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Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.05.2012

Cover Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann ISBN 978-3-406-63360-7

Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann. Verlag C.H. Beck (München) 2012. 236 Seiten. ISBN 978-3-406-63360-7. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 30,50 sFr.

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Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit

Begriffe sind (An-)Zeichen für Ver- und Zumutungen. Mit ihnen kann kommuniziert, konfrontiert und konzentriert gedacht, kontestiert und konvergiert werden; es lassen sich mit ihnen Konzepte darstellen, Konzessionen machten und Korrelationen herstellen, kurz: Begriffe sind Schilder und Denkmuster. Nach diesem, zugegebenermaßen eigenwilligen Zugang zum Denken, sind wir bei der Frage angelangt, was Denken ist. Antworten darauf gibt es, seit Menschen denken! Nehmen wir aus diesem Prozess der Menschwerdung nur die aristotelische Feststellung heraus, dass der anthrôpos, der Mensch, ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen und in der Lage ist, nach eu zên, einem guten Leben zu streben; und zwar, indem er denkt und sein Handeln an seinem Denken zu orientieren vermag. Damit sind wir schon mitten drin im Nachdenken darüber, welche Kompetenzen und welches Bewusstsein notwendig ist, um zu denken – oder denken zu lassen (vgl. dazu auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php). Wenn im Sinne Foucaults Philosophie Lebenskunst ist (vgl. dazu: Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11429.php), sind alle Menschen aufgerufen, zu philosophieren. Weil Philosophieren aber nicht Fantasieren heißt, sondern die Fähigkeit ist, selbst zu denken, realistisch, utopisch und kritisch, ist die Frage schon bedeutsam, wie Philosophen, gewissermaßen als gelernte und professionelle Denker, denken. Nicht, um ihr Denken nachzuahmen, sondern aus ihrem Philosophieren das eigene Leben zu verstehen, Gedanken und Vorstellungen zu ordnen, über eigene Überzeugungen nachzudenken, eigene Handlungen und Verhaltensweisen in Beziehung setzen zu können zu denen anderer, naher und ferner Menschen.

Entstehungshintergrund und Autor

Theodor W. Adorno hat einmal gesagt, dass wir Menschen als Kinder alle philosophiert hätten, uns aber diese Fähigkeit später ausgetrieben worden sei mit Auffassungen, dass Philosophieren eigentlich zu nichts nütze und reine Zeitverschwendung wäre (vgl. dazu auch: Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12020.php). Immerhin zeigt sich, sowohl durch das Interesse und die Aufmerksamkeit, die schulische Lern- und Bildungsprogramme in „Philosophie“, „Ethik“, „Werte und Normen“… gewinnen, als auch durch Diskussions- und Beratungsangebote im alltäglichen, beruflichen und politischen Leben, eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit für philosophische Fragestellungen. Das mag zum einen damit zu begründen sein, dass Menschen, die durch existentielle Ungewissheiten und Veränderungsprozesse verunsichert sind, nach Antworten suchen, die mehr als materielle und oberflächliche Richtungen aufzeigen; zum anderen aber auch – und das ist die Hoffnung, die niemals sterben sollte – dass der Mensch eben doch fähig ist zu begreifen, dass, wie dies in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird, „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.

Während die einen, nach der Katastrophe, der Meinung waren, dass „Philosophieren nach Auschwitz nicht mehr möglich sei“, forderten die anderen, zur Auseinandersetzung mit der Katastrophe, um so intensiver zu philosophieren. Der von Søren Kierkegaard stammende, irgendwie als Fleh-Satz abgemilderte, aber mit zwei Ausrufezeichen versehene Befehl: „O, schaffet Schweigen!!“ kann als das Dilemma betrachtet werden, dem Philosophen ausgesetzt sind: Einerseits wird von ihnen erwartet, dass sie mit ihrem Nachdenken über die Menschen und die Welt Hilfestellungen geben, dass sich die menschlichen Kreaturen selbst erkennen und in der Welt zurecht finden; andererseits haben Philosophen zu allen Zeiten die Tendenz entwickelt, ihre Reflexionen als Befehlssätze aufzuschreiben und auf den Markt zu tragen, sich also gewissermaßen damit auf den „Wahrheitsmarkt“ zu begeben und die Aufmerksamkeit der „Wahrheitskonsumenten“ zu finden (vgl. dazu: Boris Groys, Einführung in die Anti-Philosophie, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8487.php); und der Ratschlag „Je mehr Philosophie nach Autonomie strebt, desto weniger Aufmerksamkeit verdient sie, liest sich als Kampfansage gegen die „kantianischen Reiter“ (siehe dazu: Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, Ffm 2008, 357 S.). Und wenn der an der französischen Universität von Clermont-Ferrand lehrende Philosoph Christian Godin seine „Geschichte der Philosophie“ ausgerechnet in dem US-amerikanischen Verlag John Wiley & Sons in New Jersey herausgibt, der mit dem „Dummies Man Logo“ Literatur publiziert für „Menschen, die Erklärungen ohne Fach-Chinesisch mögen“ (Christian Godin, Die Geschichte der Philosophie für Dummies, Weinheim 2008, 544 S.) ist dies durchaus auch ein Hinweis darauf, wie philosophieren sich ausdru (ü)ckt.

Herbert Schnädelbach, der bis zu seiner Emeritierung als Philosoph an den Universitäten Frankfurt/M., Hamburg und an der Humboldt-Universität in Berlin lehrte und auch Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland war, legt ein Buch vor, das er – programmatisch und zeichensetzend – seinem Enkel Felix Paul widmet; programmatisch deshalb, weil sein Nachdenken über den Stellenwert und die allgemeine Bedeutung, Fragen des Lebens, von Ethik, Moral, Gesellschaft und Politik ein Dilemma aufzeigt, wie sich das Wissenschaftsfach „Philosophie“ im Kanon der geisteswissenschaftlichen Wissensfächer darstellt (und sich eher als „Orchideenfach“ einigelt; vgl. dazu auch: Stephan Conermann, Hg., Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den „Kleinen Fächern“, Bielefeld 2012, 313 S., vgl. www.socialnet.de/rezensionen/12965.php), und zeichensetzend, dass Philosophie eine „Lebenswissenschaft“ ist, die gestern kultur- und zivilisationsbestimmend war und es auch heute und morgen bleiben muss.

Aufbau und Inhalt

Das Anliegen Schnädelbachs lässt sich als eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem „philosophischen Wissen“ beschreiben, orientiert an der Analytischen Philosophie, in der die Problemorientierung vornan steht, was bedeutet, „philosophische Probleme möglichst eindeutig und präzise zu formulieren und anschließend durch logische, begriffliche oder umgangssprachliche Analyse einer Lösung zuzuführen bzw. nachzuweisen, dass es sich dabei in Wahrheit um philosophische „Scheinprobleme“ handelt oder lediglich sprachliche Missverständnisse vorliegen“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Analytische_Philosophie). In der neueren Philosophiegeschichte „wird niemand (mehr) ernst genommen, der immer noch mit den Modellen ‚Subjekt-Objekt‘ oder ‚Bewusstsein – Gegenstand‘ operiert, in der Semantik Bedeutung und Gegenstand… gleichsetzt, in metaphysischen Fragen das Sein für eine Eigenschaft von Gegenständen hält oder in der praktischen Philosophie Werte und Normen nicht auseinanderhalten kann“.

Auf dieser Basis eines kritischen Wissenschafts- und Wissens-Diskurses setzt sich Schnädelbach mit philosophischen und lebensweltlichen Begriffen auseinander, um der Frage näher zu kommen: Gibt es ein Wissen, das (nur?) Philosophen wissen? Oder ist philosophisches Wissen nicht mehr und nicht weniger als Fachwissen? Wissen die Philosophen, was Wissen ist? Es ist die Grundfrage:„Gibt es auch in der Philosophie Wissen im Sinne wahrer, gerechtfertigter Überzeugungen?“. Ja, sagt der Autor, wenn die Suche nach der Wahrheit auf der Grundlage von Logik und dem Bewusstsein, dass es keine „ewigen Wahrheiten“ gibt, erfolgt.

Die Begriffe „Sinn und Bedeutung“ im Kommunikations- und Auslegungsprozess verbinden sich im philosophischen Diskurs immer, wenn sie „Lebens-Bedeutung“ erlangen sollen, mit der Frage, „ob man zuvor ihre Bedeutung ( ) verstanden hat“. Der Begriff „Urteil“ erweitert den Bedeutungszusammenhang dadurch, dass er das (sprachliche) Beurteilen mit einer eigenständigen Referenz versieht.

Wir sind bei den Begriffen „Denken und Sprechen“ angelangt. Die sprachphilosophischen Reflexionen darüber unternimmt der Autor mit einem historischen und einem existenzphilosophischen Exkurs, bis hin zum „linguistic turn“. Bewusstsein und Sprache sind vom Menschen erschlossene Symbol- und Zeichensysteme; denn „“Wahrheit und Objektivität gibt es nur innerhalb der symbolisch erschlossenen Welt und nicht jenseits ihrer Grenzen“.

Über Philosophie reden heißt auch, über „das Ich und ich“ nachzudenken. Vom Descartschen „Ego cogito, ergo sum“, bis hin zu der emanzipatorischen Forderung – „Lass mich ich sein!“ – stellt sich der weite Weg des philosophischen Denkens dar. Mit Fichte argumentiert der Autor, dass „das ‚ich‘ kein simples Faktum, sondern ein Tun repräsentiert“, und zwar tätig!

Die Begriffe „Subjekt – Objekt“ sieht Schnädelbach als eine „historische, philosophische Last“ an, deren Verwendung sich als irreführend für die Denkprozesse erweisen: „Die Philosophen können … wissen, dass die Schemata ‚ Subjekt und Objekt‘ oder ‚Bewusstsein und Gegenstand“ irreführend und das Resultat einer Deutung von Erkenntnis auf der Grundlage von systematischen Vorurteilen sind, die sich … als uralte Irrtümer erweisen lassen“.

„Selbstbewusstsein“ in der philosophischen Bedeutung beinhaltet die Pole, wie sie von Kant mit „Ich denke“ und von Fichte mit „Ich bin ich“ postuliert werden; und sie lassen Fragen offen, die sich beantworten lassen mit der Annahme, dass „Ich weiß, dass ich …“ – Sätze die „Folge einer subjektiven Prädisposition (sind), die im Fall des unmittelbaren Betroffenseins durch Erlebnisse artikuliert“ werden und Verstehen ermöglichen.

„Gesetze“, als (Natur- und Rechts-)Normen, wurden bereits bei den Vorsokratikern formuliert und im Laufe der Jahrtausende immer wieder neu gedacht, interpretiert, als Ursache-Wirkungs-Denken gesetzt und widerrufen, bis hin zu dem, was Philosophen wissen können, dass sich Naturgesetze nicht länger mit juristischen Gesetzen vergleichen lassen.

Christian Morgenstern hat mit seiner Stichelei, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, auf die alte philosophische Weisheit hingewiesen, dass man nicht von dem, was ist, einfach ableiten könne, was sein soll. “Tatsachenbehauptungen allein rechtfertigen keine normativen Forderungen“. Der Autor greift damit das Phänomen „naturalistischer Fehlschluss“ (naturalistic fallacy, nach George Edward Moore) auf. Denn auch das können Philosophen wissen: „Die Erkenntnis, was der Fall ist, führt nicht unmittelbar, sondern nur durch zusätzliche Prämissen zur Einsicht…“; auch, dass der „Historische Fehlschluss“, wie er sich im Historizismus darstellt und, das sei als Ergänzung des Rezensenten erlaubt, auch im „Ökonomischen Fehlschluss“ zeigt.

Mit dem Begriffspaar „Werte und Normen“ nimmt der Autor den Diskurs in der Moralphilosophie und Ethiklehre auf und erweitert ihn mit der Aufforderung: „Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich nicht zufrieden ist, muss philosophieren“ (vgl. dazu: Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php).

Von der aristotelischen, teleologischen Typologie von „Handlung“, über den kategorischen Imperativ Kants, Max Webers Differenzierung zwischen Handeln und Verhalten, bis zu Jürgen Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ vollzieht sich eine breite und kontroverse Auseinandersetzung, die, bei der Rezeption der verschiedenen Denkansätze, zu der weiteren Erkenntnis führt: „Philosophen können wissen, dass ‚Handlung‘ ein komplexer, analysierbarer Begriff ist“.

„Vernunft“, als „logos“ gewissermaßen das Urgestein der abendländischen Denk- und Zivilisationsgeschichte, nimmt bei Aristoteles Menschengestalt an und wird im Laufe des Nachdenkens über den von Gott gegebenem Verstand, von Natur aus bestehender Eigenschaft und Kant?s „Kritik der reinen Vernunft“, bis hin zum rationalen Denken und Handeln gedeutet und umgedeutet. Was bleibt, und was Philosophen wissen können, ist: „Das wichtigste Merkmal unserer Vernunft ist ihre Fähigkeit zur Selbstkritik“.

Den Abschluss der ausgewählten Begrifflichkeiten bilden: „Analytisch – synthetisch“. Mit den (historischen und semantischen) Unterscheidungen erläutert Herbert Schnädelbach die Grundlagen, wie sie sich in der „Analytischen Philosophie“ darstellen. Dabei legt er den Finger in die Wunde, indem er kritisiert, dass sich die „Abgrenzung zwischen dem analytischen und dem phänomenologischen Philosophieren“ als ein Manko erweist, weshalb „das klassische Profil der Analytischen Philosophie ( ) in der Gegenwart so konturschwach geworden (ist), dass viel dafür spricht, die Situation unseres Faches als ‚postanalytisch‘ zu bezeichnen“.

Fazit

Der Titel des Buches sollte lauten: „Was Philosophen wissen können“. Damit soll deutlich werden, dass die Reflexionen und Beweisführungen, die Herbert Schnädelbach in seinem Buch „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“, unternimmt, unter der Prämisse formuliert werden, dass in der modernen, erkenntnistheoretischen, philosophischen Diskussion gegengesteuert werden muss gegen die allzu oberflächliche und unphilosophische Auffassung, alles wissen zu wollen und zwar sofort und das mundgerecht serviert zu bekommen, ohne Wenn und Aber, sondern dass es anstrengend und verstandesgemäß herausfordernd ist, selbst zu denken! Die Reflexionen und historischen und philosophierelevanten Herleitungen dürften nicht nur Philosophie-Studierenden Nachdenkens- und Diskussionswertes bieten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245