Klaus Müller: "Ich habe das Recht darauf, so zu sterben wie ich gelebt habe!"
Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Gredig, 17.01.2013
Klaus Müller: "Ich habe das Recht darauf, so zu sterben wie ich gelebt habe!". Die Geschichte der Aids-(Hospiz-)Versorgung in Deutschland.
der hospiz verlag Caro & Cie. oHG
(Ludwigsburg) 2012.
119 Seiten.
ISBN 978-3-941251-48-9.
D: 19,90 EUR,
A: 20,80 EUR.
Deutscher Hospiz- und Palliativ-Verband: Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Beirats im DHPV e.V. - Band 4.
Thema
Die Oral-History-Studie rekonstruiert die Entstehung und Entwicklung der Versorgungsinitiativen für Aids-kranke und an den Folgen der Immunschwäche sterbende Menschen in Deutschland. Sie arbeitet konzeptionelle Spezifika der in den späten 1980er Jahren einsetzenden Lebens- und Sterbebegleitung von Menschen mit Aids heraus und lässt erkennbar werden, welche Impulse von dieser Praxis für die Weiterentwicklung der Arbeit in Hospizen und medizinisch orientierter palliativer Versorgung ausgehen könnte.
Autor und Entstehungshintergrund
Klaus Müller, Dr. phil., ist Krankenpfleger, Berufspädagoge und Gesundheitswissenschaftler. Seine aktuelle Forschung ist im Bereich der Pflegewissenschaft angesiedelt. Der vorliegende Band referiert die Ergebnisse aus seiner Forschungstätigkeit im Bereich AIDS und Hospizbewegung im Rahmen des Forschungsprogramms hospiz.geschichte-zukunft, das seit 2006 am Institut für Interdisziplinäre Forschung der Universität Klagenfurt/Wien und dem Institut für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Göttingen durchgeführt wird.
Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Ehrenpreis für Wissenschaft des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands e.V. geehrt.
Aufbau und Inhalt
Der Band folgt der klassischen Form eines Forschungsberichts.
Zu Beginn steht die Klärung von Ausganslage, Zielsetzung und Fragestellung (Kapitel 1; S. 9-11): Müller geht von der Feststellung aus, dass es bislang an einer Analyse mangle, "welche Entwicklungen für die Hospizbewegung durch das Auftreten von Aids und die dadurch bedingte Konfrontation der Gesellschaft mit dem massiven Sterben vor allem junger Menschen erst möglich wurden" (S. 10). Vor diesem Hintergrund verfolgt seine Forschungsarbeit das Ziel, "wesentliche Linien der Entstehung von Versorgungsinitiativen für an Aids erkrankte und sterbende Menschen" (S. 10) darzustellen.
Einführung in die Grundlinien der Entwicklungen in den Bereichen Hospiz, Palliativmedizin und Aidsversorgung in Deutschland (Kapitel 2; S. 12-18): Die Rekonstruktion der Entwicklung der Versorgungsinitiativen für Menschen mit Aids erfolgt damit vor dem Hintergrund und in gewisser Weise kontrastierend zu zwei anderen, zeitlich versetzt, aber parallel verlaufenden Entwicklungen, die in Deutschland mit Blick auf die Begleitung und Unterstützung von unheilbar erkrankter und sterbender Menschen zu verzeichnen waren: Die Hospizbewegung und die Palliativversorgung. Aus der psychosozialen Begleitung und Trauerarbeit hervorgegangen, umfasst das ambulante wie auch stationäre Angebot der Hospizversorgung Sterbebegleitung, Beratung und Vermittlung von weiteren Hilfsangeboten sowie Pflege. Die medizinisch orientierte Palliativversorgung wird im medizinischen Kontext verortet und als Antwort auf die Spannung präsentiert, die sich aus dem Ziel der Heilung und der Machtlosigkeit gegenüber tödlich verlaufenden Erkrankungen ergibt. Sie umreisst ein Versorgungskonzept, das erlaubt, bei fortgesetzter Behandlung von Symptomen die kausale Therapie einzustellen. Die unterschiedlich erachtete Rahmung wird dabei auf die kurze Formel zugespitzt: "Hospiz begleitet, Palliativmedizin behandelt" (S. 14). Beide Betreuungsformen machen eine Gratwanderung zwischen dem Aspekt der Begleitung eines würdevollen Sterbens ohne Leiden und der Förderung der Lebensqualität und Begleitung des Lebens bis zu seinem Schluss. Die Versorgungsinitiativen von Menschen mit Aids sahen sich weniger in einer Gratwanderung begriffen. Sie hatten sich für eine Seite entschieden: Selbstbestimmtes Leben und Lebensqualität so lange wie möglich zu erhalten und gegen Überformungen und Repression zu verteidigen.
Methode (Kapitel 3, S. 19-22): Müller verortet die Rekonstruktion der Versorgungsinitiativen für Menschen mit Aids in der Tradition der Oral-History. Er basiert seine Aussagen auf Daten, die er aus der Befragung von 6 Männern und 2 Frauen (Ordensschwestern) mittels "leitfadengestützte(r) narrative(r) Interviews" (S. 21) gewann. Das Material aus diesen face-to-face geführten Interviews wurde durch Daten aus drei (offenen) Telefoninterviews ergänzt. Die Auswertung der verbalen Daten erfolgte themenorientiert (und damit nicht biographisch orientiert) mittels Offenem Kodieren. Die Codes wurden zu sechs Hauptkategorien gruppiert. Die Gesprächspartner wurden im Sinne eines zielgerichteten Samples (purposeful sampling) auf Hinweis von Fachpersonen der Aidsarbeit ausgewählt und waren alle selbst direkt mit dem Aufbau von Versorgungsangeboten für Menschen mit Aids in Deutschland befasst.
Ergebnisse (Kapitel 4; S. 23-100). Die Darstellung der Ergebnisse wird dem Entwicklungsverlauf der Versorgungsinitiativen entlang organisiert. Gründungsmotive: Die Einrichtung spezifischer Angebote für Menschen mit Aids stellte eine Reaktion auf die Erfahrung von Ausgrenzung – auch im medizinischen Versorgungssystem – und Versorgungsmängel dar. Zugleich waren die Versorgungsinitiativen aber auch eine Manifestation gegen die drohende zusätzliche Ausgrenzung der Hauptbetroffenengruppe der schwulen Männer (S. 23-37). Als förderlicher Faktor erwies sich das Engagement schwuler Männer, die sich als Angehörige der Hauptbetroffenengruppe solidarisch zeigten und sich – mit den Worten eines Zeitzeugen – angesichts der Überforderung des Gesundheitswesens zur "Selbstverteidigung" (S. 38) engagierten. Zudem erwies sich die Unterstützung durch engagierte Politiker/innen und die Fürsprache von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als entscheidend (S. 37-48). Als hinderliche Faktoren werden die zunächst fehlende Finanzierung insbesondere der ambulanten Formen der Pflege und Begleitung von Menschen mit Aids herausgearbeitet wie auch Ängste von Anwohnern sowie ideologische Vorbehalte anderer Organisationen, auch der Hospizbewegung, die eine Kooperation behinderten. Zudem blieben die Erfolge der medikamentösen Eindämmung der HIV-Infektion nach 1996 und der damit einhergehende Wandel des Versorgungsbedarfs nicht ohne Wirkung. Die Sterbebegleitung verlor an Bedeutung. Im Gegenzug nahm der Betreuungsbedarf für Menschen mit HIV und neurologischen und psychiatrischen Symptomen zu, was zu einem Rückgang des Engagements von Ehrenamtlichen und Spendern führte (S. 49-59). Als Vorbilder, wenn auch nicht als Blaupausen der Versorgung von Menschen mit Aids dienten Organisationen mit ähnlichen Zielen in San Francisco, Zürich und Basel, was zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Hospizgedanken führte (S. 59-64). Mit Blick auf die grundlegenden konzeptionellen Überlegungen erweist sich in der Rekonstruktion als charakteristisch, dass diese Versorgungsinitiativen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der zu pflegenden Menschen eine herausragende Bedeutung eingeräumt hatten. Die Gepflegten sollten weiterhin selbstbestimmt ihr Leben gestalten und ihre Lebensweise und Gewohnheiten bis zu ihrem Tod beibehalten können. Die umfasste die Akzeptanz des Lebensentwurfs und der Lebensführung der Betroffenen und führte zur charakteristischen "Betonung der Lebensgestaltung im Sterben in Abgrenzung von der Gestaltung des Sterbeprozesses" (S. 72). Dies umfasste die Akzeptanz einer gelebten Sexualität bis zum Tod, aber auch die Akzeptanz des Wunsches der Betroffenen, über das Ende ihres Lebens zu bestimmen und aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. An dieser stellte zeigt sich dann auch ein Konflikt zwischen den Versorgungsinitiativen für Menschen mit Aids und der Hospizbewegung (S. 64-91). Die Konzepte gingen zunächst von ambulanten Pflegeleistungen aus und entwickelten sich dem Bedarf folgend hin zu einem ausdifferenzierten Angebot von betreuten Wohngruppen oder Hospizen, die sich für Menschen mit anders begründeten Bedarfen, wie z.B. onkologischen Erkrankungen, öffneten (S. 91-98).
Diskussion der Ergebnisse, konkret: "Unterschiede und Anknüpfungspunkte" (Kapitel 5; S. 101-104): Müller streicht hervor, dass die Versorgungsinitiativen für Menschen mit Aids nicht am System ausgerichtet waren und sich durch hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit kennzeichneten. Anders als die Hospizbewegung oder auch die palliative Versorgung habe sich das Angebot für Menschen mit Aids weniger an gesellschaftlich akzeptierten Haltungen orientiert und die Betreuung und Versorgung weniger an bürgerlichen und berufsständischen Werthaltung und Kodices normativ ausgerichtet. Müller charakterisiert sie als hoch politisch und streitbar. Sie engagierten sich konsequent für den Schutz der Betroffenen vor institutioneller Übergriffigkeit, Stigmatisierung und Autonomieverlust. Sie akzeptierten Sexualität bis zum Tod und auch die aktive Sterbehilfe. Diese Prinzipien und Handlungsmaximen – so darf man aus der Darstellung von Müller wohl folgern – haben auch heute noch das Potenzial eines Impulses für die Hospizbewegung wie auch die Palliativmedizin (S. 101-104).
Im Anhang finden sich Informationen zu den Entwicklungen an einzelnen Standorten Deutschlands, ein Zeitstrahl der Versorgungsinitiativen inklusive einiger Organisationen aus anderen Ländern, die Kurzbiografien der Interviewpartner und das Literaturverzeichnis (S. 105-118).
Diskussion
Der Band darf für sich in Anspruch nehmen, ein Teil der jüngeren Geschichte aufgearbeitet zu haben, der angesichts der Fortschritte in der medikamentösen Eindämmung von HIV sonst wohl allzu schnell dem Vergessen überlassen würde. Der Band ist also wichtig und sei es nur, um die noch kaum mehr als 25 Jahre zurückliegende Ausnahmesituation in Erinnerung zu behalten, die sich angesichts einer plötzlich auftretenden unheilbaren und tödlich verlaufenden Krankheit für die Betroffenen und ihre Angehörigen, für Mediziner, Pflegende und Sozialarbeitende, aber auch für die vom medizinischen Fortschritt verwöhnte westliche Gesellschaft aufgetan hatte.
Der Text ist manchmal redundant. Die Zitate sind umfangreich. Die Entwicklung von Kategorien zurückhaltend und ein Impuls zur Theoretisierung der Erkenntnisse ist kaum zu verspüren. Das Versprechen, mit der Untersuchung der Versorgungsinitiativen für Menschen mit Aids aufzuzeigen, "welche Entwicklungen für die Hospizbewegung" möglich wurden, ist nicht umstandslos eingelöst. Das Ergebnis zeigt wohl eher auf, welche Anstösse von den Versorgungsinitiativen von Aids-kranken Menschen für die Hospizbewegung ausgehen. Die Entwicklungen auf Seite der Hospizbewegung bleiben hingegen undeutlich. Unüblich ist auch der Verzicht auf die Anonymisierung der Befragten und die damit einhergehende individuelle Zurechenbarkeit eines jeden Zitats.
Der Studie ist aber gutzuhalten, dass sie selbst konzeptionelle Anstösse zur Begleitung von Menschen mit anderen schweren Krankheiten als Aids vermittelt und der Sterbebegleitung in anderen institutionellen Rahmungen Anregungen bietet. Sie zeigt auch deutlich, welchen Wert der Eigeninitiative bei der Innovation von Angeboten der Betreuung von Menschen in Not zukommt. Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement sind keine untypischen Voraussetzungen für die Schaffung von Angeboten zur Unterstützung von Personen in erschwerten Lebenslagen seitens der Sozialen Arbeit oder auch der Pflege unter den Bedingungen einer wohlfahrtsstaatlichen Verfassung, die vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt ist. Eine solche korporatistische wohlfahrtsstaatliche Verfassung, wie sie gemäss Walter Lorenz (vgl. www.socialnet.de/rezensionen/4021.php) in Deutschland wie auch der Schweiz besteht und hierin dem System in den USA ähnlich ist, lässt typischerweise Raum für bürgerschaftliches Engagement und Initiative bzw. sieht bürgerschaftliches Engagement und Initiative systematisch vor. Es scheint so betrachtet kein Zufall und auch nicht allein dem Verlauf der HIV-Epidemie an sich geschuldet, dass die Versorgungsinitiativen für Aids-kranke Menschen in Deutschland ihre Vorbilder und Mitstreiter in den USA und der Schweiz fanden.
Schliesslich zeigt diese Arbeit einmal mehr, was in anderen Zusammenhängen schon beobachtet wurde: die Aids-Arbeit vermochte dem Gesundheits- und Sozialwesen weit über die Beschäftigung mit HIV und Aids hinaus innovative Impulse zu vermitteln. Mit Blick auf die Hospizbewegung und die medizinisch orientierte Palliativversorgung möchte man im Lichte dieser Untersuchung sagen: auch hier, auch heute noch.
Fazit
Diesen kleinen Band zu lesen lohnt sich – für Fachpersonen der Pflege und der Sozialen Arbeit und darüber hinaus schlicht für jedermann, der Anregungen für die Reflexion darüber finden möchte, in welchem Rahmen und welchen Maximen folgend er oder sie am Ende seines oder ihres Lebens begleitet, beraten und gepflegt werden möchte.
Rezension von
Prof. Dr. Daniel Gredig
Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten
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Es gibt 6 Rezensionen von Daniel Gredig.
Zitiervorschlag
Daniel Gredig. Rezension vom 17.01.2013 zu:
Klaus Müller: "Ich habe das Recht darauf, so zu sterben wie ich gelebt habe!". Die Geschichte der Aids-(Hospiz-)Versorgung in Deutschland. der hospiz verlag Caro & Cie. oHG
(Ludwigsburg) 2012.
ISBN 978-3-941251-48-9.
Deutscher Hospiz- und Palliativ-Verband: Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Beirats im DHPV e.V. - Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13250.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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