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Doug Saunders: Arrival city

Rezensiert von Dr. Rainer Neef, 06.07.2012

Cover Doug Saunders: Arrival city ISBN 978-3-89667-392-3

Doug Saunders: Arrival city. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte - von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Karl Blessing Verlag (München) 2011. 572 Seiten. ISBN 978-3-89667-392-3. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 35,90 sFr.

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Thema

Die umfangreichen nationalen und internationalen Land-Stadt-Wanderungen seit Mitte des 20. Jh.s sieht der Autor als Chance für eine weltweite stabile und nachhaltige Gesellschaftsentwicklung. Die Ballung von Migranten einzelner Herkunftsregionen in ‚Ankunftsstädten‘ (in Migranten-Slums, informellen Siedlungen, Migrantenvierteln), oft getrennt von der ‚Normalstadt‘, wird hier nicht als Fehlentwicklung, sondern als Ausgangspunkt ihrer gesellschaftlichen Eingliederung und zugleich sozialer Innovation dargestellt – wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Die Migranten müssen hinreichend Einkommen haben, v.a. um Wohneigentum und/ oder Kleinunternehmen bilden zu können; hierfür ist eine freie Entwicklung ihrer sozialen Netzwerke zentral; der Staat muss den Weg zu Bildung und damit zu Aufstiegsmöglichkeiten ebnen, er muss Migranten grundlegende Bürgerrechte garantieren und in den ‚Ankunftsstädten‘ eine Basis-Infrastruktur (Energie- und Wasserversorgung, Gesundheitsversorgung, Verkehrserschließung) bereitstellen. Ohne diese Bedingungen drohten Stagnation, Verarmung der Migranten, Revolten und/ oder Kriminalität.

Autor

Nach Verlagsangaben hat Doug Saunders, ein kanadisch-britischer Wissenschaftsjournalist, drei Jahre lang Erkundungen in Migrantensiedlungen auf vier Kontinenten durchgeführt; derzeit leitet er das Europabüro einer großen kanadischen Tageszeitung.

Aufbau

Alle Kapitel sind gesättigt mit lebhaften Schilderungen des Werdegangs einzelner Familien, die eingebettet sind in einen Überblick über die jeweiligen ‚Ankunftsstädte‘; einen Großteil der geschilderten Orte, fast durchweg in Millionenstädten, hat Saunders selbst besucht und ergänzend etliche sozialwissenschaftliche Untersuchungen aufgearbeitet. Im ersten Kapitel wird die Hauptthese zur (idealen) Funktion der Ankunftsstadt an Beispielen aus Chongqing und London erläutert, im zweiten Kapitel geht es um entsprechende Entwicklungsschritte und  -blockaden in Siedlungen von Metropolen und einem Dorf der ‚Dritten Welt‘ und im dritten Kapitel um Integrationserfolge in US-amerikanischen Migranten-Suburbs, Thema des vierten Kapitels ist der Niedergang abgelegener Dörfer und Regionen. Als fünftes vergleicht Saunders die Wanderungswellen des 19. Jh.s in Europa und den USA. Sechstens werden die (positiven) Entwicklungschancen informeller Siedlungen in Istanbul erörtert, siebtens v.a. politisch verursachte Fehlentwicklungen von ‚Ankunftsstädten‘ in Lateinamerika und Asien und achtens ähnliche Risiken in europäischen Migrantenvierteln dargestellt. Differenziert diskutiert werden abschließend (Kap. 9 bis 11) die Aufstiegschancen von Migranten in die Mittelschicht und die Rolle der Politik dabei, in der westlichen wie in der ‚Dritten‘ Welt.­

Inhalt

Im 1. Kapitel fällt Saunders gewissermaßen mit der Tür ins Haus, indem er seine Grundthese (s. o. Thema) erläutert an geglückten Lebensverläufen einiger Migrantenfamilien. Besonders interessant und lebendig geschieht dies am Beispiel einer chaotisch zustande gekommenen Riesensiedlung im Umland von Chongqing, der besonders rasch wachsenden mittelchinesischen Metropole. Hunderttausende von Wanderarbeitern bzw. ehemaligen Dorfbewohnern ohne städtisches Wohnrecht leben hier in Primitivunterkünften und arbeiten oft in kleinen informellen Fabriken. Ihr Einkommen geht teils an Angehörige im Herkunftsdorf, wird genutzt für eine Bildungskarriere der Kinder, und/ oder wird gespart und eingesetzt für ein eigenes (Klein-) Unternehmen oder spekulativen Wohnungsbau. Das zweite Beispiel von Familien aus Bangladesch im Ost-Londoner „Tower-Hamlets“ illustriert Bildungsaufstiege von Einwandererkindern, ermöglicht durch die Offenheit des britischen Staats für migrantische Unternehmensgründungen und das effiziente Bildungssystem (worin letzteres besteht, wird nicht deutlich). Saunders weist aber auch auf „Sackgassen“ hin, auf das Hängenbleiben in Kleinbetrieben des Migrantenmilieus.

Der Verdacht, hier werde mit positiver Auswahl argumentiert, wird in Kapitel 2 nicht ausgeräumt, da hier nur die Grundthese bezüglich Ausformungen und äußeren Bedingungen differenziert wird. An (wiederum lebendigen!) Beispielen aus Slums in Mumbai und Dhaka und unterlegt mit wissenschaftlicher Literatur erklärt Saunders, was nach Charles Tilly „Kettenmigration“ heißt: Wanderungsströme erfolgen meist an Orte, an denen sich schon soziale Netzwerke aus Zuwanderern der Herkunftsorte gebildet haben; deren soziale Unterstützung und Information (insbesondere über Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten) erleichtert den Einstieg in die ‚eigentliche‘ Stadt. Es gibt ganze Beziehungsgeflechte in die Herkunftsdörfer, die von den Überweisungen der Migranten enorm profitieren, und abhängig von der Wirtschaftslage (verstärkt etwa in der Krise 2008) gibt es auch erhebliche Rückwanderungen. Dass in der Stadt verbleibende Zuwanderer die „innovativsten und beharrlichsten“ und damit gut für die „Regeneration der Stadt“ seien (S. 82), lässt sich, nebenbei gesagt, nicht belegen. – Die informellen Siedlungen können nur auf der Basis guter Selbstorganisation zustande kommen, und solange sie im staatlich nicht akzeptierten Zustand der Landbesetzung bleiben, sind die Versorgungskosten (v.a. Wasser, Energie, Verkehr, oft auch Lebensmittel) für die Bewohner hoch. Risiken von Stagnation und Niedergang werden anschließend verdeutlicht: ökonomisch in Shenzen, der bei Hongkong gelegenen chinesischen Wirtschaftsmetropole, in der Kleinunternehmens-Gründungen und Wohnungserwerb kaum eine Chance haben; bezüglich Bandenherrschaft und Verelendung in Kibera bei Nairobi (beides nur plakativ aufgeführt, nicht erklärt). Auswege zeigten sich in der Kriminalitäts-Hochburg Santa Marta in Rio de Janeiro, wo nach 2008 eine – zunächst vom Misstrauen der BewohnerInnen begleitete – Besserung durch Hausbesitzrechte, Bildungsprogramme und Wasser- und Elektrizitätsversorgung sich anbahnt. Selbsthilfe in der „Ankunftsstadt“ durch Wohneigentum und Unternehmensgründung steht also für Saunders im Zentrum.

Fragen des Erfolgs in Nordamerika (Kapitel 3) werden zunächst am gut gewählten Beispiel von neu zugewanderten Latinos in Los Angeles-South Central besprochen, die hier – 20 Jahre nach den berühmt gewordenen Unruhen – eine starke Minderheit mit ausgeprägten sozialen Netzwerken und einem lebhaften Geschäftsleben entwickelt haben. Das (heute gemischte) ehemalige Schwarzen-Ghetto bleibt freilich ein Ort der Armut – soziale Aufstiege führen in bessergestellte Suburbs. Saunders betont die Rolle verbesserter Bildung bei Aufstiegen von Latinos – der hierfür zitierte Mike Davis beklagt (2000, S. 112ff.) dagegen ihr relatives Zurückbleiben v.a. im Vergleich zu Afro-Amerikanern und asiatischen Immigranten. Nebenbei kritisiert Saunders eine Einwanderungspolitik, die nur auf gut Qualifizierte zielt (am ausgeprägtesten in Kanada) – gering Qualifizierte seien eher erfolgreich, und die Selektion erzeuge illegale Einwanderung mit Verelendungstendenzen. Für Europa interessant ist das Phänomen der direkten Zuwanderung in Suburbs. Nach Saunders erhöht politische Förderung deren Attraktivität, während Gegenmaßnahmen zu Abwanderung und damit zu einer Vergeudung des Entwicklungspotentials der Immigranten führten.

In Kapitel 4 stellt Saunders an vier meist vor Ort recherchierten Beispielen dar, dass es auf dem Land zu Stagnation oder Verelendung komme, wenn ein Anschluss an Stadtentwicklung fehle oder dieser politisch blockiert sei; zu Stagnation trügen auch Rücküberweisungen der Emigranten bei. Die Auswahl der Beispiele in Ostpolen, in chinesischen Dörfern und in stadtfernen Lagen Mittelindiens kommt einer Schwarzmalerei gleich, zumal in anderen Kapiteln der Nutzen von Rücküberweisungen für ländliche Entwicklung (auch in China) betont wird. Interessant ist jedoch der Schluss des Kapitels: In Bangladesch entdeckte Saunders „Londoni“-Dörfer mit prächtigen Häusern, gut bestückt mit Restaurants und Läden, bezahlt aus Rücküberweisungen der in Großbritannien lebenden ersten Generation und den Ausgaben der zwischendurch ins Dorf zurückkommenden Verwandten. Saunders sieht hier eine zeitweilige Entwicklungschance, die aber an unproduktivem Luxus leidet und mit Rückgang der Beziehungen nach ‚London‘ (v.a. nach der Krise 2008!) absterben kann.

Im Rückblick auf Migranten-Städte im 19. Jahrhundert (Kapitel 5) bemüht sich Saunders um Anschaulichkeit, allerdings um den Preis oft plakativer Darstellungen. Er kontrastiert Elendsentwicklungen in den Slums von Paris, Berlin und Barcelona mit einer seines Erachtens positiveren Entwicklung in London, wo es nur „kurze Zeit (…) den hoffnungslosen Slum“ (S. 236) gegeben habe (die ‚kurze Zeit‘ dauerte hundert Jahre!), und wo seit der Jahrhundertmitte eine Aufwärtsmobilität zu verzeichnen sei, während Frankreich wegen seines nach 1789 entwickelten Kleinbauerntums sozial instabil geblieben sei. Sein Argument ist nicht nachvollziehbar, auch nicht aus seinem abschließenden (interessanten) Verweis auf die hohe Grundbesitzrate der Immigranten in nordamerikanischen und kanadischen Einwandererstädten – er klärt nicht, wieso diese (und nicht der industrielle Aufschwung) Basis für sozialen Aufstieg gewesen sei. Kurz: Zusammenfassungen historischer Entwicklungen sind seine Sache nicht.

Ganz anders im ausführlichen Kapitel 6, das der Entwicklung informeller Squatter-Siedlungen (Gecekondus) in Istanbul gewidmet ist. Nach einem etwas groben Entwicklungs-Überblick bis in die 1970er Jahre klärt Saunders sehr differenziert am Beispiel einer einstmals von Kommunisten dominierten Siedlung die Wechselwirkung von Zuwanderung, Landbesetzung, Politisierung (v.a. im Vorfeld des Militärputschs 1980), und einer bis heute erfolgreichen Regularisierung durch Infrastruktur- und Schulbau, Verkehrserschließung und Grundbesitzrechte – mit der Folge einer relativ erfolgreichen sozialen und politischen Integration. Ausgiebig nutzten die Bewohner den Wertzuwachs der Siedlung für Grundstücksverkauf oder Mietshausbau. Die Siedlung wurde völlig zugebaut, die Wohnkosten nachfolgender Zuwanderer stiegen dadurch erheblich, aber für die frühere Zuwanderergeneration ersetzte, so Saunders, der Kleinbesitz die in der Türkei weitgehend fehlende soziale Sicherung – jedenfalls so lange, wie die seit zwei Jahrzehnten herrschende islamische AKP-Regierung finanzielle Zugeständnisse mit Wohlfahrtsarbeit der AKP-Partei in den Gecekondus verbinde (die v.a. von „Kopftuchfrauen“ geleistet werde). An Istanbuls Peripherie entwickele sich so eine Gesellschaft mit neuer Mittelschicht, die zur immer mehr verfallenden alten Stadt mit ihrer laizistischen Mittelschicht kaum eine Verbindung habe.

Im 7. Kapitel über politische Fehlentwicklungen wird, mit Bezug auf Teheran, die rasche Urbanisierung mit noch rascher wachsenden informellen Armuts-Siedlungen unter dem Schah-Regime der Entwicklung unter dem islamischen Regime gleich gesetzt. Die Revolution 1979 sei v.a. von den Bewohnern der vernachlässigten peripheren Siedlungen vorangetrieben worden. Es habe zwischenzeitlich Besserungsversuche gegeben, v.a. die Legalisierung einiger Siedlungen und die Erstellung einer „primitiven Infrastruktur“(S. 342), doch die informelle Besiedlung Teherans beschleunigte sich, stellenweise Abrisse mit Bulldozzern setzten dem nichts entgegen, und die rasch wachsenden Grundstückspreise verstärkten die Armut der Neu-Zuwanderer (hier erscheint als Nachteil, was in Kap. 2 und 6 als Vorteil gepriesen wurde: Verdienstmöglichkeiten der Alt-Bewohner durch Eigentumsnutzung). Seit 1995 regte sich neuer Widerstand, diesmal gegen das islamische Regime. – Über die Entwicklung der Ankunftsstadt (der ‚Favela‘) Petare bei Caracas im ölreichen Venezuela vermeldet Saunders, das groß angekündigte Entwicklungsprogramm der Chavez-Regierung gerade für Favela-Bewohner sei gescheitert, die Unzufriedenheit mit der Desorganisation der Reformen und mit nicht eingehaltenen Versprechen sei groß. Hierzu zitiert er aus der großen Mottenkiste der US-amerikanischen Anti-Chavez-Fronde eine der wenigen und überall rezipierten wissenschaftlichen Untersuchungen, wonach v.a. Chavez' großmäulige Versprechung, binnen zwei Jahren den Analphabetismus hundertprozentig zu beseitigen, sich nach eben diesen zwei Jahren als Fehlschlag erwiesen habe, denn es gab 2006 immer noch 5% Analphabeten (eine Rate, die in Ländern mit hochentwickelten Bildungssystemen üblich ist). Saunders ignoriert die UN-Indikatoren, wonach Venezuela bis heute weit überdurchschnittliche Verbesserungen sozialer Lagen verzeichnet. – Überzeugender ist der diesmal von breiterer eigener Anschauung (und von etlichen Untersuchungen) getragene Bericht über die Shiv-Sena-Partei in Mumbai. Ihre beachtlichen Wohlfahrts-, Wohnungs- und Geschäftsvermittlungs-Aktivitäten in den Slums kommen nur den (v.a. Marathi-sprechenden) Hindus als größter ethnischer Gruppe zugute, sie werden finanziert aus Immobilien-, Kriminalitäts- und Korruptionsgewinnen der Funktionäre, die seit Ende der 1990er Jahre die Stadtregierung dominieren – und sie verbindet sich mit bösartiger Hetze gegen Minderheiten, v.a. gegen die muslimischen Slumbewohner.

Im 8. Kapitel erörtert Saunders die Situation in Europa, wobei er das Ausmaß des Problem etwas aufbläst (nach seiner großzügigen Schätzung leben hier 50 Mio. MigrantInnen, aber nicht alle, wie er vermeint, sondern vielleicht 10-15 Mio. wohnen in Vierteln mit hohen Migrantenanteilen). Er erörtert zunächst zwei seines Erachtens fehlgeleitete Entwicklungen. Im Fall Frankreichs stellt er am Beispiel Paris-Pyramides anschaulich die benachteiligte Lage von Migrantenfamilien in Vorort-Sozialwohnungssiedlungen dar: Es fehlt dort an Geschäftsmöglichkeiten, es entwickelt sich kein Gemeinschaftsleben (seines Erachtens v.a. aufgrund der Baustruktur), und einem gelungenen Einstieg der ersten Immigrantengeneration steht das soziale Steckenbleiben der zweiten Generation gegenüber. In den Unruhen 2005 habe sich der fehlende Zugang zur Mainstream-Gesellschaft geäußert. Im Gegensatz zu Frankreich hatten Immigranten in Deutschland jahrzehntelang wenig Chancen, Staatsbürger zu werden. Dies und die gesellschaftliche Ablehnung habe bei den Zuwanderern aus der Türkei eine besonders konservativ-rückwärtsgewandte Haltung entstehen lassen, anders als bei Türken in anderen europäischen Ländern. Dies wird durch reichlich plakative Angaben zu Gewalt und Rückständigkeit in Berlin-Kreuzberg illustriert. Die ab 2000, also zu spät gewährte erleichterte Einbürgerung schneide von Netzwerken ab (was nicht belegbar ist). Beiden Ländern gemeinsam ist die Diskriminierung von Immigranten auf dem Arbeitsmarkt. Dies habe sich im positiven Fall Spaniens ab 2004 (erleichterte Einbürgerung, Bildungs- und Gleichbehandlungsmaßnahmen, Sozial- und Gesundheits-Hilfen) deutlich verbessert – in der Großwohnungssiedlung Madrid-Parla habe sich eine gute Integration v.a. der marokkanischen Einwanderer und ein lebhaftes Geschäftsleben entwickelt. – Letzteres gilt aber auch für Kreuzberg, und die Baustruktur von Parla ähnelt der französischer Sozialwohnungssiedlungen!

Saunders' Grundthese, die um Aufstiegschancen durch Investitionen in eine Mittelschichts-Existenz kreist, wird im 9.und10. Kapitel sehr differenziert fortentwickelt. Lebhaft geschildert wird für Jardim Angela (São Paulo), die einst „gewalttätigste menschliche Siedlung auf Erden“ (S. 426), ein beachtlicher Aufschwung. Nach der ökonomischen Dauerkrise der 1980er Jahre gab es in lateinamerikanischen ‚Ankunftsstädten‘ für nachwachsende Jugendliche in den 1990er Jahren nur noch in Bandenkriminalität Erwerbschancen. Die Selbstorganisation der Bewohner des „Jardim Angela“, ihre Kooperation mit Ortspolizei, mit Lehrerinnen, Kirchen und Künstlern und mit der Stadtverwaltung brachte eine auflebende lokale Kultur und gesicherte Lebens-, Bewegungs- und Bildungs-Möglichkeiten – und Arbeitsplätze als Basis, deren Entstehung leider nicht erläutert wird. Auch für Mumbai wird der Aufstieg aus Slumhütten in kleine Eigentumswohnungen und vielversprechende Arbeitschancen für die Kinder plastisch geschildert. „Die Ankunftsstadt muss, wenn sie überhaupt funktionieren soll, Angehörige der Mittelschicht hervorbringen“ (S. 446), die Wohneigentum nutzt, Geschäfte gründet, in Bildung investiert und so einerseits Arbeitplätze schafft, andererseits als Rollenvorbild funktionierender Integration fungiert. Aber, so Saunders: Vonnöten ist hierfür eine staatliche Politik, die aktiv investiert in lokale Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherung, die sich nur über Bewohner-Mitwirkung bewähren kann. Die meisten Regierungen taten aber das Gegenteil: Sie reduzierten ihre Leistungen. Gegenüber Positionsverbesserungen für Arme und v.a. für Reiche wurde die Lage der Mittelschichten seit 20 Jahren unsicherer. Insofern sind die Erfolgsaussichten der ‚Ankunftsstädte‘ ungewiss. Dies wird deutlich am sehr abwägenden 10. Kapitel: Renovationen und Sozialprogramme in zwei berüchtigten Großsiedlungen von Amsterdam brachten Bildungsfortschritte und ein (etwas übertrieben lebhaft gezeichnetes) Geschäftsleben, und milderten Armuts- und Kriminalitätsprobleme – aber sie beseitigten sie nicht, sodass in der jüngeren Generation nun religiöser (gemeint: islamischer) Fundamentalismus blüht. In der ethnischen Enklave „Thorncliffe Park“ von Toronto hat neben den – etwas undeutlich gelassenen – staatlichen und gemeinnützigen Integrationshilfen v.a. ein blühendes Community-Leben mit starker Selbstorganisation zu einer eigen-ethnischen gesellschaftlichen Integration geführt. Am – wiederum wunderbar lebendig geschilderten – Beispiel der Siedlung Karai in Dhaka wird schließlich deutlich, dass Zuwanderer sich zwar aus eigenen Kräften Erwerbsarbeit in Kleinunternehmen schaffen können, aber dass sie bei geringen Einkommen ohne staatliche Sicherungen ständig vom Absturz bedroht sind.

Den arabischen Rebellionen wird im Nachwort am Beispiel der Siedlung „Boulaq“ am Rand von Kairo ein Misserfolg vorhergesagt, wenn nicht öffentliche Versorgung und Zugang zu Staatsbürgerschaft die Entstehung einer „katalytischen Klasse“ mit Aufstiegsorientierung (S. 531) ermöglichten.

Diskussion und Fazit

Der unvergleichliche Vorteil dieses Buchs liegt in der Verbindung von lebendiger Schilderung (meist aus eigener Anschauung heraus) mit verallgemeinernder Diskussion, und in seinem um den Globus reichenden Horizont. Saunders stellt den Durchhaltewillen und die Findigkeit von Zuwanderern dar, die nicht mehr ländlich-traditionell und noch nicht städtisch-individualisiert sind, und die sich ihren Weg in die Mitte der Ankunfts-Gesellschaft bahnen wollen. Er erläutert die Bedingungen von Erfolg oder Scheitern in der konkreten Lebenswelt der ‚Ankunftsstädte‘ und in allgemeinen politischen und (etwas verwaschener) ökonomischen Bedingungen.

Es gibt einige Widersprüche in dem Buch. Rücküberweisungen der Migranten in die Herkunftsdörfer werden mal als ländliches Entwicklungspotential gesehen (v.a. in Kap. 2), mal als Entwicklungsblockade dargestellt (v.a. Kap. 4). Die Entwicklung legalen (Wohn- und Geschäfts-) Eigentums in Migrantensiedlungen gilt mal als Integrationsschritt in die Mehrheitsgesellschaft, mal als Ursache für die Armut nachkommender MigrantInnen und insofern als Integrationshemmnis. Beide Widersprüche liegen wohl in der Sache selbst: Geldflüsse in ländliche Regionen dienen mancherorts der reinen Konsumtion, anderswo werden sie für ländliche Modernisierung genutzt – je nach kulturellen Gegebenheiten. Die Bedingungen für das eine oder andere zu klären ist bei einer weltweit angelegten Darstellung nicht machbar; Saunders' These des Entwicklungspotentials ländlicher Abwanderung ist zu steil. Soziale Aufstiege durch Wohn- und Geschäftseigentum von MigrantInnen führen, ebenso wie Bildungs-Aufstiege, teils aus den ‚Ankunftsstädten‘ heraus – diese bleiben dann eher Armutsquartiere – teils sind sie Ausdruck eines kollektiven Aufstiegs der ganzen Siedlung. Beide Entwicklungsmöglichkeiten hält Saunders nicht klar genug auseinander. Er ignoriert die gegenseitige Ausbeutung gerade innerhalb von Migranten-Unternehmen und  Mietwohnblocks. Saunders' zentrale Message – freies Unternehmertum, Bildungschancen und adäquate staatliche Leistungen setzen die innovativen Fähigkeiten von Zuwanderern frei – ist sehr angelsächsisch geprägt. In West-, Mittel- und Nordeuropa haben sich MigrantInnen überwiegend durch Lohnarbeit und soziale Sicherungssysteme und über Wohnen zur Miete in der Gesellschaft gehalten, Selbständigkeit und Besitz spielten nur für kleinere Gruppen eine Rolle. Auf die Integrationsmöglichkeiten dieses anderen Modells geht Saunders nicht ein. In Zeiten wachsender MigrantInnen-Arbeitslosigkeit schwindet in der Tat seine Bedeutung, aber sie ist immer noch so bedeutend, dass Selbständigkeit und Mittelschichts-Entwicklung nicht ernsthaft als Allheilmittel hochgehalten werden können. In den meisten Ländern der Dritten Welt ist dies anders, dort spielt (v.a. informelle) Selbständigkeit eine überragende Rolle. Die Gleichsetzung der ‚Ankunftsstädte‘ in entwickelten kapitalistischen Ländern mit denen der ‚Dritten Welt‘ ist also zu einfach. Und die Bedingungen für die Entwicklung neuer Arbeitsplätze, v.a. jenseits der Migranten-Wirtschaft, werden nicht geklärt, obwohl sie im Verlauf des Buchs als zentrales Erfordernis für Integration erscheinen.

Insofern sollte man das Buch nicht wahrnehmen als Traktat über die Integrationschancen von MigrantInnen, auch wenn Saunders es so gemeint hat. Wenn man es liest als Tour d'Horizon der Lebenswelten, Lebensbedingungen und -Wünsche und der Gemeinschaftsleistungen von ländlichen Zuwanderern in den großen Städten, ihrer Fähigkeiten und Energie, und ihrer Innovationskraft, wenn man seine reflektierten Schilderungen der äußeren (v.a. politischen) Hindernisse und Entwicklungschancen für eigenes Weiterdenken nutzt, dann handelt es sich um ein wunderbares Buch, das das Zeug zu einem Bestseller hat. Das erhofft sich wohl der Verlag mit seinem günstigen Preis; gerade in Deutschland ist ihm da nur Erfolg zu wünschen. Unseren Politikern ins Stammbuch geschrieben gehört seine zentrale Aussage: Dass MigrantInnen sich umso besser integrieren und zugleich die Gesellschaft vorwärts bringen, je mehr sie in Migranten-Vierteln Gemeinschaften bilden können mit einer eigenen Wohn- und Geschäftswelt – dass dies aber nur funktionieren kann, wenn der Staat mit Bildung und sozialer Sicherheit in Vorleistung geht.

Literatur

  • Davis, Mike 2000: Magical Urbanism. Latinos Reinvent the US City. London/ New York: Verso

Rezension von
Dr. Rainer Neef
bis 2010 akad. Oberrat für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie der Universität Göttingen
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Es gibt 10 Rezensionen von Rainer Neef.

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ISSN 2190-9245