Thomas Geier: Interkultureller Unterricht
Rezensiert von Gloria von Papen Robredo, 29.05.2012

Thomas Geier: Interkultureller Unterricht. Inszenierung der Einheit des Differenten.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
309 Seiten.
ISBN 978-3-531-18013-7.
49,95 EUR.
Reihe: Bildung und Gesellschaft.
Thema
Vor dem Hintergrund einer pluralen und ausdifferenzierten Gesellschaft besteht das Ziel des Autors darin, durch eine qualitative Forschung die Praxis Interkultureller Pädagogik sowie das Verhältnis zwischen pädagogischer Programmatik, interkulturellem Unterricht und institutionalisierter schulischer Praxis auf der Handlungsebene zu analysieren und dabei die Frage nach der Didaktik und der Interaktionslogik der Verhandlung der für die Interkulturelle Pädagogik relevanten Themen unter den Bedingungen von Schule zu beantworten.
Um reale Einblicke in die Mikrologik des interkulturellen Unterrichts und seine Bildungspraxis zu gewinnen, rekonstruiert der Autor mit empirischen Daten aus audiovisuellen Aufzeichnungen des Unterrichtes, Beobachtungen, Textprotokollen und Gruppendiskussionen eine Einzelfallstudie. Diese interpretiert er nach den Prinzipien der Objektiven Hermeneutik, um die empirische Wirklichkeit des interkulturellen Unterrichts sowie die Subjektivität bzw. unterrichtsbezogenen Deutungsweisen lehrer- und schülerseits vor dem Hintergrund objektiver Sinnerschließung zugänglich zu machen. Die Arbeit erhebt einen explorativen Erkenntnisanspruch, denn interkultureller Unterricht ist als solcher bisher noch nicht rekonstruiert worden.
Autor
Dr. Thomas Geier hat an der Universität Duisburg-Essen in der Fakultät für Bildungswissenschaften promoviert und arbeitet im Zentrum für Schul- und Bildungsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Entstehungshintergrund
Im Rahmen seiner Dissertation hat der Autor nach den Regeln der Objektiven Hermeneutik eine empirische Untersuchung des interkulturellen Unterrichtes im Fach Praktische Philosophie durchgeführt. Die Analyse des Kontextes, die Entstehung, die Interpretation und die theoretische Würdigung der Daten aus dieser Untersuchung wurden für die Veröffentlichung nur geringfügig überarbeitet.
Aufbau
Das Buch beinhaltet eine detaillierte Darstellung des Forschungsprozesses und dessen Ergebnissen. Zur Verdeutlichung der Relevanz der Fragestellung und der empirischen Erkenntnisse werden zuerst die Theorie und Diskurse Interkultureller Pädagogik geschildert. Anschließend werden die Methodologie und vier aus den empirischen Erkenntnissen gewonnene exemplarische Fallminiaturen der schulischen Praxis erläutert. Am Ende erfolgt eine theoretische Würdigung dieser Rekonstruktionen. Die Publikation ist nach einem kurzen Vorwort des Autors und einer kurzen Einleitung in fünf Kapitel gegliedert. Im Anhang befinden sich zwei Unterrichtsprotokolle und das Protokoll der Gruppendiskussion.
Inhalt
Im Kapitel A werden die Entwicklungslinien und unterschiedlichen Positionen innerhalb der Interkulturellen Pädagogik beschrieben. Zuerst erfolgt die Erläuterung der Ausländerpädagogik der 1970er Jahre als eine Reaktion auf die damalige Arbeitsmigration, deren Kritik den Ursprung der Interkulturellen Pädagogik bildet. Letztere stellte das Bild einer homogenen Gesellschaft in Frage und dementgegen basierten ihre Theorie und Praxis auf dem Modell der multiethnischen Gesellschaft. Dies führte zu einer Diskussion zwischen kultursoziologisch argumentierenden und gesellschaftheoretisch inspirierten Ansätzen und somit zu differenzierten Positionen im Diskurs der Interkulturellen Pädagogik. Von diesen Positionen werden die aus der konstruktivistischen Erziehungswissenschaft, der Antidiskriminierungspädagogik, der systemtheoretischen Erziehungswissenschaft und der neuen Migrationstheorie in vier Unterkapiteln genauer erläutert. Darüber hinaus werden die aus dieser Diskussion entstandene kritische Reflexion und Selbstbeschränkung der Interkulturellen Pädagogik in einem letzten Unterkapitel erörtert, wobei Kultur in einem weiten Horizont verstanden wird, der machtsensibler ist und sich auf die Lebenswelt des Individuums und seiner Deutungsmuster bezieht. Vor diesem Hintergrund erklärt der Autor das Ziel seiner Forschung, interkulturellen Unterricht als eine organisationsspezifische Form der Bewältigung gesellschaftlicher Pluralität in der Institution Schule zu untersuchen.
Im Kapitel B wird die Objektive Hermeneutik sowohl als Methodologie mit ihren theoretischen Begründungen, Begrifflichkeiten und Voreinstellungen als auch als konkrete Forschungsmethode erläutert. Dieser von Oevermann entwickelten Methode unterliegt das Ziel, objektive intelligible Sinn- und Bedeutungsstrukturen in protokollierter Gestalt empirisch zu erforschen, um Subjektivität vor dem Hintergrund objektiver Sinnerschließung zugänglich zu machen. Grundlegende Konzepte der Methodologie, wie z. B. der Normenbegriff, Sequenzialität, Deutungsmuster und Subjektivität, werden in diesem Kapitel einzeln definiert. Schließlich werden die Fallbestimmung sowie die konkreten Auswertungsschritte, die Strukturhypothese, die Generalisierung und die Strukturbestimmung des Falles beschrieben, um die Entscheidung für die Rekonstruktion interkulturelles Unterrichts als Forschungsobjekt sowie die Gegenstandsadäquatheit der Methode zu erklären.
Im Kapitel C werden vier Fallminiaturen, d.h. Sequenzen, aus den Protokollen der schulischen Praxis interkulturellen Unterrichts, im Detail dargestellt. Diese dienen aufgrund der extensiven Rekonstruktion zur Darstellung und Plausibilisierung von Ereignissen sowie zur sinnbildlichen Verdichtung des Themas. Die ausgewählten Sprechakte werden zunächst in ihrer Gesamtgestalt genannt und danach in einzelnen Sequenzen und teilweise sogar Wort für Wort analysiert. Folglich werden die Grundstrukturen ebenfalls interpretiert, wobei immer nach dem objektiven Sinn der Sprechakte gesucht wird. Aus diesen Analysen entsteht folgende zentrale Strukturhypothese: Interkultureller Unterricht ist die normative Behauptung der Einheit des Differenten. Denn bei der untersuchten schulischen Praxis werden kulturelle, soziale und physische strukturierende Ordnungen konstruiert, die jedem Schüler eine bestimmte Kultur zuweisen und somit innerhalb der Gruppe eine Homogenität und außerhalb der Gruppe eine Kulturdifferenz unterstellen. Dabei werden diese künstliche kulturelle Zuordnung der Schüler sowie die Ausschließung von Mehrfachzugehörigkeiten und diese Art der Unterrichtsgestaltung als Ort der Bearbeitung kultureller Differenzen kritisiert. Im letzten Unterkapitel wird aus den Daten der Gruppendiskussion die eigene Erarbeitung der Sinnkontexte der Schüler und ihr Kulturverständnis rekonstruiert und analysiert.
Im Kapitel D erfolgt die Reformulierung der Strukturlogiken der Miniaturen im Kontext von Theorien aus drei Theorieschulen. Im ersten Unterkapitel werden professionalisierungstheoretische Reflexionen aus zwei grundsätzlichen Perspektiven – von Oevermann und von Helsper - durchgeführt, mit denen das Arbeitsbündnis zwischen Lehrern und Schülern als nicht professionell und nicht standardisierbar und in einer Antinomie von Selbstständigkeit, Autonomie und Zwang betrachtet wird. Danach schließt sich die Durchführung von Analysen der Selbst- und Fremdzuschreibungen, Macht, dominanten und fragilen Ordnungen aus den Perspektiven der Identitäts- und Diskurstheorie an, mit denen das asymmetrische Verhältnis der schulischen Interaktion, die Ordnung einer gruppeninternen Homogenität und externen Differenz nach Abstammungskriterien erklärt werden. Im dritten Unterkapitel werden der Inszenierungscharakter des interkulturellen Unterrichts sowie die spielerische Reaktion der Schüler ebenfalls mit Hilfe von Theorien kritisch reflektiert. Dabei geht es um die Inszenierung des Gelingens der Thematisierung und Bearbeitung kultureller Differenzen sowie um das Versagen einer realen Bewältigung der Anforderungen radikaler Heterogenität.
Im Kapitel E wird ein kurzes Fazit der Ergebnisse zu Subjektivierungsweisen und kulturhomogenen Artikulationsräumen im interkulturellen Unterricht dargestellt. Denn nicht nur die Thematisierung kultureller Differenz, sondern auch die Einführung und Zuschreibung kulturalistischer Unterscheidungen wurden bei der Untersuchung beobachtet und rekonstruiert. Dabei werden die Artikulationsräume, die der Unterricht eröffnet und verschließt, kritisch als die Inszenierung der Einheit des Differenten diskutiert. Anschließend erfolgt die Formulierung weitergehender Forschungsfragen, wie z. B. nach dem Bezug zur allgemeinen Unterrichtsforschung und Didaktik.
Diskussion
Die Entwicklung der Hauptthese der Untersuchung, mit der die Frage nach der Didaktik und Interaktionslogik interkulturellen Unterrichtes beantwortet wird, soll auf der Grundlage der detaillierten Analyse der empirischen Daten mit den Fallminiaturen im Kapitel C nachvollziehbar werden. Die Leistung des Werkes liegt aber nicht nur in der Sauberkeit der Interpretation und Anwendung der Methodologie, sondern vor allem in der theoretischen Würdigung (Kapitel D) der Ergebnisse dieser Rekonstruktion, mit der die Bedeutung der nicht intendierten Wirkungen der Praxis Interkultureller Pädagogik in diesem institutionellen Rahmen problematisiert wird. Die sich daraus ergebenden Ordnungsstrukturen von Unterricht erweisen sich nicht nur als problematisch, sondern als nicht länger wünschenswert. Denn das Konzept interkulturellen Unterrichts entspricht mit seinem Ideal homolog bestimmbarer national-ethnisch-kultureller Handlungsräume und Identitätszuweisungen den Mehrfachzugehörigkeiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht und eröffnet den Schülern nur eine spielerische Positionierung, welche mit dem Inszenierungskonzept abgebildet wird. Mit dieser Analyse werden die strukturbedingten Widersprüche der Praxis Interkultureller Pädagogik deutlich.
Fazit
Das Werk schildert eine sehr detaillierte Analyse der Praxis Interkultureller Pädagogik, mit der die Frage nach der Didaktik und Interaktionslogik der Verhandlung relevanter Themen unter den institutionellen Bedingungen von Schule auf Grundlage empirischer Daten beantwortet wird. Diese Analyse geht über die Beschreibungsebene hinaus und stellt mit einem deutlichen theoretischen Fundament die rekonstruierten Ordnungsstrukturen infrage, wobei insbesondere die latenten Widersprüche, die aus der Thematisierung kultureller Zugehörigkeit im Unterricht entstehen, diskutiert werden.
Rezension von
Gloria von Papen Robredo
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Zitiervorschlag
Gloria von Papen Robredo. Rezension vom 29.05.2012 zu:
Thomas Geier: Interkultureller Unterricht. Inszenierung der Einheit des Differenten. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
ISBN 978-3-531-18013-7.
Reihe: Bildung und Gesellschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13320.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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