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Manfred Geier: Aufklärung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.05.2012

Cover Manfred Geier: Aufklärung ISBN 978-3-498-02518-2

Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2012. 414 Seiten. ISBN 978-3-498-02518-2. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 37,90 sFr.

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Das Janusgesicht Europas

Als sich vom 21. bis 22. November 1991im Europäischen Parlament in Straßburg Wissenschaftler und Politiker trafen, um über „Weltkultur und Europa“ nachzudenken und einen Dialog der Zivilisationen zu führen, da charakterisierte der spanische Parlamentarier Enrique Barón Crespo die aktuellen Herausforderungen des Kontinents zur Frage: Warum Universalität?, mit der Begründung: „Weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“ (UNESCO-Kurier 7/8/1992); und der Spagat, der sich zwischen dem aristotelischen „gut leben“ und dem „frei leben“ aus den Forderungen der europäischen Aufklärung ergibt, lässt sich als globale Ethik formulieren, was in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.

Damit haben wir bereits die Bedeutung umrissen, die von der (europäischen) Aufklärung für ein Europa ausgeht, das sich auf dem (schwierigen und langwierigen) Weg hin zu einer europäischen Identität befindet. In dem Entwurf einer „Verfassung für Europa“ (2003), die allerdings bis heute nicht realisiert ist, wird in der Präambel festgestellt: Es ist das „Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner… im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Weil die europäische Geschichte aber im Laufe der Jahrhunderte Himmel und Hölle erlebte, die Menschen des Kontinents zwischen Unterdrückung und Befreiung lebten, der eurozentrierte Blick Rassismus und Hoffnung brachte, Kriege herrschten und Ideen von Frieden und Freiheit keimten, wird vom „Janusgesicht Europa“ gesprochen. „Denk‘ ich an Deutschland (Europa) in der Nacht…“, dieser Herausforderung stellen sich Historiker mit immer wieder neuen Fragestellungen; etwa der, wie die Geschichte Europas gedeutet, verstanden und für die Gegenwart und Zukunft der Menschen auf diesem Kontinent und global zugerichtet werden kann (vgl. dazu z. B.: Michael Gehler, Silvio Vietta, Hrsg.: Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9268.php; Michael Gehler, Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10743.php Michael Gehler, Hrsg., Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13169.php; Michael Gehler, Maddalena Guiotto, Hrsg., Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselvollen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12803.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Aufklärung als eine geistige und politische Idee, die als geschichtliche Epoche vor mehr als 200 Jahren in Europa entstand, wird mit der Kantischen Forderung von der Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erklärt. Als Aktions- und Innovationsmaßnahme gilt, dass der Mensch Mut habe, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wenn der Königsberger Philosoph Immanuel Kant 1784 feststellte, dass die Menschen nicht in einem aufgeklärten Zeitalter lebten, sondern in einem Zeitalter der Aufklärung, gilt diese Einschätzung heute mehr denn je. In der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt bestehen Chancen für ein freies, gerechtes und demokratisches Leben der Menschen auf der Erde in gleichem Maße, wie sich Gefahren von Hegemonie, unlegitimierter Macht, Gewalt und Unterdrückung zeigen. Aufklärung ist deshalb niemals ein Zustand, sondern ein Prozess, der der ständigen Bemühungen, Anstrengungen und Kraft aller Menschen zur Verwirklichung bedarf.

Dem in Hamburg lebenden, ehemaligen Dozenten für Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover, Manfred Geier, gelingt es, historische, philosophische, politische und gesellschaftliche Fragestellungen so zu verdeutlichen, dass sie sowohl intellektuellen Ansprüchen genügen, als auch alltagstauglich sind. Er unternimmt mit dem soeben in der zweiten Auflage erschienenem Buch „Aufklärung“ den Versuch, die Frage „Was ist Aufklärung?“ nicht als eine Reflexion auf die Philosophiegeschichte zu beantworten, sondern die Idee der Aufklärung als einen Prozess der menschlichen Sehnsucht nach einem "guten Leben“ zu verstehen, und zwar sowohl mit Blick auf die jeweils historische „eigene Gegenwart“, als auch darauf, wie sich Aufklärung in der Gegenwart der globalisierten Welt darstellt. Daraus wird nicht die eine „große Erzählung“, sondern es werden sieben Erzählungen, die sich orientieren an Individuen und Entwicklungen und so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit „als Projekt“ in den Blick nehmen.

Aufbau und Inhalt

Der Autor gliedert das Buch in sieben Kapitel. Im ersten stellt er mit der Metapher „Ein Kerzenlicht in der Dunkelheit“ die Überlegungen dar, „wie John Locke zu seinen Ideen über Menschenrechte, Toleranz und Selbstdenken kam“. Mit der Lebensgeschichte dieses europäischen Aufklärers, dem Nachzeichnen der Irr- und Umwege, den Überzeugungen, Utopien und Widerständen, den Wirkungen seiner Schriften und Überzeugungen auf die Zeitgenossen wie die Nachfolger darauf, selbst denken zu lernen und sich nicht abhängig zu machen vom Denken anderer (vgl. dazu auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php), wird John Locke als leidenschaftlicher und konsequenter Befürworter der Menschenrechtsgüter Leben, Freiheit und Eigentum dargestellt.

Die Faszination, die von der Aussage ausgeht – „Die Wahrheit kann jedes Licht vertragen“ – wird im zweiten Kapitel mit der Schilderung des Wirkens und Einflusses John Lockes auf seinen Zögling Anthony Ashley Cooper, dem Third Earl of Shaftesbury, aufgezeigt. Der „Gentleman Philosopher“ Shaftesbury formuliert mit seiner Philosophie die Werte, die ein souveränes Individuum auszeichnen sollen: Virtue (Tugend), wisdom (Lebensklugheit) und good breeding (gute Lebensart), die sich mit den (bürgerlichen) Prinzipien sociability (Geselligkeit), politeness (Höflichkeit) und criticism (kritischer Verstandesgebrauch) erreichen lassen, und zwar mit Charme, die sich als Lächeln, Witz und gute Laune gegen eine düster-asketische Weltstimmung einsetzen lassen.

Mit der Aussage „Der Mensch ist das Werk der Natur“, mit der „die bösen französischen Philosophen die Ideen ihrer englischen Vorbilder radikalisiert haben“, titelt Geier das dritte Kapitel. Es sind die freien Denker, wie Voltaire, Diderot, Jean Le Rond d?Alembert, Condillac, Paul Thiry d?Holbach, Helvétius, de La Metrie, Louis Leclerc de Buffon, die „weder an den christlichen Gott noch an eine unsterbliche Seele glaubten“, sondern wagten, Freiheit zu denken. Mit dem Begriff der Toleranz, als Antithese zum Fanatismus und der Forderung, diese als allgemein gültige Tugend zu verstehen und zu leben, haben Voltaire, Rousseau und die anderen die Menschenrechte nicht nur propagiert, sondern bei ihren zahlreichen Versuchen, sie auch in das Bewusstsein der Menschen zu bringen, auch gelitten. Es sind die Provokationen, die die Aufklärer an die Mächtigen und überkommenen Traditionen richteten: „Nur wenn der Mensch sich als Teil der Natur versteht, kann er sich von den Gespenstern befreien, mit denen politische Despoten und religiöse Tyrannen die Menschen irreführen, erschrecken und kontrollieren“.

„Wir träumten von nichts als Aufklärung“, so das Motto eines aus Dessau stammenden Juden, Moses ben Menachem Mendel, Moses Mendelssohn genannt. Der wissbegierige Junge, der sich im Oktober 1743 aufmacht, um in Berlin beim Oberrabbiner David Fränkel zu lernen, wird im vierten Kapitel vorgestellt: „Wie Moses Mendelssohn sich für die kultureller und gesellschaftliche Verbesserung der Juden engagierte“. Seine Neugier, Energie, Hartnäckigkeit und Durchsetzungskraft, wie auch seine Überzeugung, dass der Mensch zu einem „guten Leben“ befähigt und bestimmt sei, bringen Manfred Geier dazu, ihn als „deutschen Sokrates“ zu titulieren. Die Judenemanzipation ist für Mendelssohn gleichbedeutend mit der allgemeinen Emanzipation der Menschen, die nur kulturell und damit gesellschaftlich und politisch durchzusetzen ist.

Natürlich muss über den Königsberger Philosophen Immanuel Kant gesprochen werden und vor allem darüber, ob sein Denken „eine tröstende Aussicht in die Zukunft“ sein kann, wie dies Geier im fünften Kapitel titelt. Es geht um die Nachschau, ob „die Europäer Kantianer (sind) und wenn ja, warum sie dafür gute Gründe haben“. Es sind die Ereignisse von „Nine-Eleven“, es ist der Irak-Krieg und der „Clash of Civilizations“, mit denen der Autor die Ideen Kants in der aktuellen Wirklichkeit spiegelt, und wie sie 1783 in der Berliner „Mittwochsgesellschaft“, der „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ leidenschaftlich als Ermutigung und Zumutung diskutiert werden, ahnend, dass es „kein kantisches Paradies“ gibt. Es sind jedoch neuzeitliche Denker, wie etwa Karl Popper (1902 – 1994) und Hannah Arendt (1906 – 1975), die den Gedanken Kants Flügel verliehen haben.

Mit der emanzipatorischen Frage „Mann, bist du fähig, gerecht zu sein?“, intoniert Geier ein „Requiem für eine mutige Frau oder: Warum Olympe de Gouges auf dem Platz der Revolution guillotiniert wurde“. Die 1748 geborene Marie Gouze setzte sich als Schriftstellerin gegen die herrschenden Moral- und Hierarchievorstellungen ihrer Zeit ein und provozierte in ihren Schriften und Theaterstücken die Doppelmoral der Mächtigen und Männlichen. Auch die Frau ist frei geboren, und die „neuen Tyrannen“ der Revolution stehen bei ihr unter Anklage. Die Reaktionen der Revolutionäre klingen dabei ebenso scheinheilig wie sie zu (aktuellen?) Parallelen verlocken: „Wir wollen, dass die Frauen geachtet werden; daher zwingen wir sie, sich selbst zu achten“.

Es ist die „vielseitigste Bildung der Individuen“, wie sie Wilhelm von Humboldt als aufgeklärter Selbstdenker fordert, die ihn zum Bildungsreformer macht, denn: Reformen sind besser und wirksamer als Revolutionen. Der Mensch ist nur dann ein zôon politikon (Aristoteles), ein politisches Lebewesen, wenn er kraft seines Verstandes in der Lage ist, sich hin zur Mündigkeit „höher zu bilden“; dass dabei das (ungerechte) dreigliedrige Schulsystem entstanden ist, daran hat zwar Wilhelm von Humboldt mit seinen Vorstellungen von einer humanistischen Bildung Anteil, doch die Kritik an der Gesellschafts- und Bildungspolitik, wie sie etwa von Adorno und anderen artikuliert wird, spricht nicht gegen die Wirkungen des Aufklärers Wilhelm von Humboldt: „Das herrschende Bildungssystem sollte sich endlich von den Leitideen der Autorität und der Bindung verabschieden und die Erziehung zur Mündigkeit zu seiner Hauptaufgabe erklären“.

Fazit

Aufklärung als immerwährender und sich weiter entwickelnder Prozess hin zur Fähigkeit, den eigenen Verstand benutzen zu können, um die Grundwerte der (europäischen) Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden – in der Welt zu bringen, ist eine Aufgabe und Herausforderung für Individuen und Gesellschaften in der „Einen Welt“. Dieses Menschenwerk zu verwirklichen, bedarf es des Wissens und der Fähigkeit des Beurteilens von historischen Entwicklungen, lokal und global. Aufklärung ist nämlich immer auch die Suche nach der Wahrheit (vgl. dazu: Peter Brüger, u. a., Hrsg., Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12494.php). Denn „der Schritt in die Mündigkeit ist nicht einfach. Er ist … auch nicht ungefährlich“, sondern ein humaner Auftrag an jeden von uns. Die im Buch von Manfred Geier „Aufklärung. Das europäische Projekt“ dargestellten Lebensbeispiele von aufgeklärten Menschen können uns ermutigen, Utopien zu denken und daran mitzuarbeiten, dass sie Wirklichkeit werden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.05.2012 zu: Manfred Geier: Aufklärung. Das europäische Projekt. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2012. ISBN 978-3-498-02518-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13289.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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