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Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle

Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 29.03.2012

Cover Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle ISBN 978-3-531-17994-0

Annika Hoffmann: Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 330 Seiten. ISBN 978-3-531-17994-0. 39,95 EUR.
Reihe: Perspektiven kritischer sozialer Arbeit - Band 13.

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Thema und Entstehungshintergrund

Noch heute klingen die „Goldenen Zwanziger Jahre“ des vorigen Jahrhunderts in Erzählungen, Malereien, Theaterstücken und Gassenhauern nach und vermitteln das Bild einer Zeit, in der die Menschen jede nur erdenkliche Möglichkeit für Spaß, Unterhaltung und Exzess nutzten. Für die historische Zeitspanne von 1920-33 wird in der drogenhistorischen Rückschau regelmäßig auch die sogenannte erste Drogenwelle beschrieben, in der vor allem der starke nicht-medizinische Kokainkonsum epidemische Ausmaße gehabt und der Ruf „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da!“ regelmäßig auch bis in den letzten Hinterhof geschallt hätte. Es ist zugleich die historische Zeit, in der international wie national die Grundpfeiler einer Drogenpolitik geschaffen wurden, deren Kerngedanken und deren Exekutive, Legislative und Judikative im Grunde bis heute Bestand haben. Insofern ist es mehr als interessant nachzuvollziehen, vor welchem Hintergrund, mit welchen Akteuren, mit welchen Zielen, Interessen und in welchen Verfahrensschritten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Anfänge internationaler und deutscher Drogenpolitik entwickelt haben.

Aufbau und Inhalt

Die Autorin entwirft an Hand einer beeindruckend sorgfältigen und detaillierten Analyse historischer Dokumente ein Bild von den drogenpolitischen Entwicklungen, wie sie sich hauptsächlich zur Zeit der Weimarer Republik vollzogen. Sie zieht dabei den Schnitt jedoch nicht exakt mit dem Jahr 1919, sondern reflektiert zunächst die Ausgangslage, in der sich Deutschland zu Beginn der Problemkarriere in Bezug auf die später verbotenen Substanzen Opium und Kokain befand. Da sich in Deutschland die ersten Kontrollbemühungen zu Drogen bereits 1901 nachweisen lassen, betrachtet das vorliegende Buch den Zeitraum von 1900-1935. In diesem Zusammenhang forscht die Autorin nicht nur auf der damaligen epidemiologischen Verbreitung des Konsums dieser zunächst frei verfügbaren Substanzen nach, sondern auch deren Produktions-, Handels- und Abgabewegen und den die zu dieser Zeit populären Wertungen und Einstellungen sowohl in den Expertenkreisen, als auch in der Bevölkerung. Sie skizziert zudem den ursprünglich geltenden Rahmen, in dem der Umgang mit diesen Substanzen unspektakulär geregelt wurde, so dass sich ein einsichtiges Gesamtbild zu dieser Zeit ergibt. Auf diese Weise ist der Leser gut gerüstet für die folgende transnationale geschichtswissenschaftliche Analyse, in der der Zeitraum von 1919 bis 1933 dezidiert in den Blick genommen wird.

In ihrer theoretischen Grundlage geht die Autorin davon aus, dass in der Weimarer Republik das Drogenthema zu einem sozialen Problem entwickelt und dabei von einem Wahrnehmungskokon eingesponnen wurde, der bis heute existiert. Dieser suggeriert permanent, dass von einem zum Handeln zwingenden Problem auszugehen ist, welches mit Verbot und Strafrecht zu bekämpfen sei. Mit dieser theoretischen Leitidee, zu das Schwetsche Kokonmodell wesentliche Anregungen gab, werden nunmehr kollektive Akteure, Medien und die internationale und nationale politische Arena in den Blick genommen, die maßgeblich den Diskurs gesellschaftlicher Wissensbestände und eine Problematisierung in Form einer „Deutung-als-Problem“ vorangetrieben haben. Die Autorin kann dabei nachweisen, dass sich dieser Prozess allmählich und in kleinteiligen Schritten vollzog, in denen sich auch die beteiligten Akteure und deren Interessenlagen immer wieder wandelten. So wird dargestellt, wie von 1919-1923 zunächst die sogenannten Betäubungsmittel als „bisher im Vorborgenen blühende Volksseuche“ in das Interesse gerückt werden, von 1923-1929 Drogenpolitik vor allem zu einer Stellvertreterpolitik wurde, mit der sich Deutschland um internationale Reputation bemühte und wie ab 1929 schließlich kritische Einwände zu den bis dahin etablierten Problemwahrnehmungen formuliert wurden, aber schon den entstandenen Wahrnehmungskokon nicht mehr beeinflussen konnten.

Für all diese Zeitfenster werden immens viele historische Originalquellen wie amtliche Unterlagen dieser Zeit, Artikel renommierter wie populärer Zeitungen, Fachpublikationen und schließlich stenografische Berichte von Verhandlungen und Aussprachen des Reichstages, des Bundes- und Reichsrates, von Fachreferenten der parlamentarischen Ebene und schließlich auch Unterlagen nichtstaatlicher Organisationen gesichtet. Dieses enorme Quellenstudium ist nicht nur beeindruckend, sondern lässt nachvollziehen, dass der damals entstandene Wahrnehmungskokon bis in die Gegenwart perpetuiert, weil auch heutige Forscher sich dieser Mühe nicht immer unterziehen und für ihre Urteile auf Sekundärquellen aus dieser Zeit zurückgreifen, die ihrerseits bereits den Stachel der dramatisierenden Problemwahrnehmung in sich tragen. Mit Hilfe der historischen Originalquellen entsteht ein historisches Bild, in dem über die Zitationsketten und Zirkelschlüsse der Problematisierungsprozess bis ins kleinste Detail nachvollzogen werden kann und die Interessen der jeweiligen Akteure sichtbar werden. In dieser Analyse zeichnet sich eindrucksvoll ab, wie sich auch die keineswegs sachgerechte Darstellung der Konsumenten, ihres Verhaltens und ihrer Person, schließlich zu festgefügtem „Wissen“ etablieren konnte, das nachhaltig bis in die heutige Zeit ragt.

Bedrückend muss als Resümee festgehalten werden, dass das Opiumgesetz dieser Zeit überhaupt erst wirksam werden konnte, weil es zuvor einen aktiv betriebenen Wandel in der Problemwahrnehmung gab, der durch die gegebenen sozialen Sachverhalte gar nicht gerechtfertigt war.

Fazit

Das vorliegende Buch ist Pflichtliteratur für alle, die sich ernsthaft mit Drogenpolitik beschäftigen – sei es im internationalen oder im nationalen Rahmen. Nach der Lektüre kann niemand mehr annehmen, dass es bei der Etablierung drogenpolitischer Maßnahmen ausschließlich um so edle Motive wie Schutz der Bevölkerung oder um Angebote an sachgerechten Hilfen für Betroffene gehen würde. Es mahnt auf der einen Seite, genau hinzuschauen, welche Akteure sich mit welchen persönlichen Interessen daran beteiligten, Drogenpolitik in ihrer Ausrichtung zu bestimmen und mit entsprechenden Maßnahmen zu untersetzen. Im Grund spitzt sich alles auf die Frage zu: Auf welche Weise nutzt es wem? Auf der anderen Seite erklärt das Buch denjenigen, die daran verzweifeln, dass dem damals entstandenen und immer weiter ausgesponnenen Wahrnehmungskokon auch heute weder mit sachlogischen Argumenten noch mit wissenschaftlichen Ergebnissen beizukommen ist, wie dieser gestrickt ist und wo man Fäden finden kann, um ihn Stück für Stück aufzulösen. Insofern ist das Buch nicht einfach nur eine geschichtswissenschaftliche Arbeit, sondern weit darüber hinaus ein wichtiger Aufklärer und Mutmacher.

Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Es gibt 23 Rezensionen von Gundula Barsch.

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ISSN 2190-9245