Hannes Hinnen, Paul Krummenacher: Großgruppen-Interventionen
Rezensiert von Dr. Michaela Schumacher, 29.11.2012
Hannes Hinnen, Paul Krummenacher: Großgruppen-Interventionen. Konflikte klären – Veränderungen anstoßen – Betroffene einbeziehen.
Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
(Stuttgart) 2012.
264 Seiten.
ISBN 978-3-7910-3162-0.
D: 49,95 EUR,
A: 51,40 EUR,
CH: 67,00 sFr.
Reihe: Systemisches Management.
Autoren und ihr Hintergrund
Hannes Hinnen ist Diplom-Kaufmann mit Zusatzausbildungen in den Bereichen Marketing, Kommunikation und Unternehmensführung. In der Marketing und Werbebranche arbeitete er sowohl als Berater als auch in Geschäftsleitungen. Er ist seit 1998 selbständig und gründete 2000 gemeinsam mit Hanna Hinnen und Paul Krummenacher die „frischer wind ag“.
Paul Krummenacher ist Sozialwissenschaftler und Politologe. 10 Jahre arbeitete er als interner Berater eines schweizerischen Großunternehmens, zuletzt als Leiter der konzernweiten Management- und Organisationsentwicklung. 2000 gründete er gemeinsam mit Hannes und Hanna Hinnen die „frischer wind ag“.
Zielgruppen
Das Buch wendet sich an interne und externe Organisationsentwickler, die sich über Großgruppen-Interventionen informieren wollen oder ihr Wissen auffrischen und vertiefen wollen.
Aufbau
Das Buch hat vier Thementeile -
- Staunen,
- Wissen,
- Machen,
- Standhalten -
mit jeweils mehreren Unterkapiteln, eingerahmt von einem Prolog, einem Dank und einer Einführung zu Beginn und einem Literaturverzeichnis, einem Stichwortverzeichnis und Kurzportraits der Autoren am Ende.
Ziel des Buches ist es die Big Five der Großgruppen-Intervention differenziert darzustellen und an eigenen Erfahrungen, Erkenntnissen und Modifizierungen teilhaben zu lassen.
Teil A: Staunen
(S.1-38)Beschrieben werden all die Ereignisse/Phänomene, die sich in Entwicklungs-/Klärungsprozessen immer wieder ereignen, ohne dass jemand wissenschaftlich exakt begründen kann, „weshalb sie so passieren, wie sie es tun“. Aufgeführt und inhaltlich gefüllt werden:
- Großgruppen-Interventionen sind Ausnahmezustände. Das erzeugt in Systemen eine gesteigerte Aufmerksamkeit aufgrund der Frage, was denn so wichtig ist/sein könnte, dass so viele Personen/Bereiche der Organisation beteiligt werden sollen/müssen. Geplant werden sie von einer internen, diversen Gruppe und externen Beratern.
- Großgruppen-Interventionen als partizipative Prozesse weiten durch die gezielte Durchmischung der Teilnehmenden und ihr „gesteuertes“ Miteinander die Wahrnehmungs-, Denk- und Lösungshorizonte, öffnen den Blick für das Gesamtsystem und verringern das Bereichsdenken.
- Das erforderliche Wissen ist durch die Teilnehmenden präsent und kommt in den Austausch. Korrespondierende Strukturformate, Orientierungsakzente – Lösungen statt Probleme, Ressourcen statt Defizite – eine temporäre Rollen-Enthierarchisierung fördern sowohl den Austausch als auch neue Vernetzungen. Die Gruppe selber fokussiert die Komplexität, ohne zu vereinfachen und die gemeinsam gefundenen Lösungen sind seltenst Kompromisse, sondern neue, bis dato unbekannte Lösungen.
- „Ohne die Systemspitze geht nichts – oder die Systemspitze geht!“ Sie muss den Auftrag kennen, ihn verantwortlich mittragen, das briefing durchführen, an der Großgruppen-Intervention teilnehmen und in dieser Orientierung geben, sich partizipativ verhalten, Impulse geben und annehmen.
- Betroffene zu beteiligen bedeutet die Weisheit der Vielen zu nutzen. Jede/jeder setzt sich mit allen Aspekten auseinander, kann durch eigene Beiträge eine Spur hinterlassen, wird gehört, kann sich mit dem Prozess identifizieren, seine Folgen antizipieren und all das in einem definierten Rahmen.
- Großgruppen zwingen zur und ermöglichen Selbstreflexion von sich im Vergleich zu Anderen, zu den Subsystemen und zum Gesamtsystem. Sie liefern neue, bedenkenswerte und zu berücksichtigende Ideen, fordern heraus, sich mit eigenen Positionen im Kontext mit anderen aus-ein-ander zu setzen, Tabus aufzudecken und erweitern die Offenheit und Ehrlichkeit. Wechselseitiges verstanden-werden-wollen lässt die Vielheit und Andersartigkeit gegenseitig akzeptieren.
- Lösungsvielfalt ist der Nährboden für gemeinsam entwickelte Konzepte. Der Ideenpool ist groß und in jedem Prozessschritt fokussiert die Gruppe auf das jeweils Wichtigste, d.h. Teilnehmende müssen ihre Ideen mehrheitstauglich machen.
- Die Freiheit, eine Meinung zu haben, schenkt Freiheit, die eigene Meinung weiter zu entwickeln. Gefördert wird dies durch den Wechsel der Gruppenzusammensetzungen. Diese fordern und fördern ein Aufeinanderhören, ein Voneinanderlernen, das sich untereinander Vernetzen und wecken die Mitverantwortung der Kleingruppenteilnehmenden zu vermitteln, zu relativieren, zu ergänzen etc.
- „Zum Glück braucht es Krisen“. Krisen gehören zu Großgruppeninterventionen wie das Salz in die Suppe. Intendiert ist Veränderung und das bedeutet für Einzelne und das System durch Durchschreiten des Status quo, der Leugnung/Verzweiflung und der Irritation/Konfusion/Verwirrung das Neue zu generieren.
- Visionen sind kaum zu verhindern. Der Vereinbarung konkreter Inhalte und Schritte voraus geht die Ausrichtung aller auf einen möglichen Konsens, eine gemeinsame positive Idee.
- Großgruppenprozesse bringen die Dinge auf den Punkt. Priorisierung geschieht durch Sammeln, Transparenz herstellen und Gewichten. Sie sorgt für Orientierung und Annäherung in der Unterschiedlichkeit der Menschen/Ansichten/Sichtweisen. Vernunft und Weitsicht greifen Platz und zugleich ist jede/jeder ein Teil des Entscheidungsprozesses.
- Große Gruppen gehen auch komplexe Konflikte an. Das Vertrauen in die Weisheit der Vielen wirkt deeskalierend, weicht festgefahrene oder vorgeformte Meinungen auf, wodurch der Weg von den Partikularinteressen frei wird für die Gesamtinteressen.
- Ein verantwortungsbewusstes Wir ist das Resultat des gemeinsamen Prozesses. Großgruppeninterventionen schaffen eine gemeinsame Sicht auf ein gemeinsam entwickeltes Konzept/Fundament. Das gemeinsame Denken, Gewichten, Planen und Ausrichten an einer neuen gemeinsamen Wirklichkeit ist Sach- und Wir-fördernd
Teil B: Wissen
(S.39-72)Zunächst beschreiben die Autoren die Quellen der Großgruppenarbeit und der Mediation und ihre gemeinsame Entwicklungsgeschichte und arbeiten folgende Gemeinsamkeiten heraus:
- das Selbstreflexionspotential der Betroffenen/der Großgruppe aktivieren und nutzen
- Betroffene zu Beteiligten machen, in direkter Kommunikation und Aktion das technische und soziale System verknüpft weiter entwickeln
- gemeinsame Ressourcen- und Prozessorientierung und Kontextklärung
- das ganze System arbeitet gemeinsam am ganzen System
- alle Komponenten des Systems sind Thema, nicht nur die Beziehungsdynamik
- ein strukturierter Prozess mit Begleitung
- nicht nur Individuen, sondern auch Systeme verfügen über das Potential sich selber zu begreifen, zu verstehen und zu verändern.
- Prinzipien der Ergebnisoffenheit, der Inhaltsverantwortung – Auftraggeber und Beteiligte-, Prozessverantwortung – Prozessbegleitung –, Prozessorientierung, des Action Learning, der Lösungs- und Zukunftsorientierung
- Arbeit in sich selbstorganisierenden Kleingruppen aufgrund des Vertrauens der Prozessbegleiter in die Kompetenz der Großgruppe, das Wissen und Können der Vielen.
Danach stellen sie zentrale Bausteine der Großgruppenintervention vor.
Partizipation. Notwendig für Großgruppeninterventionen ist eine Partizipative Führung, d.h. die von einer Entscheidung Betroffenen sind/werden im Entscheidungsfindungs- bzw. Lösungsfindungsprozess beteiligt, um das vorhandene Wissen und Potential aller bestmöglichst zu nutzen. Entscheiden tun die dafür im System eingesetzten Instanzen.
Weisheit der Vielen. Je heterogener die Großgruppe ist, desto klüger. Es wird ein Gruppengedächtnis aufgebaut und Lösungen in der Gruppe gefunden. Die Gruppe entscheidet in der Regel effizienter und intelligenter als die klügste Einzelperson.
Konsens statt Kompromiss
- Großgruppen weichen Fronten auf, verflüssigen Grenzen und schaffen eine gemeinsame Grundlage
- die Vielzahl der Sichtweisen fordert heraus, die eigene Sicht zu überdenken, zu relativieren oder zu modifizieren durch Wissenszuwachs
- die Anreicherung der Perspektiven und des Wissens lösen Konfusion aus, was dazu führt Lösungen/Entscheidungen zu suchen/zu finden, die eine neue gemeinsame Situation schaffen
- viele kleine Konsense konstituieren durch das gemeinsam erarbeitete Neue eine gemeinsame Basis
- Konsense bedeuten, Bisheriges loslassen, es zur Verfügung stellen und miteinander einen neuen Standpunkt entwickeln.
Würdigung von Sinnlichkeit und Emotionalität. Emotionen, Empfindungen und Sinnlichkeit sind in jeder menschlichen Auseinandersetzung präsent. Sie wollen und müssen ernstgenommen und gewürdigt werden. In Großgruppen geschieht dies intensiv in den Phasen der Leugnung/Verunsicherung.
Teil C: Machen
(S.73-192) Die Big Five der Großgruppen Interventionen -
- Zukunftskonferenz,
- Real Time Strategie Change,
- Open Space,
- World Café,
- Appriciative Inquiry Konferenz (AIK) –
werden in ihrer originären Form – Herkunft, Grundmodell, methodische Schritte/Phasen – und mit Modifikationen, Musterbeispielen vorgestellt und gewürdigt. Kurz erläutern die Autoren drei weitere Interventionswerkzeuge – Soziometrischen Aufstellungen, Themenzentrierte und Dezentrierte Intervention –, die sie öfters innerhalb der Big Five einsetzen.
Ausdrücklich erklären sie, dass sich jede der Methoden für alle Fragestellungen eigne, die Auswahl würde bestimmt durch die Zielsetzung, die zur Verfügung gestellte Zeit und den Zeitpunkt im Gesamtprozess.
Für die Prozessbegleiter von Großgruppeninterventionen ist eine mentale Landkarte zum Einschätzen und Verstehen des Anwendungsfeldes, des zu begleitenden Systems – Strategie, Kultur und Struktur –, z.B. mittels des St. Galler Management Modells oder des Systemischen Integrationsmanagement (SIM). Für die vier Felder – Zukunftsorientierung, Strategie-, Kultur- und Strukturentwicklung – werden methodische Hinweise gegeben und zugleich ausdrücklich betont, dass Methoden immer den Zielen, Ressourcen, Prozessbeteiligten und Inhalten nachgeordnet sind / sein müssen.
Prozessarchitektur
Für die Big Five werden jeweils die Vorbereitungs-/Nachbereitungsbedarfe und exemplarisch ein Verlaufsschema für einen Gesamtprozess mit seinen Phasen und Inhalten erläutert. Für längere Großgruppenprozesse werden 3 Phasenkonzepte vorgelegt – The Conference Modell (Axelrod), Whole-Scale Change (Dannenmitter) und ein eigenes mit Vorprozess, Hauptkonferenz, Follow ups, Ergebniskonferenz.
Unter „Verhandlungsdesign“ bearbeiten die Autoren sowohl die Zusammenhänge von Struktur, Choreographie, Raumgestaltung und Gruppengröße als auch Verfahren der Verdichtung und der Priorisierung.
Unter „Repräsentanz und Rollen“ beschäftigen sie sich zum einen mit der Rollenverteilung in der Vorbereitungsphase – Systemspitze, Projektleitung, Projektgruppe, Projektbegleitung, Spurgruppe und Teilnehmende – Systemangehörige, Kunden/Lieferanten, Experten – und skizzieren ihre Bedeutung aufgrund ihrer Funktion, Zusammensetzung und Aufgaben.
Teil D: Standhalten
(193-205) Dieser Teil widmet sich der Prozessbegleitung anhand der drei Schlüsselworte Grenzen, Demut und Vertrauen.
- Unter „Grenzen“ werden 11 Wenn-Beispiele für Grenzerfahrungen beschrieben. Diese „wenns“ sind auch als Prüfkriterien bei der Auftragsklärung nutzbar.
- unter Demut erläutern die Autoren, dass Prozessbegleiter ausschließlich Prozessverantwortung niemals Inhalts-, Lösungs- oder Ergebnisverantwortung übernehmen. Sie dienen dem Gesamtsystem mit all seinen Subsystemen, ohne zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Die Demut liegt darin, das System mit dem Blick der Ganzheitlichkeit und Allparteilichkeit wahrzunehmen, um das Vorhandene hervorzulocken und zu vernetzen, so dass es die Lösungen aus sich generiert.
- ohne Vertrauen geht gar nichts. Zwei Vertrauenskomplexe begegnen sich und interagieren miteinander: das Vertrauen der Prozessbegleitung in sich selbst und die eigene Methodenkompetenz, in den Prozess, die Teilnehmenden, das System und seine Selbstorganisationskompetenz und das Vertrauen der Teilnehmenden in sich als Gruppe, die eigenen Energien und Fähigkeiten zur aktiven, mitverantwortlichen Zukunftsgestaltung und in die Prozessbegleitung. Beide Ressourcen geben den Klärungs- und Entwicklungsprozessen Stabilität und Kraft.
Der Anhang liefert Modelldrehbücher
- für Zukunftskonferenzen (2),
- für RTSC-Konferenzen (6),
- für AI (1),
- für Open Space (2),
- für World Café (3) und einen Großprozess, in dem sowohl mit dem World Cafe, dem RTSC als auch Open Space gearbeitet wurde und eine CD mit einem dokumentierten Prozess.
Fazit
Das Buch ist klar strukturiert, gut gegliedert und bietet einen guten Ein- und Überblick über Großgruppen-Interventionen. Die langjährige Erfahrungen der Autoren zeigt sich in den vielfältigen Fallvignetten, die nicht nur das Buch verlebendigen, sondern auch das Herzeblut der Autoren durchschimmern lassen. Beides qualifiziert das Buch zusätzlich.
Das Buch ist lesens-wert, weil es in einer eingängigen Sprache geschrieben Hochkomplexes verständlich macht und zugleich sich einer Rezeptologie verweigert und sehr deutlich macht, dass die Haltung der Begleiter das Gelingen der methodischen Ansätze maßgeblich mitbestimmt.
Rezension von
Dr. Michaela Schumacher
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Zitiervorschlag
Michaela Schumacher. Rezension vom 29.11.2012 zu:
Hannes Hinnen, Paul Krummenacher: Großgruppen-Interventionen. Konflikte klären – Veränderungen anstoßen – Betroffene einbeziehen. Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
(Stuttgart) 2012.
ISBN 978-3-7910-3162-0.
Reihe: Systemisches Management.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13232.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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