Saied Pirmoradi: Interkulturelle Familientherapie und -beratung
Rezensiert von Dr. Georg Singe, 31.07.2012
Saied Pirmoradi: Interkulturelle Familientherapie und -beratung. Eine systemische Perspektive. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2012. 240 Seiten. ISBN 978-3-525-40174-3. D: 26,95 EUR, A: 27,80 EUR, CH: 38,50 sFr.
Thema
Auf dem Hintergrund der zunehmenden ethnisch-kulturellen Vielfalt in unserem Land stehen Berater und Therapeuten immer häufiger vor der Herausforderung, ihre interkulturelle Sensibilität zu schulen, um ein effektives Arbeiten mit Familien aus anderen Kulturen zu ermöglichen.
Autoren
Saied Pirmoradi ist systemischer Familientherapeut und als Dozent für interkulturelle Themen am Institut für Systemisches Arbeiten in Berlin tätig. Er stammt aus dem Iran, hat in Berlin Diplom-Psychologie studiert und 2003 an der Freien Universität in Berlin seine Promotion zu dem Thema „Paar- und Familienbeziehungen im Iran. Eine kulturpsychologische Perspektive“ abgeschlossen. Mehrere Jahre hat er auch in seiner Heimat als Familientherapeut gearbeitet. In der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie (DGSF) hat er die Fachgruppe „interkulturelle Familientherapie und -beratung“ aufgebaut und ist deren Sprecher.
Entstehungshintergrund
Der Autor versteht dieses Buch als „ein erfreuliches Beispiel für eine iranisch-deutsche Kooperation.“ (Vorwort, S. 9). Auf dem Hintergrund der Philosophie der historischen Tradition eines ganzheitlichen humanistischen Weltbildes des arabischen Dichters und Gelehrten Saadi aus dem 13. Jahrhundert, das im Vorwort entfaltet wird, hat der Autor im Diskurs mit vielen Experten der Familientherapie in Deutschland und im Iran dieses Buch konzipiert.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in drei Teile und zehn Kapitel.
Nach dem wertschätzenden Vorwort von Jochen Schweitzer betont der Autor in der Einführung die Notwendigkeit zum Umdenken der Professionellen, da die euro-afrikanischen Annahmen und Perspektiven in den Beratungs- und Therapiekonzepten keine ausreichende Grundlage bilden, um Familien mit Migrationshintergrund zu helfen. Dabei will Pirmoradi einerseits die theoretischen und praktischen Aspekte gleichrangig behandeln und zudem den Focus nicht nur auf das weitere Leben der Migrationsfamilien in Deutschland legen, sondern die „grundlegenden und prägenden Erfahrungen in den Heimatländern“ (S. 14) im Sinne von Pope (2010) und Eckstein ( 2011) als „Urvorbilder“ bzw. „Gene“ , als Regeln, die bereits vor der Geburt den Lebensweg eines Menschen entscheidend bestimmen, zu einer Leitlinie der therapeutischen Arbeit machen. Dabei weiß sich Pirmoradi dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz verpflichtet, da dieser einen „geeigneten und ressourcenaktivierenden Zugang zum Verstehen und Verhandeln mit Menschen aus anderen kulturellen Hintergründen“ (S. 15) bereitstellt.
Der erste Teil beginnt zunächst mit einer Beschreibung von Migration in ihren vielfältigen Formen und den jeweiligen Identitätskonzepte als Grundlage der interkulturellen Arbeit. Im zweiten Kapitel wird als Grundlage für die interkulturelle Arbeit die Geschichte der Traditionen interkultureller Begegnung von der Kolonialzeit bis zur Postmoderne aufgearbeitet, indem eine wissenschaftliche Dekonstruktion die Stereotypen und oftmals noch vorhandenen impliziten rassistischen Haltungen entlarvt.
Im zweiten Teil des Buches (S. 63 – 152) werden kulturbezogen psychologische und familiendynamische Konzepte behandelt. Das dritte Kapitel diskutiert die unterschiedlichen Konstrukte menschlicher Psyche und der entsprechenden Selbstkonzepte im Kontext der Globalisierungserfahrungen des modernen Menschen. Dabei stehen heute „hybride Selbstkonzepte“ (S. 86f) im Mittelpunkt, die auf dem Hintergrund umgreifender Globalisierungsprozesse und fortschreitender Vernetzung in virtuellen Netzwerken fragil, beweglich und ständig der Veränderung unterworfen sind. Dies erfordert vom Therapeuten, seine Handlungsoptionen als Suchprozesse aus der Position des „Nichtswissens“ ( S. 91) zu gestalten. So ist es nicht verwunderlich, dass die sich im vierten Kapitel anschließende Betrachtung der paar- und familiendynamischen Konzepte in verschiedenen Kulturen einen hervorragenden Einblick in die vielseitigen und äußerst reichhaltigen Wirklichkeitskonstrukte ermöglicht. Im Mittelpunkt stehen vor allem die arabische Kultur im Iran, sowie die indische, japanische, türkische und amerikanische Kultur. Im fünften Kapitel schließt sich eine kulturkritische Reflexion über die familientherapeutischen Ansätze an, die bis in die 90er Jahre allesamt in der Regel „auf die im Westen dominierenden ´isolierten Kernfamilien’ mit individualistischen Tendenzen zugeschnitten sind“ (S. 151).
Im dritten Teil des Buches werden nun die Handlungsgrundlagen für eine interkulturelle Familientherapie in mehreren Kapiteln behandelt. Das sechste Kapitel behandelt die Möglichkeiten des Aufbaus einer kultursensitiven therapeutischen Beziehung, das siebte Kapitel vertieft kulturspezifische Problembeschreibungen, geschlechts- und altersspezifische Aspekte sowie kulturelle Dimensionen religiöser Sinnkonstruktionen in den Familiendynamiken. Das achte Kapitel widmet sich dem Thema der Formulierung und Definition von Beratungs- und Therapiezielen, die dann im neunten Kapitel in der Analyse der kultursensitiven Interventionsmöglichkeiten münden. Eine interkulturelle Arbeit mit Familien und Paaren braucht aufgrund der Komplexität und der besonderen Verflechtung des Professionellen in seiner eigenen Kultur mehr denn je der Supervision, die als interkulturelle Supervision zu konzipieren ist. Dieser widmet Pirmoradi ein eigens Kapitel und stellt dort vor allem den ethnopsychoanalytischen Ansatz einer interkulturellen Supervision, der im Zentrum für interkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Supervision der Charité in Berlin entwickelt wurde, als sehr ertragreich und dem systemischen Ansatz nahestehend dar.
Diskussion
Das vorliegende Werk gibt dem Leser eine umfassende Einführung in das Selbstverständnis und die Chancen der interkulturellen beraterischen und therapeutischen Arbeit mit Migrationsfamilien. Der theoretische Teil regt zur eigenen Selbstreflexion der Haltung gegenüber anderen Kulturen an und relativiert so manches Paradigma in der systemischen Arbeit. Die Ausführungen eröffnen dem Leser einen Einblick in die unterschiedlichen kulturellen Wirklichkeiten der Familiendynamiken. Praxisnah und mit vielen Beispielen ist der dritte Teil des Buches geschrieben. So findet sich dort zum Beispiel auch ein Vorschlag, familientherapeutische Sitzungen unter interkulturellen Gesichtspunkten zu protokollieren. Das ausführliche Literaturverzeichnis ist eine große Hilfe, um einzelne Themen und Fragestellungen eigenständig vertiefen zu können.
Fazit
Das Buch ist ein äußert fundiertes Grundlagenwerk für die interkulturelle Arbeit mit Familien aus systemisch-konstruktivistischer Sicht, das ein vernachlässigtes Thema im deutschen Sprachraum wieder in den Mittelpunkt der Fachdiskussion stellt. Die Ergebnisse werden nicht nur für Theoretiker, sondern vor allem für Praktiker eine wertvolle Hilfe sein, sich den Herausforderungen einer interkulturellen Situation in der Praxis zu stellen und in ihr professionell handeln zu können. Dem Autor kann nur gedankt werden, dass er so umfassend und systematisch das Thema aufgegriffen hat.
Rezension von
Dr. Georg Singe
Dipl.-Sozialarbeiter, Dipl.-Theologe, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF)
Dozent an der Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta
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Zitiervorschlag
Georg Singe. Rezension vom 31.07.2012 zu:
Saied Pirmoradi: Interkulturelle Familientherapie und -beratung. Eine systemische Perspektive. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2012.
ISBN 978-3-525-40174-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13327.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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