Elisabeth Caroline Wylie, Katharine E. Cummings et al.: Improving Formative Assessment Practice [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 17.05.2013
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Elisabeth Caroline Wylie, Katharine E. Cummings, Lindsay Akers Noakes u.a.: Improving Formative Assessment Practice to Empower Student Learning.
Corwin Press
(Thousand Oaks, CA 91320) 2012.
160 Seiten.
ISBN 978-1-4129-9701-0.
$ 31,95.
Thema
Das Thema des Buches steht im Titel. Er liesse sich übersetzen mit: Verbesserung der Praxis des formativen Assessments, um das Lernen von Schülerinnen und Schülern zu stärken. Das Schlüsselwort – formatives Assessment (FA) – ist schwer einzudeutschen, vielleicht mit „Unterricht gestaltendes Erheben von Lernständen mit Feedback“. Es handelt sich um ein durchgängig umzusetzendes didaktisches Handlungsprinzip: Gemeinsam verantwortliche Lehrpersonen handeln zusammen mit den Lernenden in einem Zyklus des Planens, Umsetzens und Revidierens des Lehrens und Lernens. Das Lernhandeln der Schülerinnen und Schüler soll durch gezieltes Lehrhandeln optimiert werden. FA beginnt mit dem Setzen klarer Lernziele (und Erfolgskriterien), über die Lehrpersonen mit den Lernenden ein geteiltes Verständnis herstellen. Nachfolgend werden Belege zum jeweiligen Lernstand der einzelnen Schülerinnen und Schüler gesammelt. Ein FA-Zyklus wird abgeschlossen durch Feedback an alle einzelnen Lernenden sowie durch gegenseitige Peer-Unterstützung beziehungsweise durch angepassten Unterricht, um eine bestehende Lücke zwischen Lernzielen und Lernstand zu schliessen. Das Buch versteht sich als praktischer Leitfaden für Lehrpersonen, die ihre FA-Praxis verbessern wollen.
Autorenteam und Entstehungshintergrund
Die sechs Autorinnen und der Autor verfügen meist über langjährige Berufserfahrungen als Lehrpersonen an Schulen und unterrichteten oft als Kernfach Mathematik. Außerdem sind sie als Beratungspersonen, als Forschende, in der Teamentwicklung und in der Evaluation tätig. Das Buch geht aus einer 2009 durchgeführten nordamerikanischen Konferenz zu Lernstandserhebungen und Leistungstests hervor. Ein hierfür entwickelter Leitfaden wurde auf Basis von Forschungsergebnissen und eigener pädagogischer Praxis weiterentwickelt. Angesprochen werden sowohl in Ausbildung befindliche als auch im Beruf stehende Lehrpersonen sowie pädagogische Fachleute, die Lehrpersonen coachen und beraten.
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält neben zwei Vorworten und einem Sachindex sechs Hauptkapitel und wird durch eine Webseite mit Online-Tools ergänzt.
Das erste Vorwort ist von James Popham geschrieben. Für diesen prominenten US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler ist beim FA zentral, dass Lernstanderhebungen genutzt werden, um Entscheidungen über das weitere Unterrichten zu treffen. Durch Lernstanderhebungen generierte empirische Daten fungieren als Treiber für die Unterrichtsentwicklung.
Das Autorenteam unterstreicht im eigenen zweiten Vorwort, dass jedes Kapitel
- echte Beispiele für FA im Klassenzimmer enthält
- mit klar formulierten Lernzielen beginnt und mit einer Zusammenfassung schließt
- Fragen bietet, die Lehrpersonen gemeinsam diskutieren können
Kapitel 1 führt in FA ein. Lehrpersonen versuchen damit Fragen zu beantworten wie:
- An was vom gestrigen Thema erinnern sich die Lernenden?
- Wie gut sind sie für den nächsten Klassentest vorbereitet?
- Wie können sich Lernende gegenseitig beim Lernprozess unterstützen?
- Welche Lernende sind bereit für eine neue Herausforderung?
- Welche benötigen erneut die Möglichkeit, den Stoff aus einer anderen Perspektive zu erarbeiten?
Lehrpersonen können ihre FA-Praxis auch selbst evaluieren, also Selbstevaluation (SE) von FA. FA ist unmittelbar in den Unterricht integriert, während SE von FA den Unterricht beobachtet. SE ist anlassgetrieben und auch berichtspflichtig, während FA kontinuierlich erfolgt und Dritten gegenüber nicht offengelegt wird. Bei FA stehen Lernziele sowie Outcomes der Lernenden immer im Mittelpunkt, während SE auch andere Aspekte von Unterricht betrachten kann.
Im Konzept der SE sind die Lehrpersonen die Lernenden. Der SE-Zyklus lässt sich durch drei Fragen charakterisieren:
- Wo will ich hingehen? (Kapitel 2)
- Wo stehe ich jetzt? (Kapitel 3 und 4)
- Wie kann die Lücke geschlossen werden? (Kapitel 5 und 6)
Kapitel 2 fragt, wie FA definiert werden kann. Es beginnt mit zwei Beispielen, die veranschaulichen sollen, was integriertes FA im normalen Unterricht bedeutet. Diese machen deutlich, dass die Steuerung von FA sowohl durch die Lehrperson als auch unter stärkerer Beteiligung der Lernenden erfolgen kann. Forschungsergebnisse belegen, dass FA starke Effekte auf das Lernen hat. Zwei zentrale Komponenten von FA sind klare Lernintentionen und Erfolgskriterien. Als weitere Schritte schließen Datenerhebung, Feedback und aktive Beteiligung der Lernenden an. Feedback wird definiert als Information, die den Lernenden bereitgestellt wird, damit diese die Lücke zu schließen vermögen, die zwischen ihrer aktuellen Position und den von ihnen angestrebten Outcomes besteht. Feedback ist zu geben, bevor das jeweilige Projekt oder die Aufgabe abgeschlossen sind.
Tabelle 2.1 fasst auf zweieinhalb Seiten das 11-schrittige Vorgehen des FA zusammen: Die vier Hauptmerkmale werden durch je zwei bis vier Teilprozesse konkretisiert. Die Tabelle kann als Checkliste zur Planung eines ersten eigenen FA-Projektes genutzt werden.
Kapitel 3 beschreibt, wie der SE-Prozess der Lehrpersonen beginnen kann. Empfohlen wird eine gut überlegte Auswahl von Fragestellungen zum FA-Prozess (ein Auswahl-Menü bietet die Tabelle 2.1). Mittels dreier Methoden können die Lehrpersonen ihr Wissen über FA und ihre aktuelle FA-Praxis erweitern:
- Ein Selbsteinschätzungsbogen, auf dem man festhält, wie fortgeschritten man in der jeweiligen FA-Praxis ist, bis hin dazu, dass man andere beim Aufbau dieser Kompetenz unterstützt.
- Kollegen können die FA- Praxis eher informell oder auch strukturiert mit dem Einschätzbogen beurteilen.
- Persönliche Reflexion entlang der vorgestellten Definitionen; Vergewisserung, welche Erfahrungen die eigenen Lernenden mit FA haben, sowie Überlegungen dazu, in welcher Klasse man mit (mehr) FA-Aktivitäten anfangen könnte.
Kapitel 4 behandelt, wie ein (gemäss Kapitel 3) gewählter Aspekt des eigenen FA selbstevaluiert werden kann. Vorgeschlagen werden verschiedene Erhebungsmethoden wie Beobachtung oder informelle Gespräche mit Peers, um eigene Stärken und Schwächen bezüglich FA zu identifizieren. Ein Beispiel demonstriert, wie das FA-Merkmal 1 „klare Lehrintention“ evaluiert werden kann. Ein anderes betrifft die Selbstreflexion zu Stärken und Schwächen beim FA einer Geschichtslehrerin. Alternativ können FA-erfahrene Kolleginnen oder Kollegen beobachtet oder interviewt werden. In einem Reflexionsbogen notiert die Lehrperson, was sie über den eigenen Einsatz von FA weiss. Sie soll sich auf Basis verschiedener Datenquellen ihrer eigenen FA-Kompetenzen vergewissern.
Kapitel 5 beschreibt, wie Lehrpersonen sich gegenseitig unterstützen können, den erkannten Verbesserungsbedarf zu FA umzusetzen, im Zyklus Handeln-Reflektieren-Verändern. Ressourcen sind Lerngemeinschaften, Coaches oder Mentoren sowie Vorgesetzte. Den Abschluss bilden Praxisbeispiele von Lehrpersonen, die ihre FA-Praxis verändert haben.
Kapitel 6 zeigt, wie die eigene FA-Praxis in drei Teilschritten selbstevaluiert werden kann:
- Dokumentieren der eigenen Handlungen
- Wirkungsfeststellung bei Lernenden mit Hilfe von Daten
- Aufzeigen der Verbindungen zwischen eigenen Handlungen und Wirkungen
(1) Als Datenquellen für die eigenen Lehrhandlungen dienen wesentlich Pläne für Unterrichtsstunden, Handouts, eigene Notizen, Aufzeichnungen von Beobachtungen, Hausaufgaben oder gelöste Klassenaufgaben von Studierenden. (2) Lerneffekte können sich auf Wissen, Einstellungen, Fertigkeiten, Handlungsbereitschaften und Verhalten beziehen. In der Tabelle 6.1. wird versucht, diese sechs Wirkdimensionen bei den Lernenden auf die vier Charakteristiken von FA zu beziehen. (3) Als Datenquellen können Feedbackbögen Lernender oder Peer-Einschätzungen dienen. Diese Verfahren werden mit Beispielfragen und Beobachtungsbögen vorgestellt. Kurz werden Gütekriterien sowie Erhebungsethik angesprochen.
Kapitel 7 fasst die Hauptideen der vorangegangenen Kapitel zusammen. Lesende sollen den gesamten Prozess der SE von FA mehrfach durchführen, sodass sowohl Erfolg sichtbar wird, als auch eine Habitualisierung eintritt.
Diskussion
Das Buch verfolgt ein wichtiges Anliegen, nämlich wie das in verschiedenen Studien (u.a. John Hattie, Lernen sichtbar machen, 2013, vgl. www.socialnet.de/rezensionen/14932.php) als hochwirksam für Lernleistungen ausgewiesene FA systematisch beschrieben, implementiert und insbesondere selbstevaluiert werden kann. Während es zahlreiche Leitfäden und Bücher zum FA gibt, gibt es kaum welche dazu, wie diese anspruchsvolle Kompetenz mit empirischer Selbstevaluation systematisch weiterentwickelt werden kann. Dass beides – sowohl FA als auch dessen SE – zentral ist für Lehrerprofessionalität, wird überzeugend aufgezeigt. Dabei werden Verbindungen zu aktuellen didaktischen Herausforderungen hergestellt, etwa zum kooperativen Lernen, zur Individualisierung und zur Selbststeuerung des Lernens. Es gibt einige gute Fallbeispiele von FA, zum Beispiel das der Handelslehrerin mit der Methode „Eintrittskarte“ (S. 12) oder dasjenige zur „grossartigen falschen Antwort“ (S. 40). Das Buch ist ein Versuch, die gesamte didaktische Planung vom FA her aufzuzäumen und sie mittels Selbstevaluation evidenzbasiert zu verbessern.
Interessant ist, dass das Wort „Daten“, obwohl es ständig um deren Erhebung geht, weitestgehend vermieden wird. Dahinter steht Vorsicht gegenüber dem vermuteten Daten-Widerstand vieler Lehrpersonen. Der Preis ist allerdings, dass vielfach Ausführungen unklar bleiben, zum Beispiel zur „Qualitäts-Evidenz“ (statt klassisch „Güte von Daten“). Herausfordernd sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen des Buches ist, die beiden Ebenen des FA und SE auseinander zu halten, und immer wieder klar zu machen, auf welcher Ebene sich die Argumentation befindet. Unverständlich ist, weshalb das Wort SE im Titel des Buches fehlt, es aber im Text und in zwei Kapitelüberschriften eine zentrale Rolle spielt. Erst langsam wird beim Lesen klar, dass es darum geht, eine Art Selbstevaluationsleitfaden für die Praxis des formativen Assessments von Lehrpersonen zu bieten. Die beiden zentralen Begriffe werden mehrfach im Text nicht kohärent gebraucht – vermutlich eine Folge davon, dass sieben Personen an dem Buch, und zwar wahrscheinlich arbeitsteilig geschrieben haben. Bei aller Anstrengung, ein systematisches, leicht nachvollziehbares Lehrbuch zu schreiben, ist dies nicht gelungen. Die Praxisbeispiele, die insbesondere gute FA und Möglichkeiten ihrer systematischen SE veranschaulichen sollen, sind teilweise sehr hilfreich, teilweise kaum nachvollziehbar. Bei guter Absicht ist am Ende doch nur ein Aufschlag gemacht, der dringend einer kritischen Selbstevaluation und einer darauf folgenden Optimierung bedarf.
Fazit
Ein erster Versuch aufzuzeigen, wie formatives Assessment als hochgradig wirkfähiges didaktisches Prinzip, gesteuert durch die Lehrperson und verantwortet durch die Lernenden, nicht nur professionell geplant und ausgeführt, sondern auch systematisch selbstevaluiert und verbessert werden kann. Höchst anregend und auch in den Details lohnenswert für Fachleute, die den Ansatz von FA – verstanden als Unterricht gestaltendes Erheben von Lernständen mit Feedback – weiterentwickeln, dies evaluieren und darüber forschen wollen. Weniger geeignet für die Lehrperson, die SE von FA in ihrem Unterrichtsalltag anwenden möchte.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor,
Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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