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Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Jutta Hagen, 08.06.2012

Cover Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse [...] ISBN 978-3-89965-491-2

Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen. VSA-Verlag (Hamburg) 2012. 199 Seiten. ISBN 978-3-89965-491-2. 18,80 EUR.

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Thema

Mit diesem Buch nehmen sich Dahme und Wohlfahrt eine kritische Analyse moderner Gerechtigkeitsdiskurse vor. Ihr durchgehender Nachweis gilt der von ihnen aufgedeckten affirmativen Normativität, die sie als gemeinsames Merkmal dieser Diskurse kennzeichnen. Sie wollen zeigen, dass ein normativer Zugang sehr prinzipiell ungeeignet ist, die kapitalistische Realität zu erfassen und zu kritisieren. Gerechtigkeitsdiskurse würden, statt Markt und Staat zu erklären, diese als „Ermöglichungssubjekte der Produktion und Nichtproduktion von Gerechtigkeit“ (S. 13) bestimmen. Die Autoren plädieren dagegen für „mehr Aufklärung statt mehr Normativität“ (S. 9). Sie verstehen ihr Buch nicht als Beitrag zu einem normativen Diskurs, sondern argumentieren dafür, sich der „Analyse der realen politischen Ökonomie des Kapitalismus zuzuwenden“ (S. 9). Die in diesem Sinne von ihnen geforderte Aufklärung lösen Dahme und Wohlfahrt schließlich selbst ein, indem sie die Theorien der Gerechtigkeitsdiskurse mit ihren Analysen von Kapital und Staat konfrontieren, vielfach unter Rückbezug auf Marx und Hegel.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst 199 Seiten, incl. Literatur. Es ist in vier Teile und insgesamt 15 Kapitel gegliedert.

Im ersten Teil werden in sechs Kapiteln „Grundbausteine moderner Gerechtigkeitstheorien“ dargelegt:

  1. Was ist der Gegenstand von Gerechtigkeitstheorien?,
  2. Gerechtigkeit und Markt,
  3. Gerechtigkeit und Staat,
  4. Gerechtigkeit und Gleichheit,
  5. Gerechtigkeit und Moral,
  6. Gemeinschaft(lichkeit) als Katalysator sozialer Gerechtigkeit

In diesem ersten Teil führen Dahme und Wohlfahrt in den Gegenstand und ihre grundlegende Kritik an modernen Gerechtigkeitsdiskursen ein. Sie legen dar, dass (die meisten) Gerechtigkeitstheorien den gemeinsamen Ausgangspunkt haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse von Arm und Reich zu kritisieren und eine Verbesserung der Lage der Armen anzustreben. Dabei hätten sie jedoch zur selbstverständlichen theoretischen Grundlage die „Anerkennung und Unterwerfung unter eine (Staats-)Gewalt, die die Konkurrenzbedingungen Freier und Gleicher herstellt und sichert“ (S. 17) und würden insofern die kapitalistische Ordnung wie eine Naturnotwendigkeit als einzig denkbare Organisation von Gesellschaft unterstellen. Das halten Dahme und Wohlfahrt für die zentrale und folgenschwere Affirmation. Während noch Rousseau klar gewesen sei, „dass das Recht soziale Ungleichheit sichert und nicht beseitigt“ (S. 34), würden nämlich Rawls (als ein prominenter Vertreter des Diskurses) und andere den Staat für das Gegenteil zuständig erklären, nämlich für die Abmilderung sozialer Ungleichheit.

Im zweiten Teil sind „Gerechtigkeitstheoretische Konstruktionen sozialer Wirklichkeit“ von namhaften VertreterInnen des Diskurses Gegenstand:

  • Kapitel 7: John Rawls – Eine Theorie der Gerechtigkeit;
  • Kapitel 8: Amartya Sen – Freiheit als Gerechtigkeit und Bedingung von Selbstverwirklichung,
  • Kapitel 9: Anerkennung statt Umverteilung? – Axel Honneths und Nancy Frasers „differenztheoretische“ Gerechtigkeitskonzeption, incl. einem Exkurs zu Honneths neuestem Werk: Das Recht der Freiheit (2011),
  • Kapitel 10: Niklas Luhmann – Gerechtigkeit als Rechtsgenerierung, Kapitel 11: Wolfgang Kersting – Gerechtigkeit erfordert Ungleichheit.

Hier nehmen die Autoren sich vor, zentrale Gedanken ausgewählter Gerechtigkeitskonstruktionen an den Kernsätzen ihrer VertreterInnen darzulegen und den jeweiligen ideologischen Gehalt herauszustellen. Dabei unterziehen sie Positionen von links bis konservativ-rechtfertigend ihrer kritischen Analyse und kommen bei allen zu dem Urteil, dass auf je besondere Weise affirmative Theoriebildung vorläge.

Mit dem Standpunkt „Differenzen seien gerecht, wenn alle etwas davon haben“ (S. 91) billige Rawls die ökonomische Ungleichheit, von der er ausgehe, die er aber zugleich rechtfertigen wolle, weshalb für ihn „das Gesetz ein wichtiger Gerechtigkeitsgarant“ sei, denn „Ein Gesetzessystem ist ein System öffentlicher Zwangsregeln, die sich an vernunftbegabte Menschen wenden, um ihr Verhalten zu regeln“ (S. 93). Dabei sei Rawls selbstverständlich, dass „vernünftige Menschen einen Zwang brauchen“ (S. 93), was zeige, dass er „bei der Explikation seiner Gerechtigkeitsvorstellungen ´die Mitglieder moderner westlicher Demokratien’ als Maßstab immer schon vor Augen“ (Ritsert 1997:105, zitiert S. 92,93) habe, mit seinen Gerechtigkeitskonstruktionen also auf die Rechtfertigung der vorfindlichen Staatsraison zusteuere.

Sen hingegen wendet sich gegen Rawls Vorstellung, „Gerechtigkeit würde sich über eine bestimmbare Anzahl Grundgüter“ (S.98) herstellen. Sen wird eingeführt als Vertreter einer ebenfalls zentralen Kategorie im Gerechtigkeitsdiskurs, der Freiheit (S. 97). Er bestimmt Freiheitseinschränkungen als das entscheidende Gerechtigkeitsproblem und wendet sich damit gegen eine materialistische Bestimmung von Armut. Gerechtigkeit wird nach Sen erreicht durch die Befähigung von Personen (und dabei denkt er vor allem an Menschen mit Behinderungen) Chancen zu nutzen, womit dann diese Personen, so Dahmes und Wohlfahrts Kritik, im Umkehrschluss auch selbstverantwortlich für die Nutzung von Chancen und eben auch Konkurrenzniederlagen seien. So kommen die Autoren zu dem Fazit: „Als Philosophie des seine Freiheit zur Konkurrenz und zum Konkurrenzerfolg als Chance nutzenden Bürgers ist Sens Gerechtigkeitstheorie tatsächlich global: Sie verbindet allen ´zustehenden Menschenrechte’ mit der Theorie der Eigenverantwortung und hebt sich damit zunächst einmal nicht von der zynisch-moralisierenden Position der liberalen Gerechtigkeitstheorien ab, die Konkurrenzerfolg und -niederlage als Produkt der individuellen Leistungsbereitschaft und natürlichen Fähigkeiten abfeiern“ (S. 104).

Auch Honneth und Fraser wenden sich gegen Gerechtigkeitsvorstellungen, die Güterverteilung thematisieren. Das sog. „Distributionsparadigma“ (S. 107) sei überholt: „Statt an ´Verteilung’ sollten wir an andere Muster der Gewährung von Gerechtigkeit denken“ und „Statt von Gütern sollten wir von Anerkennungsbeziehungen sprechen“ (Honneth 2010:63, zitiert S. 107). Honneth plädiert als Kritiker mangelnder Anerkennung der Arbeitenden in der Wirtschaft für einen „emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit“ (a.a.O.: 78, zitiert S. 110) und weist berufsständischen Genossenschaften den Auftrag zu, für diese Anerkennung einzutreten. Dahme und Wohlfahrt bemerken hier einen Rückfall des als Linkshegelianer geltenden Honneth hinter die Analysen von Hegel, der zwar auch den „Korporationen“ den Auftrag zuwies, für die Anerkennung des Arbeiterstandes zu sorgen, der aber zugleich bemerkte, dass der Arbeiter nicht wirklich ein Recht habe „sein Brot zu verdienen“, sondern lediglich die Freiheit, dies in der Konkurrenz zu versuchen, was „Armut und (…) Erzeugung des Pöbels“ (Hegel: Rechtsphilosophie, § 245, zitiert S. 111) einschließe. Dass Honneth auch in seiner neuesten Publikation mit seinem Eintreten für „Das Recht der Freiheit“ (2011) wiederum davon abstrahiere, wozu der Arbeiter seine Freiheit nutzen müsse, sei seinem Anliegen geschuldet, das normative Ideal von sich wechselseitig in ihrer Freiheit anerkennenden Rechtssubjekte unangreifbar zu machen. Honneths soziologische Analyse würde sich daher darauf beschränken, zu prüfen, wie gut seine Anerkennungsnormen in den „drei Anerkennungssektoren (…) Familie, Wirtschaftswelt und Politik“ (S.116) bereits verwirklicht seien. Damit, so Dahme und Wohlfahrt, würde der kapitalistischen Gesellschaft zu Unrecht eine prinzipiell positive Zwecksetzung zugutegehalten, die nicht durch empirische Realität zu erschüttern sei.

Zum Ende dieses zweiten Teils setzen sich Dahme und Wohlfahrt schließlich mit Luhmann und Kersting, zwei konservativ-rechtfertigenden Verteidigern geltenden Rechts und bestehender Ungleichheit auseinander.

Der dritte Teil befasst sich mit „Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat“.

  • Kapitel 12: Sozialstaat und Gerechtigkeit,
  • Kapitel 13: Soziale Gerechtigkeit und Eigenverantwortung,
  • Kapitel 14: Gerechtigkeit und Soziale Arbeit,
  • Kapitel 15: Erkenntnistheoretische Methodologie normativer Gerechtigkeitspostulate oder die „kritische“ Versöhnung mit dem Status quo.

Die Gerechtigkeit des Wohlfahrtstaates wird im 12. Kapitel exemplarisch an der Rentenversicherung erläutert, die der Staat als Versicherungspflicht installiert, um so die Klasse darauf zu verpflichten, „die Risiken ihrer Abhängigkeit selbst zu tragen“ (S.131). Während Dahme und Wohlfahrt mit ihren Ausführungen darauf hinweisen wollen, dass der Staat so für die Funktionsfähigkeit und bleibende Armut der Klasse der Lohnabhängigen sorgen würde, werfen sie Gerechtigkeitstheoretikern vor, sie würden von der dieser Hilfsbedürftigkeit zu Grunde liegenden prekären Klassenlage abstrahieren und daher in sozialstaatlichen Leistungen einen Ausgleich im Sinne einer Umverteilung sehen. Als ganz modern im Sinne der Affirmation der aktuellen Sozialpolitik wird Krebs zitiert, die die Verwirklichung von Menschenwürde als Aufgabe des Einzelnen definiert, durch Arbeit einen Beitrag zum Lebensunterhalt zu leisten (S. 134-135).

Im 13. Kapitel werden weitere Befürworter von Eigenverantwortung zitiert, vorwiegend Kersting, für den „der Abbau von sozialstaatlichen Leistungen ein einziger Freiheitsgewinn“ (S. 140) darstelle. Schließlich wird gegen Sloterdijk als „eindrucksvolles Exemplar der Sorte von freiheitvernarrten Staatsapologeten“ für seinen „elitäreren und eitlen Stil“ (Fußnote S. 140, 141) und seine Gleichgültigkeit gegenüber allem Realen polemisiert. So beschließen Dahme und Wohlfahrt dieses Kapitel mit einem zynischen Fazit: „Der gerechtigkeitstheoretische Humanismus gibt sich mit Blick auf die Unterscheidung, die die kapitalistische Welt so hervorbringt, ganz realistisch: Oben und Unten, Arm und Reich geht in Ordnung – man darf sich nur nicht von dem Gejammer der Verlierer irritieren lassen“ (S. 144).

Im 14. Kapitel wird in sehr knapper Form dargelegt, wie die Selbstmandatierung der Sozialen Arbeit als „Gerechtigkeits-, bzw. Menschenrechtsprofession“ dem professionstheoretischen Bedürfnis nach der Konstruktion einer Differenz zu dem staatlichen Auftrag Sozialer Arbeit entspringen würde (S. 150). An Nussbaums Capability- Approach wollen Dahme und Wohlfahrt nachweisen, dass selbst dieser vom Selbstbewusstsein her kritisch gemeinte Ansatz weitgehend dem aktuellen politischen Aktivierungsstandpunkt entspreche und deshalb so attraktiv sei, „weil er das Ideal, Gerechtigkeit habe irgend etwas (sic!), wenn auch in ferner Zukunft, mit Gleichheit zu tun, offensiv attackiert und für überholt erklärt“ (S. 155), indem die Zielbestimmung eines „guten gelingenden Lebens“ weitgehend in die Subjektivität desjenigen verlegt würde, der mit seinem je unterschiedlichen Konkurrenzerfolg sein Leben meistern muss.

Im 15. Kapitel wenden sich Dahme und Wohlfahrt gegen das erkenntnistheoretische Dogma, man müsse, um die Verhältnisse kritisieren zu können, normative Kritikmaßstäbe entwickeln. Dieses von namhaften VertreterInnen der Sozialwissenschaft empfohlene Beurteilungsverfahren, das sich fragt, welches der passende normative Maßstab zur Kritik der Verhältnisse sein könnte, stelle der Sache nach bereits im Ausgangspunkt die Abkehr von den realen Verhältnissen und den darin vorfindlichen „Ungleichheiten“ und „Ungerechtigkeiten“ (vgl. S. 162, 163) dar, weil die Kritik darin bestehen würde, zu erläutern, inwiefern die Welt nicht dem jeweiligen normativen Maßstab genüge, anstatt zu erklären, welchen Zwecken sie tatsächlich genüge.

Der vierte und letzte Teil behandelt „Aktuelle Gerechtigkeitsdiskurse in der Politik: Hauptsache gerecht“. Hier werden in den Unterkapiteln die öffentlichen Gerechtigkeitsdiskurse zu den Themen: Steuer- und Bildungsgerechtigkeit, gerechter Lohn und Finanzkrise einer kritischen Beurteilung unterzogen.

In einem Anhang werden schließlich noch „Gerechtigkeit als faschistisches und sozialistisches Ideal“ diskutiert.

Diskussion

Dahme und Wohlfahrt leisten mit diesem Buch einen herausragenden und ungewöhnlichen Beitrag zur Beurteilung von Gerechtigkeitsdiskursen, weil sie sich nicht konstruktiv mit einer weiteren Theorie einmischen, sondern den Diskurs selbst einer kritischen Analyse unterziehen. Dabei kommt ihnen ihr fundiertes Wissen zu den theoretischen Diskursen und vor allem zu den aktuellen Paradigmenwechseln in der Praxis des Wohlfahrtstaates zugute.

Fazit

Für VertreterInnen und LiebhaberInnen moderner Gerechtigkeitsdiskurse haben Dahme und Wohlfahrt ein unbequemes Buch geschrieben. Sich ihrer Kritik zu stellen, verspricht eine spannende Auseinandersetzung.

Rezension von
Prof. Dr. Jutta Hagen
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Es gibt 3 Rezensionen von Jutta Hagen.

Kommentare

Anmerkung der Redaktion: Eine Printfassung dieser Rezension wurde nachgedruckt in standpunkt : sozial 1+2/2012, S. 251-253.

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Zitiervorschlag
Jutta Hagen. Rezension vom 08.06.2012 zu: Heinz-Jürgen Dahme, Norbert Wohlfahrt: Ungleich gerecht? Kritik moderner Gerechtigkeitsdiskurse und ihrer theoretischen Grundlagen. VSA-Verlag (Hamburg) 2012. ISBN 978-3-89965-491-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13323.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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