchen Stellenwert „ästhetische Bildung“ und/oder „Kulturvermittlung“ haben (sollen) und wie sich ein Dialog zwischen diesen Diskursen produktiv gestalten kann.
Der vierte Abschnitt (Pädagogische Arrangements für ästhetische Bildung) hat den Einblick in ausgewählte Praxisfelder ästhetischer Erziehung und Bildung zum Gegenstand. Anhand der klassischen Bereiche Musik, Kunst und Literatur wird das umfangreiche pädagogische, didaktische und medienspezifische Reflexionswissen entlang dieser Kunstformen genutzt um pädagogische Arrangements in formalen (schulischen) und nonformalen (außerschulischen) Kontexten zu entfalten und zu diskutieren. Zum Schluss werden noch eine Reihe von „Grundproblemen des pädagogischen Umgangs mit ästhetischem Erleben“ (S. 160) pointiert erörtert. Die erste Grundfrage, die die AutorInnen resümierend zu beantworten suchen, ist die der Legitimierung ästhetischer Bildung, die sie im „Eigenwert des Kulturellen“ und im „Eigenrecht des Ästhetischen“ genauso begründbar sehen, wie in der Wirksamkeit ästhetischer Erfahrungen in anderen Lebensbereichen (S. 160f). Was hingegen die Felder der ästhetischen Erziehung anbelangt, rekurrieren die AutorInnen auf ihr bereits vorgestelltes FASS-Schema. Sie sehen die Vermittlung von Fähigkeiten, die Vermittlung von Wissen, die Eröffnung von Räumen der Selbstaufmerksamkeit und das Fragen nach der Artikulation und Mitteilung von Erfahrung als zentrale Dimensionen ästhetischer Edukation an. Eingelagert sehen Sie die damit verbundene pädagogische Arbeit in „spezifische Spannungsfelder“. Damit gemeint sind die bereits in den vorangegangenen Kapiteln bearbeitenden Themen wie das Verhältnis von Pädagogik und Ökonomie, die Frage nach der Relevanz von Tradition im Kontext der Teilhabe an ästhetischer Bildung und die Frage nach „habitueller Sensibilität und Anerkennung“ gegenüber „differenten kulturellen Praxen und Stilen“ (S. 168). Mit der resümierenden Erörterung dieser Spannungsfelder endet die Abhandlung.
Diskussion und Fazit
Die Publikation von Dietrich, Krinninger und Schubert ist als Einführung in das Terrain ästhetischer Bildung gedacht. Dieser Aufgabe wird es gerecht, wenn man dazu bereit ist, entlang einer klugen Auswahl von „theoretische[n], empirische[n] und praktische[n] Gegenständen“ (S.12) den in weiten Teilen bildungsphilosophisch motivierten Ideen und Argumentationen der AutorInnen zu folgen. Dann ist das Buch für die LeserInnenschaft ein Möglichkeitsraum für „experience“. Es kann motivieren, sich mit philosophischen Implikationen von ästhetischer Erziehung und Bildung genauso weiter zu beschäftigen wie mit der Frage der aktuellen Gestaltung und Begründung pädagogisch motivierter ästhetischer Praxis. Die vorliegende Monografie ist aber nicht nur eine Einführung in die ästhetische Bildung. Sie ist ein gelungenes Beispiel dafür und damit ein deutlicher Hinweis darauf, dass sowohl in der theoretisch-abstrakten Durchdringung als auch in der praxisfokussierten Konzeption, Realisierung und Reflexion ästhetischer Bildung es mehr als lohnend sein kann, auch eine bildungstheoretische Perspektive einzunehmen.
Rezension von
Prof. Dr. Hermann Sollfrank
Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit München
Mailformular
Es gibt 5 Rezensionen von Hermann Sollfrank.
Zitiervorschlag
Hermann Sollfrank. Rezension vom 01.08.2012 zu:
Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger, Volker Schubert: Einführung in die Ästhetische Bildung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
ISBN 978-3-7799-2177-6.
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13200.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.