Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt [...]
Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 28.06.2012
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Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2012.
332 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2818-8.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 37,90 sFr.
Reihe: Juventa Paperback.
Entstehungshintergrund
Dieser Band ist die schriftliche Fassung von Beiträgen der im Januar 2011 stattgefundenen Tagung „Missachtung und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen Institutionen“.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in 6 große Teile.
- Teil 1 versammelt unter dem Titel Zerstörerische Vorgänge: Der institutionelle Rahmen, soziale Prozesse und psychosoziale Dynamiken einen Beitrag von Wilhelm Heitmeyer zum Sozialen Tod, Frank Neuner charakterisiert Traumatisierung durch Gewalterfahrungen in Institutionen des Aufwachsens und Elisabeth Helming / Marina Mayer zeigen einige ausgewählte Aspekte zum Umgang mit Sexualität auf.
- Teil 2 fasst Erfahrungen von Betroffenen zusammen. Max schreibt über Angst, Liebe, Leben; Rainer Stadler beschreibt die journalistische Spurensuche in seinem Beitrag „Der Schweigepanzer im Kloster Ettal, Holger André analysiert den Fall des Canisius-Kollegs und dem Eckigen Tisch. Christine Bergmann erläutert die Arbeit der Unabhängigen Beauftragten in ihrem Beitrag „Sexueller Missbrauch ist kein Thema der Vergangenheit“ und die Arbeitsgruppe um Jörg Fegert (im einzelnen Jörg Fegert, Miriam Rassenhofer, Thekla Schneider, Lilith König, Alexander Seitz, Hubert Liebhardt, Andrea Kliemann, Nina Spröber) stellen Ergebnisse der Begleitforschung für die telefonische Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten dar.
- Im 3. Teil des Bandes wird die Anfälligkeit pädagogischer Kontexte und Konzepte (für sexuelle Gewalt) thematisiert. Jürgen Oelkers beschreibt „Die Anfälligkeit reformpädagogischer Konzepte“, Micha Brumlik beschäftigt sich in seinem Beitrag mit sexualisierter Gewalt und Beschämung. Der Familie als Ort und Risikostruktur sexualisierter Gewalt widmen sich Fabian Kessl, Meike Hartmann, Martina-Lütke-Harmann und Sabine Reh. Annedore Prengel fasst Erkenntnisse zu Respekt und Missachtung in Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen zusammen, während Veronika Magyar-Haas „Beschämende Vorgänge“ analysiert.
- Im Teil 4 des Buches, betitelt „Historische Einordnungen“, untersucht Michael Kirchner „Sexualisierte und sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Familie und deren Umfeld“, Claus Koch zeigt Sichtweisen zum Kind als Feind und Freund auf. Jan Feddersen stellt in seinem Beitrag die Frage, warum die Schwulenbewegung zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder geschwiegen hat.
- Teil 5 des Bandes zeigt (mögliche) Interventionen, Ansätze und Herausforderungen auf. Jörg Maywald stellt die Gefährdungen junger Kinder in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Thomas Ley und Holger Ziegler zeigen Zusammenhänge zwischen Rollendiffusion und sexuellem Missbrauch auf, Sabine Andresen und Sara Friedemann beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Rechten und Anerkennung im Zusammenhang mit der Ethik pädagogischer Institutionen. Gabriele Gawlich zeigt in ihrem Beitrag die Herausforderungen der Interessenvertretung auf.
- Teil 6 mit dem Titel „Die öffentliche Debatte“ umfasst den Beitrag von Michael Behnisch und Lotte Rose zu Frontlinien und Ausblendungen in der Mediendebatte um Missbrauch in gesellschaftlichen Institutionen 2010.
Ausgewählte Inhalte
Wilhelm Heitmeyer beschäftigt sich in seinem Beitrag zum Sozialen Tod mit der im Untertitel angezeigten sexuellen Gewalt in Institutionen und da insbesondere mit den Mechanismen und dem System. In seinem Beitrag werden anfangs interdisziplinäre Forschungsfragen dargestellt, die in nachfolgenden Abschnitten beantwortet werden. Er verortet die Fragen und Antworten in einem analytischen Framing, d.h. er analysiert Handlungsmuster, Normen, Prozesse und Rollen. Im Abschnitt zur Gewalt werden psychische und physische Gewaltformen (im Fall sexueller Gewalt als Zusammenfall beider Gewaltformen) unterschieden und zusammengeführt als sozialer Tod im Sinne von Isolation, Kontaktverlust, Selbstwertverlust etc. als Erscheinungsformen von Effekten eben dieser Gewalt. Diese Machtdemonstration als Gewalt richtet sich asymmetrischen sozialen Konstellationen (wie sie in pädagogischen Institutionen per se gegeben ist) gegen „basale Rechte von Menschen“(S. 25). Im Bereich der Institutionen verweist Heitmeyer auf verschiedene Prozesse, (ohne sie jedoch genauer auszuführen), durch welche die Methoden des Handelns im System der Machtausübung und Vertuschungstaktiken entstehen können. Er beendet diesen Abschnitt mit Fragen zur Rolle der elitären Überlegenheit des Konzeptes in privaten Schulen, Fragen zur religiös motivierten Ausrufung der Heiligkeit von Priestern etc. Im Abschnitt zu den Prozessen (der den größten Abschnitt darstellt) werden Mechanismen der Deutungs-und Machtkämpfe dargestellt, z.B. menschenfeindliche Normalitätsstandards mit dem sich daraus (und dadurch) entwickelnden Schweigepanzer. Mechthild Wolff charakterisiert diesen Schweigepanzer zutreffend als Kartelle des Schweigens. Wilhelm Heitmeyer fragt zudem nach dem Umgang mit Konflikten und Konfliktfähigkeit, mithin nach der Rolle der Akteure im System: „Denn konfliktunfähige Lehrerinnen und Lehrer, Priester, Trainer oder Erzieher und Erzieherinnen tragen zum Schweigepanzer, also zulasten der Opfer bei. Etwa dadurch, dass das vieldiskutierte Verhältnis von Nähe und Distanz eingeebnet wird…“ (S. 29). Institutionelle Schweigepanzer entstehen, so Heitmeyers Analyse, durch reale Schutzbedürfnisse von Opfern, durch Inszenierungen von Tätern als Opfer und durch das Wegsehen von Angehörigen der Institution. Analytisch sind die realen Schutzbedürfnisse der Opfer noch klarer zu fassen: Heitmeyer geht exemplarisch auf Jungen ein, behandelt sie aber als heterogene Gruppe sehr homogen: eine stärkere Beachtung der intersektionalen Zugehörigkeit (u.a. Alter, sexuelle Orientierung etc.) wäre hier wohl angebracht gewesen. Unter institutionelle Schutzmechanismen für Täter werden verschiedene Strategien zusammengefasst, die in ihrer Wirkungsweise noch genauer zu untersuchen sind, so z.B. Versetzung und Wiedereinsetzung, Überidentifikation mit der Institution und geplante Kontrolllosigkeit. Nicht erwähnt (und damit wohl auch de- und athematisiert) werden weibliche Tatbegehende. Heitmeyer kritisiert im 7. Abschnitt Verarbeitungsformen in den Institutionen mit ihren Täten gegenüber Opfern und Öffentlichkeit die mangelnde Bereitschaft zur Offenlegung, z.B. durch Öffnung der Archive. er weist auf Defizite in der öffentlichen Interaktion zwischen Verantwortlichen der Institutionen und Opfern hin, da viele Institutionen eher auf Abwehr und ausgerichtet sind, der Strategie „Blame the victim“ (erfolgreich) folgen und systematische Vertuschungen erfolgen. Heitmeyer beantwortet die Frage, warum die Debatte (um sexuelle Gewalt) seit 2010 aufbricht, mit mehreren Hinweisen, u.a. durch das (damals) jugendliche Alter der Opfer, die Zeit für Verarbeitung brauchen, durch die (damalige) Deutungshoheit der Tatbegehenden, durch eine vermutete Erosion von Autoritäten, warnt aber zugleich vor neuen Ambivalenzen. Damit sieht er insbesondere Gefahren durch die jederzeit mögliche Bereitstellung von Informationen durch das Internet, auch wenn er die Vorteile nicht unbeleuchtet lässt. Im letzten Abschnitt werden vor allem weiterführende Fragen gestellt zur Lernfähigkeit von Institutionen, zum effektiven Strafdruck wie auch zur Erhöhung der Konfliktfähigkeit.
Christine Bergmann beschreibt in ihrem Beitrag „sexueller Missbrauch ist kein Thema der Vergangenheit“ die auch im Untertitel so angedeuteten Erfahrungen und Erlebnisse nach eineinhalb Jahren Aufarbeitung als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie beschreibt dabei die Arbeit der Anlaufstelle. Insbesondere die Auswertung der Anrufe und Briefe in der Anlaufstelle führte zur dauerhaften Installation der telefonischen Anlaufstelle. Die Kampagne „Sprechen hilft“ und dem Plakatmotto „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter“ war von September 2010 bis Januar 2011 in Print-und TV-Medien geschaltet. Bergmann legt im Abschnitt „Besonders häufig Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen“ Zahlen vor: die Berichte in der telefonischen Anlaufstelle betrafen zu 56,5 % sexuelle Gewalterfahrungen in der Familie, 29,3% solche in Institutionen; 8,4% im sozialen Umfeld und 5,7% durch fremde Tatbegehende. Bei den Institutionen ist zu knapp einem Drittel (29%) am meisten die katholische Kirche vertreten. Zugleich wurden während der Arbeit des Runden Tisches auch Betroffene gehört und zur Teilnahme eingeladen (wenngleich eine sofortige Einladung von Betroffenen und Betroffenen-Initiativen bei Arbeitsaufnahme angemessen gewesen wäre). Zudem wurden wissenschaftliche Expertisen und Erhebungen in Auftrag gegeben: das DJI mit dem Forschungsprojekt „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“ erbrachte folgende Ergebnisse: aus der Institutionenbefragung ergab sich, dass insbesondere Heime besonders häufig von Verdachtsfällen auf sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche betroffen sind. Darin wurden sowohl Verdachtsfälle durch an der Einrichtung Beschäftigte als auch durch Personen außerhalb der Einrichtung erfasst. Ebenfalls wurden Verdachtsfälle auf sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche erfasst.
Als Fazit kommt Bergmann zu dem Schluss: „Die verschiedenen Aufarbeitungsmaßnahmen verdeutlichen übereinstimmend, dass Handlungsbedarf vor allem in den Bereichen Therapie und Beratung, Verjährung, Anerkennung, Aufklärung und Prävention besteht…“ (S. 105). Im Anschluss kommt sie zu Empfehlungen für immaterielle und materielle Hilfen:
- ein gemeinsames Hilfesystem für verjährte Fälle aus Institutionen und Familien
- Selbstverpflichtung der Institutionen zur wirksamen Strafverfolgung und präventiver Maßnahmen (z.B. Schaffung von Anlaufstellen für Kinder)
- Einrichtung einer unabhängigen Nachfolgestelle und eine Online-Hilfeportals zu diesem Thema
- weitere Unterstützung der Vernetzung der Betroffenen.
Bergmann zieht als Bilanz ihrer Arbeit den Schluss: „Was nun folgen muss, ist die systematische und konsequente Aufarbeitung der Thematik und der Fälle in den Einrichtungen selbst sowie die Einführung von Mindeststandards in allen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten“ (s. 109-110).
Jan Feddersen setzt sich in seinem Beitrag “Schlüssel zu einer besseren Welt“ mit der Schwulenbewegung und ihrem Schweigen zum sexuellen Kindesmissbrauch auseinander. Er zeichnet anhand historischer Begebenheiten die „… bizarre Weichheit…“ (s. 245) der Schwulenbewegung in Wissenschaft und Politik nach, kritisiert diese aber gleichwohl als naive Einstellung. So wird auf mehrere (bekennende), linksorientierte publizierende Pädosexuelle verwiesen, die intergenerationelle Sexualität einforderten und mit dieser Forderung öffentlich unterstützt wurden. Damit wird auf die Zirkelschlüsse abgehoben, mit denen pädosexuelle Homosexuelle ihre Taten rechtfertigten: „Sexualität, einvernehmliche, zärtliche, galt als Schlüssel zu einer besseren Welt, zu einer, so lauten einschlägige Chiffren, Menschlichkeit ohne neurotischen Panzer. Kinder und Jugendliche galten als Objekte der Befreiung aus den Fängen einer irgendwie noch nationalsozialistisch nachwirkenden Gewaltpädagogik“ (S. 246). Feddersen umreißt die diskursive Matrix, mit der die Akzeptanz der Pädosexualität rechtfertigt wurde, als Niemöllersche Logik: keine, nicht die geringste Minderheit darf aus der Solidarität der Entrechteten (bezogen wird sich hier auf § 175 StGB) herausfallen, sonst droht die Verfolgung aller. Dieses Solidaritätsgebot (Feddersen bezeichnet das als „Notstand der Solidaritätsgebote, S. 249) verwischt alle Grenzen zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität, was gleichzeitig einen blinden Fleck der Schwulenbewegung impliziert, so Feddersen. Er übt deutliche Kritik am Schweigen, wenn er ausführt, dass „… es in der Schwulenbewegung auch leicht [war], Pädosexualität für irgendwie auch unterdrückt und befreienswert zu halten. In einer Gesellschaft, die Prügeln und Züchtigen und Einsperren für legitime Mittel der Auseinandersetzung, ja, vor allem der Erziehung und des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen hielt, durfte der Blick auf das Pädosexuelle wenigstens getrübt bleiben“ (S. 250). So berechtigt die Sorgen der Schwulenbewegung vor (erneuter) Diskriminierung auch gewesen sind, ihr Schweigen seit den 1990er Jahren zur medial immer wieder aufflackernden Missbrauchsdebatte fällt auf; dies umso mehr, als die Perspektive der Betroffenen fehlt. Gleichzeitig wird das (mediale) Fehlen einer kritischen Auseinandersetzung mit weiblicher Pädosexualität nicht thematisiert.
Diskussion
Der Tagungsband „Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen“ versammelt viele Beiträge zur Wirkung, Auswirkung, Ursache und möglichen Interventionen bezüglich sexueller Gewalt an Kindern in pädagogischen Institutionen. Die Beiträge sind sehr informativ, gut aufbereitet und stringent dargestellt; allerdings ist auffällig, dass eine Auseinandersetzung mit Fehlformen des Engagements gegen sexuelle Gewalt nicht stattfindet. Inwieweit Fehlformen ihrerseits zerstörerische Vorgänge darstellen, bleibt somit ein Forschungsdesiderat. Ebenfalls nicht untersucht oder jedenfalls unerwähnt bleiben sexuelle Gewalttäten weiblicher Tatbegehender.
Fazit
Das Buch informiert umfassend und gründlich zu vielen Aspekten sexueller Gewalt und beleuchtet Entstehungsbedingungen, förderliche Bedingungen zur Aufrechterhaltung der zerstörerischen Vorgänge und Widerstände bei der Aufdeckung. Insbesondere die in vielen Beiträgen deutlichen Fragen für weitergehende Beschäftigung und die angedeuteten Forschungsdesiderata zeigen konsistente Erkenntnisgewinne auf.
Rezension von
Dr. Miriam Damrow
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