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Volker Frielingsdorf (Hrsg.): Waldorfpädagogik kontrovers

Rezensiert von Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle, 16.04.2013

Cover Volker Frielingsdorf (Hrsg.): Waldorfpädagogik kontrovers ISBN 978-3-7799-2433-3

Volker Frielingsdorf (Hrsg.): Waldorfpädagogik kontrovers. Ein Reader. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2012. 350 Seiten. ISBN 978-3-7799-2433-3. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR.

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Autor

Dr. phil. Volker Frielingsdorf ist langjähriger Waldorflehrer, Autor von Schulbüchern (u.a. zur Vorbereitung von Waldorfschülern auf das Abitur) und Dozent in der Erwachsenenbildung.

Thema

Um die Waldorfpädagogik wird seit ihrer Entstehung in den 1920er-Jahren zwischen Gegnern und Vertretern so leidenschaftlich wie kontrovers gestritten: Den Gegnern ist sie schlimmstenfalls eine okkult aufgeladene Weltanschauungsschule (Prange 2000), günstigstenfalls „ver-steiner-te Reformpädagogik“ (Ullrich 1982), Waldorfpädagogen hingegen rühmen ihre Pädagogik als Erziehung aus „wahrer Menschenerkenntnis“ (Steiner).

Die Diskussionen waren jahrzehntelang emotional und normativ aufgeladen und von gegenseitiger Distanz geprägt. Diese Diskussion hat sich in den letzten Jahren etwas entspannt, die Frontverläufe sind unübersichtlicher geworden und die Diskussion wurde mindestens teilweise versachlicht: Die Expansion der Waldorfschulen auf dem Hintergrund einer weithin als Misere wahrgenommenen Situation im öffentlichen Schulwesen zwang die Erziehungswissenschaft, die Attraktivität der Waldorfschulen zur Kenntnis zu nehmen. Die Waldorfpädagogik ihrerseits war nach der Phase des Ignoriertwerdens durch Wissenschaft und Öffentlichkeit vermehrt gefordert, eben dieser Öffentlichkeit ihre Pädagogik zu erklären und sich auch mit ihrer Beurteilung durch die Erziehungswissenschaft auseinanderzusetzen. Im Weiteren gab es in der Folge von PISA einige Studien, die Aspekte der Waldorfpädagogik empirisch untersuchten und so zur Versachlichung der Diskussion beitrugen (Barz 2007; Helsper et al. 2007; Liebenwein et al. 2012).

Entstehungshintergrund

Der vorliegende Reader ist Ergebnis eines Forschungsprojekts der Freien Hochschule Stuttgart, der ältesten Ausbildungsstätte für Waldorflehrer, das die wissenschaftliche Fachliteratur zur Waldorfpädagogik systematisch erfassen und auswerten sollte. Frielingsdorf hatte die Leitung dieses Projekts inne.

Die zweite Publikation aus diesem Projekt, „Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft: ein Überblick“ (2012), kommentiert und interpretiert die erziehungswissenschaftlichen Beiträge zur Waldorfpädagogik, von denen einige im vorliegenden Reader wiedergegeben sind.

Aufbau und Inhalt

Der Reader enthält 33 Buchauszüge und Artikel zur Waldorfpädagogik – zu ihren Grundlagen und ihrer Didaktik, zum Diskurs zwischen Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik, zur Sicht der Erziehungswissenschaft auf Steiners Erziehungslehre und -praxis und zu Ergebnissen empirischer Untersuchungen über Waldorfschulen. Die Texte sind nach den Autoren alphabetisch geordnet. Sie geben einen ausführlichen Einblick in die Selbstbeschreibungen der Waldorfpädagogik: 17 der 33 Beiträge stammen von Waldorfpädagogen oder Dozenten an anthroposophisch orientierten Freien Hochschulen. Die 16 weiteren Beiträge zur Außenwahrnehmung der Waldorfpädagogik durch die Erziehungswissenschaft lassen sich in zwei Gruppen einteilen:

  1. Neun Beiträge aus der Erziehungswissenschaft lassen sich als wohlwollend bis kritisch interessiert bezeichnen,
  2. sieben Texte äußern sich kritisch zur Waldorfpädagogik, drei von diesen (Prange, Zander und Ullrich) mit Fundamentalkritik.

Das Buch gibt dabei Einblick in die Diskussion um die Waldorfpädagogik für 1980-Jahre bis zur Gegenwart, sieht man vom Text von Kloss (1955) und den beiden Steiner-Texten (1907/1919) ab.

Frielingsdorf gibt in der Einleitung fünf Lesepfade durch den Reader an, die die Lektüre strukturieren könnten:

  1. Der historisch-genetische Pfad wendet sich an Leser, die die Historie und die Ursprünge der Waldorfpädagogik interessiert. .
  2. Der methodisch-didaktische Pfad spricht Leser an, die an unterrichtsmethodischen Fragen interessiert sind.
  3. Der sozialwissenschaftlich-ökologische Pfad richtet sich an Leser, die sich von sozialen Aspekten und Implikationen der Waldorfpädagogik angesprochen fühlen.
  4. Der summarisch-kritische Pfad informiert über Gesamtdarstellungen und kritische Aspekte und
  5. der empirisch-philosophische Pfad zeigt einige Wirkungen der Waldorfpädagogik, vor allem aber deren philosophische Grundlagen auf.

Im Folgenden werden die Autoren und ihre Themen (der Prägnanz halber gekürzt) genannt:

  1. Integrativer Unterricht in der Waldorfpädagogik (Barth 2008).
  2. Anthroposophie zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz (Barz 1992).
  3. Die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim (Brater et al. 2009).
  4. Erfahrungen mit Schulautonomie (Götte (2000).
  5. Erfahrungen mit Epochenunterricht (Grebe-Ellis 2008).
  6. Pro und contra Waldorfpädagogik (Hansmann 1987).
  7. Medien, Medienpädagogik und Salutogenese (Hübner 2006).
  8. Anthroposophische Schulkultur im Vergleich (Idel 2007).
  9. Steiners Texte zur Pädagogik und Esoterik des Lehrers (Kiersch 2004).
  10. Waldorfpädagogik und Reformpädagogik (Kloss 1955).
  11. Anthropologie und Goetheanismus (Kranich 2007).
  12. Die Sozialgestalt der Waldorfschulen (Leber 1983).
  13. Rudolf Steiner (Lindenberg 1979).
  14. Anthroposophische Heilpädagogik (Neukäter-Pieweck 1989).
  15. Rudolf Steiner (Oelkers 2001)
  16. Lernen von der Waldorfpädagogik? (Paschen 1990).
  17. Lernen im Atem des Kosmos (Prange 1985).
  18. Mathematikunterricht (Prediger & Ullrich 1996).
  19. Bildung und Lebensgestaltung ehemaliger Waldorfschüler (Randoll 2007).
  20. Der fremde Blick: Steiners Werk als Heuristik (Rittelmeyer 1990).
  21. Das eigentliche Skandalon der Waldorfpädagogik (Rumpf 1992).
  22. Umwelterziehung in der Waldorfpädagogik (Schad/Suchantke 1990).
  23. Waldorfpädagogik in der Diskussion (Scheuerl 1993).
  24. Kunstverständnis in der Waldorfpädagogik (Schieren 2008).
  25. Erkenntnistheorie und Menschenkunde (Schneider 1982).
  26. Mathematikunterricht (Schubert 1992).
  27. Erziehung als Einführung in den kosmischen Zusammenhang (Skiera 2010).
  28. Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft (Steiner 1907).
  29. Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule (Steiner 1919).
  30. Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung (Ullrich 1986).
  31. Religiöse Erziehung in der Waldorfpädagogik (Willmann 1998).
  32. Sympathie und Distanz: 40 Jahre Erfahrungen mit der Waldorfpädagogik (Winkel 1987).
  33. Waldorfpädagogik kontextualisiert (Zander 2007).

Diskussion

Das Buch aktualisierte und bereicherte mein Wissen über die Waldorfpädagogik und den Stand der Fachdiskussion um sie. Die Artikel geben Einblick in viele und auch kontrovers bewertete Aspekte der Waldorfpädagogik. Die Gewichtung der Artikel ist allerdings deutlich waldorfpädagogisch, und das Gros der Artikel waldorfpädagogisch oder wohlwollend. Auch wenn Frielingsdorf schreibt, die quantitative Bevorzugung sei kein Werturteil: Ca. 230 Seiten sind mit Waldorf- oder sympathisierenden Positionen gefüllt, den Kritikern (nach meiner Einschätzung) werden ca. 70 Seiten eingeräumt.

Die einführenden Kommentare geben Informationen zu den Autorinnen und Autoren, ihrem wissenschaftlichen und beruflichen Hintergrund und dem Kontext der Texte. Dies ist hilfreich, um den Ort des Textes im Diskurs zu verstehen, teils aber auch übermäßig bewertend, so liest man doch voreingenommen und muss sich von der Einführung beim Lesen wieder lösen: In den einführenden Kommentaren zeigt Frielingsdorf seine Position als Waldorfpädagoge deutlich, z.B., wenn er die ohnehin wenigen wirklich waldorfkritischen Texte und Autoren diskret entwertet – nur als Beispiel: Den Text von Helmut Zander, dem prononciertesten und fundiertesten Kritiker der Anthroposophie (Zander 2007), diskreditiert er als „Auslassungen“ über Waldorfpädagogik und stellt ihn als „nicht unwidersprochen und umstritten“ dar. Als Beleg führt er dann ausgerechnet den aggressivsten Apologeten der Anthroposophischen Gesellschaft Lorenzo Ravagli an (Ravagli wird im Vorwort ausdrücklich gedankt). Mir stellte sich auch nach der Lektüre dieser Waldorfpublikation die Frage nach dem Geiste, aus dem sie erwuchs: Selbstvergewisserung der Waldorfpädagogik im Spiegel der Erziehungswissenschaft („Spieglein, Spieglein … ?“), Sicherung der Deutungshoheit über die öffentliche Diskussion zur Waldorfpädagogik angesichts einer interessierten, aber auch skeptischen Öffentlichkeit oder doch Interesse an echtem Dialog? Ich bleibe gespalten.

Fazit

Das Buch gibt Leserinnen und Lesern, die über (waldorf-)pädagogische Vorkenntnisse oder Erfahrungen verfügen, einen vertieften Einblick in die Diskussion der letzten 30 Jahre um die Waldorfpädagogik. Es gibt viele bekannte Positionen der Waldorfpädagogik (und ihrer Selbstlegitimation), aber auch innovativen Aspekten ihrer Praxis (wie der interkulturellen Schule in Mannheim) wieder. Es überrascht mit einigen unerwartet positiven, aber auch prononciert kritischen Stellungnahmen der universitären Erziehungswissenschaft. Es zeigt Potenziale, aber auch Erkenntnisse und Bemühungen zur Weiterentwicklung der Waldorfpädagogik auf. Das Buch zeigt die Waldorfpädagogik zum größeren Teil positiv, in vielen Beiträgen differenziert, aber „kontrovers“ wäre anders. Es hat das Potenzial, den Dialog von Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik - über Waldorfpädagogik - zu fördern – der wirklich offene Diskurs beider über Pädagogik m.E. steht aber noch aus, denn dazu müsste sich die Waldorfpädagogik auch durch die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft produktiv irritieren lassen und von ihr lernen wollen (und nicht nur umgekehrt): Ob die Waldis das schaffen? Schön wär's – vor allem für ihre Schülerinnen und Schüler.

Literatur

  • Barz, Heiner (2007). Absolventen von Waldorfschulen eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Helsper, Werner/Ullrich, Heiner/Stelmaszyk, Bernhard/Höblich, Davina/Graßhoff, Gunther & Jung, Dana (2007). Autorität und Schule: die empirische Rekonstruktion der Klassenlehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Liebenwein, Sylva/Barz, Heiner & Randoll, Dirk (2012). Bildungserfahrungen an Waldorfschulen: empirische Studie zu Schulqualität und Lernerfahrungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Prange, Klaus (2000). Erziehung zur Anthroposophie: Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
  • Ullrich, Heiner (1982). Ver-steiner-te Reformpädagogik. In: Neue Sammlung, Nr. 22. S. 539-564.
  • Zander, Helmut (2007). Anthroposophie in Deutschland: theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rezension von
Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten/Schweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Widulle.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Widulle. Rezension vom 16.04.2013 zu: Volker Frielingsdorf (Hrsg.): Waldorfpädagogik kontrovers. Ein Reader. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2012. ISBN 978-3-7799-2433-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13203.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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