Bernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. [...] im digitalen Zeitalter
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.06.2012
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Bernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2012. 247 Seiten. ISBN 978-3-86962-058-9. 19,80 EUR.
Kontrollverlust als Alltagserfahrung
Ein neuer Begriff und ein Versuch, die Befindlichkeiten der Deutschen zu klassifizieren, geht umher: Es ist die Entwicklung in der öffentlichen Darstellung des Ego in der „Casting-Gesellschaft“, die dazu führt, dass das eigene Image und das eigene Ich miteinander verschmelzen und bei der Schein und Sein der Menschen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Ob in Talkshows, Dschungelcamps, „Big Brother“- Containern oder im eigenen Web-Blog, das Innere und Persönliche wird nach außen gestülpt und wie auf einer öffentlichen Bühne vorgeführt. Es scheint nichts mehr tabu zu sein; Intimität als eine Form der eigenen Persönlichkeit ist aufgehoben; Ich bin öffentlich! – so lautet das Motto der Selbstdarstellung. Öffentliche Aufmerksamkeit erringen, egal aus welchem Anlass oder bei welcher Gelegenheit, ist das Ziel vieler Menschen.
Das, was früher einmal als „Voyeurismus“ bezeichnet wurde, als das Eindringen in persönliche Angelegenheiten, als das „Zur-Schau-stellen“, wird zu einem erstrebenswerten Selbstgucker. Sich als Sängerin oder Sänger zu präsentieren, auch wenn man nicht singen kann, aber dafür viel nackte Haut zeigt, bringt die „Casting-Menschen“ auf die Bühne. Dabei lässt man sich auf einen Tauschhandel ein: Biete Intimes und bekomme dafür Publicity! Die Fernseh- und Filmsternchen haben damit angefangen; die Politiker haben es ihnen nachgemacht. Privates und Öffentliches verschmelzen dabei ineinander. Mittlerweile gibt es Tausende von Web-Anbieter, die es Lieschen Müller und Hans Guck ermöglichen, ihre ganz privaten Fotos und Videos ins Netz zu stellen, egal, welchen individuellen oder gar gesellschaftlichen Wert sie haben. Es kommt nur darauf an, wahrgenommen zu werden; wobei die Wahrheit oft auf der Strecke bleibt. Der Mensch wird zur Nachrichtenware, und die Individualität und Authentizität bleiben auf der Strecke. Da kann man nur „Skandal!“ rufen (Jens Bergmann, Bernhard Pörksen, Hrsg., Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, 2009, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8261.php); oder hat vielleicht die so erzeugte Öffentlichkeit nicht auch etwas Befreiendes und Grenzüberschreitendes an sich, angesichts der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt? Vielleicht sogar Aufklärerisches?
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Skandale gibt es überall, und sie gab es schon immer. Immer dann nämlich, wenn etwas aufgedeckt wird, als Gerücht von Mund zu Mund wandert und heute in den digitalen Medien sich millionenfach im Bild zeigt, wird etwas offenbar, was eigentlich in die Bereiche des Persönlichen und Intimen gehörte. Der als „Journalist unter den bildenden Künstlern“ bezeichnete A. Paul Weber (1893 – 1980) hat 1943 in einer Grafik (Das Gerücht) ein Monster dargestellt, das immer größer wird, dem immer mehr Menschen zufliegen und außer Kontrolle gerät, als Allegorie für eine unaufhaltsame, rufschädigende und vernichtende Aussage. Ins Netz gestellt, kann sie nie wieder aus der Welt geschafft werden. Der unbegründete, vermeintliche oder auch tatsächliche Skandal ist öffentlich und bleibt es! Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht davon, dass „die moderne Gesellschaft … eine ‚skandalisierungsfreudige‘ Lebensform“ praktiziere und „Erregungsvorschläge“ in den Medien geradezu gierig aufnehme. Besonders die kollektive Empörung, die auf angebliche und tatsächliche Normverletzungen folge; „denn der Skandal verletzt eben auch immer wieder Unschuldige oder Kaum-Schuldige und nimmt ihnen ihre Würde“.
Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaften Hanne Detel zeigen in ihrem Buch auf, „es bildet sich im Schatten der allgegenwärtig gewordenen Neigung zur Empörung… ein neues Skandalschema heraus“. Dazu machen sie mehrere Gründe aus: Es sind nicht mehr nur die klassischen Enthüller, wie etwa Journalisten, die Skandalisierungsprozesse in Gang setzen, sondern es kann heute praktisch jeder öffentlich im Social Web skandalisieren. Die Instrumente dazu, Handy, Digitalkamera, Computer und andere Technologien sind heute für jedermann verfügbar. Während früher die „klassischen Opfer“ sich im überwiegend persönlichen Umfeld der Verursacher bewegten, lassen sich Informationen und Bilder weltweit verbreiten. Das Themenspektrum des Skandalierens weitet sich aus, und Interessantheit dominiert Relevanz. Es gibt keine Regularien und Normensetzungen mehr. Dadurch bilden sich neue Formen der Ungewissheiten, und ein ins Netz gestellter Verdacht wird zur Wahrheit. Schließlich: Kontrolle und Möglichkeiten zur Richtigstellung von Skandalmeldungen werden unwirksam. Während die einen durch die Online-Medien die totale Transparenz und damit gewissermaßen das Recht der Menschen auf Informationsfreiheit feiern, sehen die anderen in den skandalträchtigen Meldungen die Aufhebung der zeitorientierten Erinnerung und damit, im positiven wie im negativen Sinn, eine neue Zeitform, bei der „das Medium ( ) nicht die Botschaft (ist), aber Spuren des Mediums, die Eigenschaften der Werkzeuge ( ) in der Botschaft selbst manifestiert (werden)“.
Aufbau und Inhalt
Das Autorenteam legt ein Essay vor, mit dem sie anhand zahlreicher Fallbeispiele eine polymorphe Analyse vornehmen: „Das digitale Zeitalter hat seine eigene Schönheit und seinen eigenen Schrecken“. Beeindruckende Strahlkraft und abstoßende Brutalität wechseln sich zeitlos und unvermittelt ab, und durch die (subjektive) Auswahl von besonders charakteristischen Situationen gelingt es Pörksen und Detel „das Darstellungskorsett einer klassischen wissenschaftlichen Abhandlung aufzubrechen und aufzulockern, Inszenierungsstile und Inszenierungsbrüche sichtbar zu machen und die Skandalgeschichten möglichst aus der Nähe und ohne die Distanzformeln der üblichen akademischen Abhandlungen zu erzählen“.
Neben dem einführenden Teil, mit dem der „entfesselte Skandal“ eingerundet wird in die neuen Formen von medialer Fingerzeige, gliedern der Autor und die Autorin das Buch in drei Kapitel: „Die neuen Enthüller und die alten Medien“ – „Die neuen Opfer und die Macht des Publikums“ – „Die neuen Technologien und die Möglichkeit der gnadenlosen Dokumentation“, und sie beschließen das Essay mit einem Resümee: „Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“.
Zwar erübrigen sich die klassischen Medien und die Journalistinnen, Journalisten und Redakteure, die als Informations- und Weltbildgeber für das lesende, im Radio hörende und im Fernsehen zuschauende Publikum auftreten, nicht völlig; doch durch die globale Ausweitung der Informationsquellen verändert sich das traditionelle Bild vom (aktiven) Sender und (passiven) Empfänger: „Jeder Mensch ist heute ein Sender, zumindest potentiell“. Diese Veränderungen im Aufmerksamkeits-, Informationsverhalten und aktivem Eingreifen in der digitalen Kommunikationswelt verdeutlichen die Autoren anhand von vier Beispielen:
- Zum einen die Entstehungsgeschichte und Wirkungen des so genannten „Drudge Reports“ (1998), mit dem die Sex-Affaire des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, mit einer Praktikantin im Weißen Haus weltöffentlich wurde;
- zum anderen die eher aus mangelnder Medienkompetenz von einer gelangweilten Sekretärin im Büro des republikanischen Senators Mike DeWine in Washington ins Netz gestellte und nur für ihre Freundin gedachten Tagebuch-Online-Berichte über Alkoholexzesse, Partys und Sex-Eskapaden mit „sechs Kerlen“, alle seriöse Regierungsmitglieder und einflussreiche Männer- Die Sekretärin Jessica Cutler, die sich im Internet „Washingtonienne“ nennt und zu spät merkt, dass ihre Berichte längst weltweite Aufmerksamkeit finden und mit ihrer „Illusion der Intimität“ scheitert;
- drittens das „Dokument einer Menschenjagd“, mit dem der Einsatz einer US-amerikanischen Hubschrauberbesatzung gefilmt wird und die Kommentare der Soldaten dazu aufgezeichnet werden. Der 2009 22-jährige Soldat Bradley Manning entdeckt das Video in den Datenbeständen eines Armeejuristen und schickt es an die Enthüllungsplattform WikiLeaks, die den knapp 40-minütigen Film unter dem Titel „Collateral Murder“ ins Netz stellt. Der sich daraus entwickelnde Skandal um den Informanten, der wegen Geheimnisverrats zu einer jahrzehntelangen Freiheitsstrafe verurteilt wird, und um den WikiLeaks-Gründer Julian Assange machen die „Unbeherrschbarkeit der Daten“ deutlich;
- und viertens der Plagiatsvorwurf 2011 gegen den damaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Während die Vorwürfe anfangs in den klassischen Medien bekannt gemacht und zuerst vom Beschuldigten und seinem Apparat auch mit den traditionellen Mitteln der Zurückweisung, der Leugnung und Bagatellisierung selbstsicher begegnet wurden, eskalierte der Skandal bald durch die sich massiv im Internet vollziehenden Diskussionen. Das Beispiel zeigt „die Kraft eines Schwarms“.
Im nächsten Kapitel werden die „neuen Opfer und die Macht des Publikums“ thematisiert. Während ein Skandal als öffentliches Kommunikationsereignis in der wissenschaftlichen Terminologie einerseits verstanden wird als Bekanntmachung einer „moralischen Verfehlung von hochgestellten Personen und Institutionen“, und die Aufmerksamkeit bei der Aufdeckung eines Skandals gewissermaßen von der Fallhöhe abhängt, die zum Absturz eines vorher Beachteten führt, wie dies Johannes Gross in seiner „Phänomenologie des Skandals“ (2002) formuliert, gehen Pörksen und Detel davon aus, dass sich digitale Skandalgeschichten heute auch gegen Ohnmächtige und Unschuldige richten, wie auch gänzlich Unbekannte zu zweifelhaften Ad-hoc-Berühmtheiten werden können und zu „Skandalen zweiter Ordnung“ werden. Vier Fallbeispiele werden präsentiert.
Als sich am 12. Mai 2008 in der südwestchinesischen Provinz Sichuan ein Erdbeben ereignet, das fast 70.000 Menschen das Leben kostet und Hunderttausende verletzt werden, ordnet die Regierung eine dreitägige Staatstrauer an, was zur Folge hat, dass auch Webportale ihren Zugang in der Zeit einstellen. Die 21-jährige Chinesin Gao Qjanhui sitzt im Internetcafé und ist sauer, dass sie nicht ihr Lieblings-Online-Spiel zur Verfügung hat. Fünf Minuten lang spricht sie auf ihr Webcam ihre Wut und ihren Hass über ihr erzwungenes Untätigsein, wobei sie auch den Opfern der Erdbebenkatastrophe Schuld daran gibt. Sie stellt den Film auf die Videoplattform You Tube, und ist sich scheinbar überhaupt nicht im Klaren darüber, dass die Aufnahme weltweit zu sehen sein wird. Die sich bald darauf entwickelnden Proteste führen zu einer wahren Treibjagd im Netz, der von den Autoren als „rachsüchtiger Cybermob“ bezeichnet wird und wenige Tage später zu ihrer Verhaftung führt.
Die 20-jährige chinesische Sprachstudentin an der amerikanischen Duke University Wang Qjanyuan gerät zufällig am Abend des 9. April 2008 in eine aggressive Auseinandersetzung zwischen pro-tibetischen und pro-chinesischen Demonstranten. Sie versucht dabei als Dolmetscherin zwischen den beiden Fronten zu vermitteln, was dazu führt, dass sie, weil sie bei ihren Aktivitäten gefilmt und die Clips ins Internet gestellt werden, in ihrem Heimatland China als Verräterin und Spionin gebrandmarkt und ihre Familie Angriffen und Morddrohungen ausgesetzt sind. Gleichzeitig erfährt sie in den USA und an der Universität Zustimmung und Unterstützung für ihr Engagement. Die Studentin nimmt den Konflikt, dass sie in der Fremde gelobt und in ihrer Heimat gehasst wird, an und setzt sich öffentlich und im Internet dafür ein, „aus diesem scheinbaren Schicksalsschlag eine positive Erfahrung und eine Chance für alle anderen Han-Chinesen, Tibeter und Amerikaner zu machen, etwas zu lernen und dadurch zu wachsen“.
Die Frage, welche Farbe ein Chamäleon annimmt, wenn man es auf einen Spiegel setzt, wird zur Metapher für das nächste Beispiel: „Der gedemütigte Ehemann und der Scheidungskrieg von Tricia Walsh-Smith“. Die eher erfolglose Schauspielerin inszeniert ein Filmchen, auf dem sie sich als Opfer einer Scheidungsauseinandersetzung darstellt und stellt es auf You Tube. Die Präsentation wird in Kürze millionenfach angeklickt, und es entwickelt sich eine kontroverse Diskussion um Opfer- und Täterschaft in diesem Scheidungskrieg. Vom Erfolg geblendet, produziert Tricia Walsh-Smith weitere Filme, in denen sie ihre Forderungen auf Entschädigung dramatisch spielt. Doch der richterliche Scheidungsspruch endet zu ihrem Nachteil, das Interesse der User lässt bald nach und ihre Bemühungen, mit der Aktion eine eigene Show im amerikanischen Fernsehen zu starten, zerschlagen sich.
Über einen „digitalen Pranger“ informiert das nächste Beispiel. Der 25-jährige englische Student Thomas Sawyer ersteigert 2003 bei eBay ein Büro-Notebook von amir6626 für 375 Pfund. Als das Gerät eintrifft, stellt er fest, dass es nicht funktionstüchtig ist und im übrigen nicht den Beschreibungen im Internet entspricht. Er will den Kauf rückgängig machen, aber der Verkäufer hat seinen Eintrag gelöscht und ist nicht erreichbar. Aus Rache stellt nun Sawyer einen anonymisierten Eintrag ins Internet, in dem er vorgibt, Amir zu sein und sich lustig über den gelungenen Betrug macht.
Im nächste Kapitel „Die neuen Technologien und die Möglichkeiten der gnadenlosen Dokumentation“ werden sieben Fallbeispiele geschildert, die zeigen, dass, wer „einen Empörungsvorschlag lancieren, wer einen Skandal auslösen möchte, der hat heute alle Chancen, dies zu tun“. Der Skandal, der „die Fotos von Abu Ghraib und die moderne Augenzeugenschaft“ hervorrief. Es sind die diskriminierenden und kaum fassbaren Brutalitäten, Zurschaustellungen und naiven rassistischen Höherwertigkeitsvorstellungen, die den Atem stocken lassen. „Nicht die Bilder selbst sind es, die empören und noch heute schockieren. Es ist, ganz unmittelbar, ganz direkt, die Realität des Gezeigten“.
Wenn zwei sich streiten, filmt der dritte, so könnte man die Situation beschreiben, die im nächsten Fallbeispiel diskutiert wird: „Der Handyfilm aus Hongkong und das Mobiltelefon als Allzweckwaffe“. Eine eher alltägliche Situation, dass ein Fahrgast in einem öffentlichen Bus, der sich von einem anderen, lauthals und rücksichtslos telefonierenden Passagier gestört fühlt und dies ihm durchaus höflich zu verstehen gibt und von diesem aggressiv und tätlich angegriffen wird (Szenen, die einem im Zug oder einem anderen öffentlichen Verkehrsmittel, auf der Straße, im Café … immer wieder begegnen), wird von einem Dritten mit seinem Handy gefilmt und von diesem ins Internet gestellt. Nach wenigen Tagen wird das YouTube-Video bereits von rund 6 Millionen Benutzern abgerufen und Hunderte benutzen den Clip, um Mashups zu produzieren, mit Musik untergelegt und ergänzt durch weitere Szenen. Aus dem eher ärgerlichen Alltagsereignis ist ein Hype geworden, und derjenige, der sich gegen die Rücksichtslosigkeit des Handy-Telefonierers zur Wehr setzt, wird zum „Bus-Uncle“ und zum „Bus-Police“ stilisiert.
Die Geschichte von der „fatalen E-Mail und der Leichtigkeit des Missgeschicks“ geht so: Zwei Angestellte einer Behörde tauschen scheinbar schon über längere Zeit E-Mails über ihre Freizeiterfahrungen, Stimmungen, Langeweile und Stress aus, persönlich und intim. Durch ein Missgeschick leitet die eine von ihnen ihre Mail-Litaneien nicht an die Adressatin, sondern an den Abteilungsverteiler der Behörde. Ihre Korrespondenz mit der Kollegin wird öffentlich und führt nicht nur zu einer Missbilligung durch den Vorgesetzten, sondern auch, wohl durch schadenfreudige oder missgünstige Mitarbeitern, zur Weitergabe an die Presse und die digitalen Medien. Innerhalb kürzester Zeit landet die pikante Korrespondenz auf mehreren Plattformen, und die Texte werden von Bloggern sogar ins Englische übersetzt. Für das Autorenteam ist die Geschichte Anlass, über Motive, Reaktionen und Wirkungen nachzudenken und die Folgen dieser sicherlich nicht einzigartigen Tratscherei am Arbeitsplatz zu analysieren: „Anonymität enthemmt“ bezeichnen sie die Situation; und die Ergebnisse: Entlassung, Verbot von privaten E-Mail-Kontakten während der Arbeitszeit und keinerlei Chance auf Tilgung des „Tippfehlers“ im Internet.
SMS als neue, schnelle Kommunikationsform wird im nächsten Fallbeispiel dargestellt: „Die verräterische SMS und die Ökonomie der Moral“. Es geht um die Geschichte des berühmten und erfolgreichen Golfspielers Tiger Woods, die sich als „Tigergate“ in die Öffentlichkeit eingeschrieben hat. Rund 300 SMS-Botschaften zwischen seiner Geliebten und Tiger Woods haben die Affaire im Netz bekannt gemacht. Die Geliebte, die Kellnerin Jaimee Grubbs, tingelt mit ihrer „öffentlichen Beichte“ durch Talkshows, Interviews, und macht sich somit zu einer „öffentlichen Person“, durchaus mit der Spekulation, davon zu profitieren. Der Sportler muss befürchten, als bestbezahlte Werbefigur nicht nur moralisch, sondern auch finanziell Schaden zu nehmen; was dann auch geschieht. Für die Meinungs- und Geschäftemacher allerdings entwickelt sich ein Konkurrenzkampf: Während die Börsenwerte der Produkte, für die Tiger Woods warb und seinen (guten) Namen hergab, sanken, stiegen die Auflagen der Klatsch- und People-Magazine an.
Ein „Kontrollverlust im digitalen Zeitalter … entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt“; so die Definition. Im Fallbeispiel geht es um „die peinliche Twitter-Meldung und die Natur der Sexualität“. Der demokratische Kongressabgeordnete und Bewerber für das Amt des Bürgermeisters von New York, Anthony Weiner, gilt (galt) als einer, der „geradeheraus sagte, was er denkt (dachte)“. So kündigt er bereits frühzeitig an, dass er offensiver und freimütiger mit Twitter- und Facebook-Kommunikation umgehe als andere Politiker; und er vermute, dass er damit irgendwann Fehler mache, die ihm schaden könnten. Diese eher gespielt und leicht dahergesagte „Vorhersage“ erfüllte sich am 21. Juni 2011, als er nach Bekanntwerden seiner freizügigen Informationen über seine Sexaffairen im Internet – nach den üblichen (und bekannten) Strategien, erst einmal alles abzustreiten, dann scheibchenweise zuzugeben und mit seiner „Dummheit“ zu entschuldigen – von seinem Amt zurücktreten musste.
In der Print- und medialen Öffentlichkeit ist der „Streisand-Effekt“ bekannt als „kommunikative Paradoxie“: Informationen, die man unterdrücken und verbieten möchte, werden gerade dadurch bekannt und erhalten eine Aufmerksamkeit, die sie ohne Kontroll- und Zensurversuche nicht bekommen hätten. Es geht um „die Social-Media-Kampagne von Greenpeace und die Ohnmacht der Macht“ von Nestlé, die sich gegen das Informationsprojekt der Umweltorganisation zur Wehr setzt, die Folgen der Palmölproduktion für den indonesischen Regenwald und die dort lebenden Orang-Utans publik zu machen. Durch virtuelle Plattformen, Facebook und anderen Netzwerken, entwickelt sich ein millionenfacher Protest, der beispielhaft den Schokoriegel KitKat und andere Nestlé-Produkte an den Pranger stellt und zu enormen Ansehens- und ökonomischen Verlusten der Marke führt, mit dem Ergebnis, dass nach zahlreichen Fehleinschätzungen der Firmenstrategen und wachsender Öffentlichkeitswirksamkeit am 17. Mai 2010 der Konzern verkündet, künftig Rohstoffe nur noch aus nachhaltiger Produktion zu kaufen und strengste Standards bei der Verarbeitung anzulegen
Als der damalige Student und Praktikant in einem Frankfurter Kinderladen 1975 in einem Polit- und Softporno-Magazin schildert, wie sehr er überrascht und verwundert sei, wie kleine Mädchen ihn, den jungen Mann erotisch „anmachten“, fand diese Schilderung in der Öffentlichkeit keinerlei Aufmerksamkeit. Erst 30 Jahre später wird der jetzige Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit damit konfrontiert; und in der Suchmaschine wird kombiniert: „Daniel Cohn-Bendit Kinderschänder“. In der medialen Wahrnehmung und Frontstellung zu „Gegnern“, wie etwa den „Linken“, dient diese wohl eher ursprünglich harmlose und mit einem überraschenden und ungeübten Forscherblick wahrgenommene Situation zur Waffe und zur Frage „vom Umgang der Linken mit der Pädophilie“. Die altbekannte Vermutung – „Irgend etwas wird schon dran sein“ – wirkt, trotz Richtigstellung und überzeugender Auseinandersetzung, im Netz um so deutlicher, als das, was geschrieben, gesagt, gesungen oder vorgemacht in den Netzwerken erscheint, niemals wieder zunichte gemacht werden kann.
Fazit
Die faszinierende, in der klugen Auswahl der Fallbeispiele animierende Betrachtung über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer Kontrolle von Informationen, Daten und Bildern im digitalen Zeitalter ist ein Ritt durch den meist ganz normalen Alltag von Nutzern der neuen Medien. Geschichten, bewusst und bedacht, wie auch unbewusst und unbedacht, oder auch selbst gar nicht veranlasst und gewollt, ins Netz gestellt, können sich zu „entfesselten Skandalen“ entwickeln. Damit der User nicht als Looser dasteht und ohnmächtig dem vermeintlich unkontrollierbaren Treiben in den Sozialen Netzwerken und Plattformen ausgesetzt ist, lassen die Autoren Pörksen und Detel den britischen Kybernetiker und Anthropologen Gregory Bateson /1904 – 1980) zu Wort kommen, der bei der Suche nach dem, was ist, davon ausging, dass „die Operation des Unterscheidens und die Wahrnehmung von Differenzen … als gemeinsames Grundmuster (erscheint), das allem Lebendigen eigen ist und … das Wesen des Geistes ausmacht“. Ob sich der in diesem Zusammenhang von den Autoren formulierte „kategorische Imperativ des digitalen Zeitalters“ als pessimistisch, realistisch oder gar optimistisch anhört, ist sicherlich einer Frage wert: „Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt“. Die Unfähigkeit und Unmöglichkeit, absolute Gewissheiten und alleine Wahrheiten zu verkünden, gewinnt durch die Unsicherheiten und Unhabbarkeiten von digitaler Kommunikation den Wert, der Menschsein ausmacht: Selbst zu denken und eigen- und gemeinschafts-verantwortlich zu handeln mit allen Sinnen und technischen Instrumenten im digitalen Zeitalter.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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