Barbara Sichtermann: Was Frauen Sex bedeutet
Rezensiert von Marlise Santiago, 23.05.2012
Barbara Sichtermann: Was Frauen Sex bedeutet. Eine Befragung. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2012. 184 Seiten. ISBN 978-3-86099-889-2. D: 17,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,90 sFr.
Thema
Ein mehrdeutiges Sittenbild darüber, was Frauen Sex bedeutet.
Autorin
Barbara Sichtermann ist Sozialwissenschafterin und mehrfach preisgekrönte Autorin von Büchern zu Themen der Frauenpolitik, Leben mit Kindern, Geschlechterbeziehung usw.
Entstehungshintergrund
Per Inserat wurden Frauen zwischen 25 und 60 Jahren gesucht, die über die Bedeutung von Sex in ihrem Leben reden wollen. Zweck: Die Auskünfte sollen dazu benutzt werden, um Fragebögen für eine spätere Repräsentativumfrage des Familienministeriums zu formulieren. Die sieben Frauen der hier vorliegenden ersten Befragungsstaffel wurden jeweils zu drei Interviews getroffen.
So wie ich es aus dem Buch verstanden habe, beobachtet Sichtermann die Interviewerin Maren und protokolliert deren Befragung der Frauen. Sichtermann begleitet Maren aber nicht nur bei den Intensivbefragungen, sondern darüber hinaus auch bis unter die Bettdecke mit deren Lebenspartnerin Lilo.
Aufbau
Die anonymisierten Befragungs-Abschriften wechseln ab mit dem Austausch, den die Befragerin mit ihrer Lebenspartnerin darüber führt. Am Schluss folgt der «Versuch eines Resümees».
Inhalt
Zum Inhalt möchte ich nicht viel sagen, da es sich ja hauptsächlich um Gedanken und Thesen der sieben Frauen handelt. Ich liste hier nur Namen und Alter, sowie jeweils eine Hauptaussage auf.
- Kathrin, 38 – Geschehen lassen. Sex ist nicht planbar, er ist eine Schule des Sich-Abfindens mit den Grenzen der Machbarkeit. Eros raubt den Verstand, die Fassung, die Planungshoheit, den Anstand, die Moral. In unserer Kultur weiss man gar nicht mehr, dass Geschehen-lassen-Können eine Fähigkeit ist. Kathrin spricht mit Goethe: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. So werde Eros verstimmt und trolle sich, wenn zum vornherein klar ist, was zwei voneinander wollen sollten, beispielsweise bei Begegnungen durch Partnerbörsen. Sie weiss: Partner trifft man überall, wo Eros freien Auslauf hat. Im Wartezimmer, an der Bushaltestelle, vor der Ladenkasse.
- Rosemarie, 27 – Sex macht gut. Er macht mich grosszügig und gut, er macht mich zu einem besseren Menschen. Aber es soll nichts überstürzt werden, denn wenn Sex Mittel zum Zweck wird, dann ist er tot, beispielsweise wenn Frauen einen Mann an sich binden wollen, und glauben im Austausch dafür Sex bieten zu müssen. Auch das Gut-Werden durch Sex, könne nicht erzwungen werden. Es geschieht.
- Frau Maxwell, 49 – Der grosse Unruhestifter im Leben. Sex brachte erst mal Unruhe als Nichterfüllung eines unklaren Versprechens, dann erlebte sie als Mittdreissigerin die sexuelle Erweckung durch einen 17 Jährigen, von dem sie gleich schwanger wurde, und dessen Kind sie ihrem Mann unterschob. Dann kehrt die Unruhe zurück, indem sie sich als reife Frau von einem unerreichbaren jungen Kollegen angezogen fühlt.
- Donata, 53 – Das Tier kann nicht gezähmt werden. Donata möchte bei der Befragung keine Beichte ablegen, sondern nur Gedanken vortragen. Sie besteht darauf, dass es ein kardinaler Fehler der Kulturmenschen ist, den Sex an die Ehe zu binden. Das ist ein Zähmungsversuch, eine Zivilisierungsillusion. Die Mär von der ehelichen Treue müsse aus der Welt. Es gibt keinen legitimen und illegitimen, sondern nur befriedigenden oder unbefriedigenden Sex. In der zweiten Sitzung erzählt Donata trotzdem von sich, von ihrer traumatischen Kindheit, dem sich daraus ergebenden promiskutiven Sexualverhalten, von einer Vergewaltigung und der Scham darüber, dass sie dabei einen Orgasmus erlebt hat.
- Loreley, 47 – Sex hat für Frauen nur eine abgeleitete Bedeutung. Er ist eine Brücke zum Mann, die immer funktioniert. Frauen gehen auf dieser Brücke, weil sie den Mann zur Existenzsicherung brauchen. Tatsächlich bräuchten sie ihn heute nicht mehr, aber sie hätten kein anderes Modell des sexuellen Verhaltens zur Verfügung. Sex und gleiche Augenhöhe schliessen sich immer aus. Loreley lebt ihre Sexualität heimlich in Lesbenclubs aus.
- Irene, 26 – Sex ist Empfängnis. Ein Orgasmus ist nur möglich, wenn Irene empfängt oder sich die Empfängnis vorstellt, genauer, wie der Spermakopf in das Ei dringt. Einerseits bezieht sie sich sehr stark darauf, was ihr Mann sagt, und sie richtet sich auch nach dessen sexuellen Phantasien und Spielereien. Andererseits führt sie ein heimliches Eigenleben und legt ihm ein Kuckuckskind ins Nestchen.
- Isabel, 36 – Brunftphasen. Ich stelle in Abrede, dass Menschen immer und zu jeder Zeit sexuell erregbar sind. Wir Menschen sind aus den natürlichen Rhythmen rausgefallen, und sozusagen zum ewigen Vergnügen verdammt. Sie erzählt von einem prägen sexuellen Ereignis – Sex mit drei Männern - das sie als wahre Sternstunde bezeichnet. Und die Gedanken daran, läuten jeweils ihre nächste sexuelle Hoch-Zeit ein.
Im Resümee fasst Sichtermann – oder Maren? – unter anderem zusammen, dass zur Frauensexualität viel Heimlichkeit gehört. «…findet sozusagen in einer Parallelwelt statt, lässt sich nicht in den Alltag oder in die Ehe integrieren und suspendiert unsere gewohnten binär codierten Urteile wie richtig und falsch, gut und böse, schön und hässlich.»
Diskussion
Der Aufbau des Buches gefällt mir gut. Die Reflexionen der Befragerin Maren im Wechsel mit den Berichten der Frauen gibt dem Buch eine Choreografie. Als etwas irritierend empfand ich, dass nicht ersichtlich wurde, welcher Anteil Barbara Sichtermann als Autorin am vorliegenden Buch hat: Schlüpft sie selber in die Rolle der Befragerin Maren, oder protokolliert sie deren Befragung.?
Interessant und spannend finde ich zu lesen, wie wir alle bereit sind, uns unsere eigenen Wahrheiten oder die eigene Moral zurechtzubiegen: So wird aus einer «Ehebrecherin» ein guter Mensch, ein ausserehelich gezeugtes Kind «zum Wohle aller» dem Mann unterschoben, oder aus einer die einen Teenager missbraucht hat, eine sexuell Erweckte. Das Spannendste finde ich, dass es in diesem Buch nicht hauptsächlich um Beichten im Sinne von «mein wahres Leben als Prostituierte» geht, sondern es werden vor allem Gedanken zum Thema formuliert. Es wird auch ersichtlich, dass diese Frauen regelrecht das Bedürfnis hatten, ihre Thesen einmal öffentlich kund zu tun, um damit einiges klar zu stellen.
Mich persönlich hat manchmal die Art der Befragung gestört. Sie zeigt, dass kaum jemand «neutral» ans Thema Sexualität herangehen kann, dass das immer auch von Eigenem mitgeprägt ist. So hätte ich mir beispielsweise für Donata eine mitfühlendere Befragerin gewünscht, die – obwohl eine Befragung natürlich keine Therapie ist – das was bei der zweiten Sitzung aufgebrochen ist, auch hätte auffangen können. Eine Befragerin, die ihr hätte sagen können, dass ein Orgasmus auch ein rein mechanischer Akt sein kann und wenn auch selten, so doch auch bei einer Vergewaltigung vorkommen kann. Dieser Orgasmus hat dann nichts mit sexueller Erfüllung zu tun, er ist einfach eine körperliche Reaktion aufgrund einer (Über) Reizung. Diese muskuläre Entladung kann den Verarbeitungsprozess der Vergewaltigung positiv unterstützen, indem das Vaginalgewebe weniger traumatisiert zurückbleibt. Er ist sozusagen eine Art Selbstheilungsreaktion und somit nichts, wofür sie eine Frau zu schämen braucht! Ein erlebter Orgasmus bei einer Vergewaltigung heisst absolut nicht, dass die vergewaltigte Frau unbewusst mit der Vergewaltigung einverstanden war.
Dieses Beispiel zeigt auch schön, dass das erreichen des Orgasmus als Synonym für guten Sex, hinfällig und masslos überbewertet ist. Denn damit Sexualität auf Dauer wirklich erfüllend ist, sind Körper, Gefühle, Kognition und Spiritualität gleichermassen mitbeteiligt, und es hängt längst nicht von den paar entladenden Zuckungen ab.
Fazit
Ein Buch, das überraschende Aspekte darüber liefert, was den befragten Frauen Sex bedeutet. Gerade weil viele Aspekte, die eher den «Schattenseiten der Sexualität» zugeordnet werden können darin zu Tage kommen, ist es eine wunderbare Anregung zur Eigenreflexion und zum Austausch mit dem Partner oder der Partnerin.
Rezension von
Marlise Santiago
Praxis für Körper, Beziehung, Sexualität
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Es gibt 10 Rezensionen von Marlise Santiago.
Zitiervorschlag
Marlise Santiago. Rezension vom 23.05.2012 zu:
Barbara Sichtermann: Was Frauen Sex bedeutet. Eine Befragung. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2012.
ISBN 978-3-86099-889-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13210.php, Datum des Zugriffs 12.11.2024.
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