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Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers

Rezensiert von Matthias Meitzler, 23.05.2012

Cover Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers ISBN 978-3-8376-1758-0

Udo Gerheim: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie. transcript (Bielefeld) 2012. 329 Seiten. ISBN 978-3-8376-1758-0. 29,80 EUR.
Reihe: Gender studies.

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Thema

Gemeinhin gilt das soziale Feld der Prostitution als ein undurchschaubares, zwielichtiges, „mystifiziertes“ Terrain, welches sich der öffentlichen Sichtbarkeit – seiner langen, kulturübergreifenden Tradition zum Trotz – weitgehend entzieht. Obschon sich zuletzt wachsende Toleranz, sukzessive Liberalisierung und Legalisierung verzeichnen ließen, sind prostitutive Handlungspraxen in weiten Teilen der Gesellschaft noch immer sozial geächtet, weshalb die meisten Prostituierten und ihre Kunden ein begründetes Interesse an der Verborgenheit ihres Agierens haben. Erst seit jüngerer Zeit steht das Thema nicht mehr nur im journalistischen, sondern auch verstärkt im sozialwissenschaftlichen Fokus. Während sich die meisten Studien vordergründig mit der Angebotsseite befassen, fristet der Prostitutionskunde, wenngleich essentieller und unverzichtbarer Bestandteil des Tauschgeschäfts „Sex gegen Geld“, bislang noch ein auffälliges Schattendasein. Abgesehen von wenigen, inzwischen teils antiquierten Ausnahmen besteht ein Mangel an (empirischen) Untersuchungen zur prostitutiven Nachfrage. Letzterer nimmt sich das Buch, verstanden als „Beitrag kritischer Wissenschaft“ (10), an, indem sein Autor nicht nur über Freier und deren habituell geprägte Interessen für den Kauf von weiblicher Sexualität schreibt, sondern diese auch selbst zu Wort kommen lässt.

Autor und Entstehungshintergrund

Udo Gerheim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungs- und Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit Sexualwissenschaft, Gesellschaftstheorie und Methoden qualitativer Sozialforschung. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um seine Dissertationsschrift, die 2010 an der Universität Bremen vorgelegt wurde.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst insgesamt etwas mehr als 300 Seiten und ist in sieben Kapitel gegliedert. Auch wenn innerhalb der prostitutiven Intimkommunikation prinzipiell verschiedene Geschlechtskonstellationen möglich sind, widmet sich die Untersuchung jenem idealtypischen und empirisch häufigsten Setting zu, in dem ein Mann das sexuelle Handlungsangebot einer Frau wahrnimmt. Gegenwärtig fehlen wissenschaftlich gesicherte Daten über die absolute und relative Anzahl von Sexarbeiterinnen bzw. Freiern in der Bundesrepublik. Diesbezügliche Schätzungen variieren mitunter sehr stark. Aufgrund der mangelhaften Basis bereits bestehender (quantitativer und qualitativer) Vorstudien, betrachtet der Autor seine Arbeit „als explorative Grundlagenforschung für weiterführende […] Forschungsvorhaben in Bezug auf die Untersuchung der männlichen Nachfrage nach Prostitution sowie der gesellschaftlichen Organisation von Sexualität“ (7f.).

Nach einer knappen Zusammentragung des aktuellen Forschungsstandes geht es an die Ergründung des Umstandes, weshalb die männliche Nachfrageseite bei der ohnehin lange Zeit zurückhaltenden wissenschaftlichen Thematisierung von Prostitution bislang vergleichsweise wenig Beachtung fand. Es wird hierbei ein historischer Rückblick unternommen, der bis ins 18. Jahrhundert reicht. Zentrale Themen wie Geschlecht, Sexualität, Prostitution und damit zusammenhängende Machtverhältnisse werden aus je unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und anhand des sozialen Wandels unter die Lupe genommen, wobei verschiedene Diskurse (z. B. Geschlechter-, Hygiene- und Gesundheitsdiskurs, Prostitution als Arbeit, als defizitäre Sexualform, als patriachales Gewaltphänomen mit dem Freier als Täter etc.) tangiert werden.

Den thematischen Schwerpunkt des Buches kündigt bereits sein Klappentext in lakonischer Knappheit an: „Warum kaufen Männer Sex?“ Es geht also, ganz allgemein gesprochen, um die Herleitung und Erforschung grundlegender Motive für die männliche Nachfrage nach käuflicher weiblicher Sexualität.

  • Aus welchen Gründen werden aus manchen Männern Prostitutionskunden, während andere diese Option kategorisch ablehnen, weil sie etwa mit ihren Vorstellungen von „Männlichkeit“ und/oder „Normalität“ nicht zu vereinbaren ist?
  • Weshalb ist, gemessen an der männlichen Gesamtpopulation, nur ein relativ kleiner Teil dauerhaft Freier, während für andere der sexuelle Kontakt mit einer Prostituierten oft ein einmaliges exklusives Ereignis in der männlichen Sexualbiografie bleibt?
  • Welches sind die signifikanten Dispositionen, Strukturen und Rahmenbedingungen, die den Eintritt in das soziale Feld der Prostitution begünstigen – oder aber behindern?
  • Wie wird der Prostitutionsbesuch, von dessen ambivalenter, zumeist jedoch negativer sozialer Bewertung sie ein habituell verankertes Verständnis haben, von den Freiern legitimiert und somit in den Kanon ihrer lebensweltlichen Handlungspraxen integriert?

In seiner Analyse unterscheidet der Autor zwischen dem ersten und häufig einzigen Prostitutionskontakt – der „Prozess des initialen Feldeinstiegs“ (11) wird sequenzanalytisch untersucht – und dem Verbleib im Feld durch die fortdauernde Nachfrage. Dementsprechend ist auch zwischen unterschiedlichen Beweggründen (u. a.: sexuell, sozial, psychisch) zu differenzieren.

Die Untersuchung erfolgt jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern erhält eine „habitustheoretische Rahmung“ (267), die an Pierre Bourdieu und die durch ihn geprägte Terminologie angelehnt ist. „Feld“ und „Habitus“ stellen sich als zentrale Schlüsselbegriffe heraus, auf die der Autor während der gesamten Arbeit immer wieder zurückgreift. Für die Frage, wie Männer zu Prostitutionskunden werden, „wie sich (geschlechts-)habituelle Strukturen der Probanden mit den konkreten Feldebenen sinnhaft kurzgeschlossen und eine strategisch erfolgreiche soziale Praxis hervorgebracht haben“ (187) gilt es also, beide Termini zusammenzuführen. Das Feld der Prostitution, mit seinen Inklusionsbedingungen, milieutypischen Eigenheiten, immanenten „Gesetzen“, Handlungsroutinen, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, wird genauso beleuchtet wie „klassen- und geschlechtsspezifische habituelle Dispositionsmuster“ (268) der Kunden, die ein Interesse am Feldeinstieg und der fortwährenden Frequentierung generieren. Der Autor folgt einer sozialkonstruktivistischen Prämisse, denn schließlich ist das Feld ist nicht einfach „da“, sondern es entsteht im Zuge sozialer Mechanismen und Prozesse.

Das methodische Vorgehen besteht u. a. aus Ethnografie, (nicht-)teilnehmender Beobachtung in unterschiedlichen Prostitutionsetablissements und medialer Rezeption wie etwa die Analyse von Internetseiten (v. a. so genannte Freierforen). Das Herzstück aber bilden 20 leitfadengestützte Tiefeninterviews mit heterosexuellen Freiern, ergänzt um fünf weitere Befragungen von Prostituierten (SM-Studio, Appartement, Drogenprostitution, Callboy für Männer). Ausgewählte, für die Forschungsfrage besonders signifikante Passagen werden im Buch häufig zitiert. Bis auf eine Ausnahme sind alle Befragten zum Zeitpunkt des Gesprächs im Feld „aktiv bzw. potenziell aktiv“ (57).

Diskussion

Zweifelsohne hält der Leser ein Buch in seinen Händen, das insbesondere durch seinen Umfang beeindruckt. Denn thematisch leistet es weitaus mehr, als man angesichts des Titels zunächst annehmen könnte. Es befasst sich nicht nur mit dem Freier als sozialem Akteur, sondern es werden noch weitere soziologische Dimensionen der Sexualität aufgedeckt und reflektiert. Zahlreiche Diskurse rund um den Wandel sozialer Vorstellungen von weiblicher und männlicher Sexualität werden gestreift und die gängigen Vorurteile gegenüber der Prostitution aufgespürt und hinterfragt. Zudem spielen sich die Ausführungen auf einem anspruchsvollen Niveau ab, was nicht zuletzt an der sprachlichen Eloquenz des Autors liegt.

Anders gewendet könnte man indes entgegenhalten, dass sich das Lesen mancher Darbietungen eher langatmig gestaltet und der Bogen mitunter als zu weit gespannt anmutet. Dafür fällt die Auseinandersetzung mit zwei Begriffen, die im Titel des Buches enthalten sind, überraschend knapp aus: Produktion und Macht. Zwar lässt sich deren Relevanz für den Forschungsgegenstand beim Lesen der einzelnen Kapitel erahnen – Abschnitte, die sich ganz allgemein (unabhängig vom Prostitutionskontext) mit beiden Termini beschäftigen und sie definieren, sucht der Leser allerdings vergebens. An ihrer Stelle wird, wie oben erwähnt, anderen Begrifflichkeiten höhere Aufmerksamkeit geschenkt.

Auch eine differenziertere Definition des Freierbegriffs wäre durchaus aufschlussreich gewesen. Für den Kontext der Arbeit greift die „alltagswissenschaftliche“ Betrachtung eines Freiers als Person, die Sex gegen Bezahlung hat, jedenfalls zu kurz. Ganz banal gefragt: Ab wann ist ein Freier ein Freier? Bereits beim Betreten eines Bordells, wenn er von den Sexarbeiterinnen lediglich gesehen und deshalb als (potenzieller) Prostitutionskunde gedeutet wird? Erst wenn der Freier sich selbst als ein solcher wahrnimmt? Oder muss es hierfür gar erst zur „manifesten“ – wie auch immer gearteten – sexuellen Interaktion mit vorausgehender bzw. anschließender Bezahlung gekommen sein? Immerhin geht aus anderen Studien zur Laufhausprostitution hervor, dass ein Großteil der frequentierenden Männer bloß durch die Gänge der einzelnen Etagen flaniert, ohne über rasche Blickkontakte oder kürzeren bzw. längeren Gesprächen an den Türschwellen hinaus das sexuelle Angebot tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Nicht weniger virulent als die Frage nach dem konkreten Beginn des „Freierseins“ erscheint die nach dessen Ende. Handelt es sich hierbei etwa um ein „lebenslanges“ Stigma, welches einem bereits nach einem einzigen Prostitutionsbesuch anhaftet, oder wird es abgelegt, sobald man das Feld wieder verlässt (gleich wie häufig und regelmäßig es frequentiert wird)?

Im Buch berichten Männer über ihre Felderfahrungen und die subjektiven Umstände, die sie dort hin geführt haben. Allen ist gemeinsam, dass es nicht beim einmaligen Kontakt mit der Prostituierten blieb. Darüber hinaus wäre es jedoch auch von Interesse gewesen, zu erfahren, in welcher Häufigkeit das Feld betreten wird, ob es sich um vergleichsweise „seltene“ – was auch immer das in diesem Fall bedeutet – oder um regelmäßige Begegnungen handelt. Wie ihr Autor selbst einräumt, muss die Studie also vielmehr von einem idealtypischen Standpunkt aus gelesen werden; nicht zuletzt sind Alter, Ethnie der Kunden und eben auch die Prostitutionsform zu beachten. (Das trifft im Übrigen auch für die „Feldgesetze“ zu – so bleibt beispielsweise fraglich, ob und wie sehr die Genitalreinigung des Kunden „ein normativ verankertes standardisiertes Ablaufmuster im prostitutiven Gesamtzyklus darstellt“ (218), oder nicht vielmehr vom spezifischen Setting abhängt.)

Da die Argumentationen des Autors zu weiten Teilen auf zitierten Aussagen der Freier beruhen, ist auch die konkrete Interviewsituation tiefer gehende Reflexionen wert. Zu betonen ist insbesondere die Geschlechtskonstellation: Auf den ersten Blick scheinen männliche Interviewer hierbei den Vorteil zu bieten, dass sie weniger „als erotische Projektionsfläche oder geschlechterpolitische Normierungsinstanz“ (53f.) wahrgenommen werden. Soziale Erwünschtheit und andere Erwartungserwartungen spielen jedoch auch in diesem Fall eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ähnliches gilt etwa für das Agieren in Freierforen. Woher rührt beispielsweise der nicht ohne jeden ersichtlichen Stolz vorgetragene Bericht eines Freiers über ein in der Prostitution eher unwahrscheinliches Erlebnis: „Das reife Mädel fing an sich selbst noch einen Orgasmus abzureiten. 1:0 für mich!!!“ (233)? Angesichts der zahlreich aufgeführten Interviewpassagen und Inhaltsanalysen erhalten konkrete Beobachtungen „im Feld“ vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Kontaktanbahnungsinteraktionen zwischen der Sexarbeiterin und ihrem potenziellen Kunden, spezifische Rhetorik und Körperperformanz etc. bieten sicher reichhaltige Potenziale für spannende Nachforschungen.

Fazit

Trotz der genannten Einwände eine umfangreiche und durchaus gewinnbringende Erweiterung des bislang noch knappen Forschungsfundus über die männliche Nachfrageseite im Feld der Prostitution. Lobenswert erscheint insbesondere der Versuch einer Zusammenführung von Theorie und Empirie.

Rezension von
Matthias Meitzler
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Es gibt 14 Rezensionen von Matthias Meitzler.

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ISSN 2190-9245