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Ulf Over: Die interkulturell kompetente Schule

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 30.05.2012

Cover Ulf Over: Die interkulturell kompetente Schule ISBN 978-3-8309-2568-2

Ulf Over: Die interkulturell kompetente Schule. Eine empirische Studie zur sozialen Konstruktion eines Entwicklungsziels. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2012. 182 Seiten. ISBN 978-3-8309-2568-2. D: 32,90 EUR, A: 33,90 EUR.

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Autor

Ulf Over bietet als promovierter Psychologe auf seiner Website seine Dienste als Coach, Trainer und Berater für die Team- und Organisationsentwicklung, speziell auch auf dem Feld interkultureller Kompetenzentwicklung und Diversity-Orientierung an.

Thema

Gegenstand der Studie ist die interkulturelle Orientierung einer Bremer Gesamtschule in einem sozialen Brennpunkt mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund (über 50 Prozent) und großer sprachlicher Vielfalt. Zur Heterogenität kommt die Chancenlosigkeit vieler Schüler. Vf. hat mit der Mehrheit der Lehrer/innen und den zwei Sozialpädagog/inn/en Interviews durchgeführt und diese mit einem programmierten Analyse- und Auswertungsinstrument („nextexpertizer“) ausgewertet, das normalerweise in der Unternehmensberatung Anwendung findet. Die Studie unterscheidet sich also methodisch von bisherigen Schulfallstudien, bei denen meist ethnographische Methoden angewendet wurden. Als Ziel gibt Vf. an, „die (implizite) kollektive Theorie eines Schulkollegiums“ zu erfassen, wobei er unterstellt, dass interkulturelle Kompetenz sich als kollektive Kompetenz operationalisieren lässt.

Entstehungshintergrund

Das ursprüngliche praktische Ziel war, über die Rückmeldung der Ergebnisse an das Kollegium Anstöße für die Reflexion der Situation, Kontroversen eingeschlossen, zu geben und damit einen institutionellen Entwicklungsprozess anzustoßen. Damit erklärt sich auch die Wahl des empirischen Instruments, das mit der computerunterstützten Art der Darstellung der Ergebnisse besonders für die Rückmeldung an einen Mitarbeiterstab oder ein Kollegium geeignet ist. Paradoxerweise wurde die Schule aber geschlossen, ohne dass eventuelle Verbesserungen abgewartet wurden. (Die Gründe dafür bleiben für den Leser im Dunklen.) Die Studie wurde als Dissertation eingereicht.

Aufbau und Inhalt

Der eigentliche Untersuchungsbericht mit Angabe des Forschungsziels und -designs beginnt erst auf Seite 101, weil sich Vf. vorher in umfangreichen Ausführungen der Ziele und Fragestellungen der Interkulturellen Pädagogik vergewissert und Ansätze der Bildungsforschung und speziell der Lehrerforschung referiert. Die Fülle der behandelten Aspekte soll hier nur mit Stichworten angedeutet werden. Nach der einleitenden Erläuterung der Arbeit geht Vf. im zweiten Kapitel nach Daten über die Migration in und nach Deutschland, über Bildungserfolg und soziale Lage zugewanderter Familien auf interkulturelle Bildung, auf Forschung zum interkulturellen Lernen und lehrerspezifische Modelle interkultureller Kompetenz ein. Letztere ist dann nochmals ein Thema des dritten Kapitels zusammen mit Ausführungen zum Kulturbegriff und zum Begriff Schulkultur. Im vierten Kapitel werden Ansätze der quantitativen und qualitativen Bildungsforschung sowie verschiedene Paradigmen der Lehrerforschung unterschieden, bevor Vf. im fünften Kapitel die speziellen Grundlagen seiner empirischen Arbeit, nämlich die Psychologie der persönlichen Konstrukte (PPK), erläutert.

Thema des sechsten Kapitels sind dann Forschungsziel und -design der Studie, im Einzelnen die untersuchte Schule, die Forschungsfragen, das Analyse- und Auswertungsverfahren nextexpertizer und die Vorbereitung und Durchführung der Befragung. Außerdem werden die Leser/innen mit der speziellen Darstellungsweise der Ergebnisse in einem „Bedeutungsraum“ und mit der Art der Analyse der Interviewdaten vertraut gemacht. Abschließend macht Vf. auf weitere Möglichkeiten des Umgangs mit den Ergebnissen aufmerksam. Mit dem Untersuchungsinstrument wurden Soll-Konzepte und von den Befragten erwartete Entwicklungen ihrer Schule erhoben, unter anderem das jeweils eigene „Erfolgskonzept für eine interkulturell kompetente Schule“. Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse mit Hilfe von Tabellen und Graphiken möglichst anschaulich präsentiert und im achten Kapitel diskutiert. Neben dem Literaturverzeichnis vervollständigt ein Anhang mit in den Interviews ermittelten Themen den Untersuchungsbericht.

Diskussion

Pädagogisch interessant ist das Konstrukt der kollektiven Kompetenz eines Kollegiums, wenngleich die Bedeutsamkeit der jeweiligen Schulkultur für den Umgang mit den Schülern der Schultheorie nicht neu ist und speziell für die interkulturelle Bildungsarbeit an Relevanz gewonnen hat. Besondere Aufmerksamkeit verdient der die Studie leitende, aus der Unternehmensberatung übernommene Gedanke, die Praktiker/innen als Experten ihrer Berufspraxis ernst zu nehmen. Interessant sind die drei Diskurs- oder Spannungsfelder, die Vf. mit dem Analyseinstrument identifiziert: a. die „Haltung zur kulturellen Vielfalt“ zwischen den Polen Abgrenzung und Offenheit, b. den „Umgang mit kultureller Vielfalt in der Schule“ zwischen Überlastung und aktivem Gestalten und c. die „Zuschreibung der Verantwortung“ für Integration. Besonders das letzte Spannungsfeld verdient Interesse. Der Gegensatz bestätigt auch frühere Untersuchungen zur interkulturellen Kompetenz im schulischen Feld, wonach entscheidend ist, ob seitens der Lehrpersonen der Veränderungsdruck eher bei der Institution oder bei den Schülern gesehen wird. Innerhalb der drei Diskursfelder ließen sich zwei differente Lager im Kollegium ausmachen (S.137), was nicht überrascht. Interessant ist aber auch, dass im Kollegium als ganzem auch zwischen den drei Diskursfeldern oder Anspruchsebenen Diskrepanzen festzustellen waren.

Fazit

Die Studie hat sowohl für die Schulforschung als auch für die Interkulturelle Pädagogik innovativen Charakter. Der theoretische Teil bis Kapitel vier einschließlich hätte knapper ausfallen können, zumal die Aufeinanderfolge der thematischen Aspekte nicht sehr stringent erscheint. (Universitäre Qualifikationsarbeiten scheinen ohne solche Umschweifigkeit nicht auszukommen.) Auf den Gegenstand der Studie hinführend sind eigentlich nur die Erörterung interkultureller Kompetenz und die Ausführungen über Schulkultur. Unmittelbar für das Verständnis des empirischen Ansatzes notwendig ist Kapitel fünf. Die Lesbarkeit wird durch eine spezielle Begrifflichkeit ein wenig erschwert („Elemente“, „Resonanzfelder“), die der Erklärung oder Übersetzung bedurft hätte. In methodischer Hinsicht kann die Publikation auf jeden Fall Anstöße für die künftige Beratung von Schulen geben.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 92 Rezensionen von Georg Auernheimer.

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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 30.05.2012 zu: Ulf Over: Die interkulturell kompetente Schule. Eine empirische Studie zur sozialen Konstruktion eines Entwicklungsziels. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2012. ISBN 978-3-8309-2568-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13264.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.


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