Pim den Boer, Heinz Durchardt et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. 3. Europa und die Welt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.07.2012

Pim den Boer, Heinz Durchardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. 3. Europa und die Welt. Oldenbourg Verlag (München) 2012. 290 Seiten. ISBN 978-3-486-70822-6. 39,80 EUR.
Die „Rückkehr“ europäischen Denkens nach Europa
Das Europäische Parlament in Straßburg hat vom 21. – 22. November 1991 ein internationales Colloquium zum Thema „Weltkultur und Europa“ durchgeführt, um „einen Dialog der Zivilisationen“ anzuregen. Der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, der ehemalige spanische Transportminister und Eu-Politiker Enrique Barón Crespo, hat die Veranstaltung mit der Frage „Warum Universalität?) eröffnet und gleich beantwortet: „Zweifellos deswegen, weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der ganzen Menschheit trägt“ (Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7/8-1992, S. 5). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums beschäftigte dabei vor allem die Frage: ob „Universalität – eine europäische Vision?“ sei – oder inwieweit sie Wirklichkeit ist. Der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel stellte dabei die Frage, ob die „universelle Ethik“ eine moralische Leitlinie für die Weltgemeinschaft sein könne oder nur eine europäische Machtideologie darstelle. Der Philosoph und Politikwissenschaftler von der Universität in Paris, Sami Naïr fragte, ob Europa überhaupt sein selbstgesetztes Niveau für eine Universalität erreiche; und der in Marokko geborene, in Frankreich lebende Schriftsteller Tahar Ben Jelloun warb darum, dass die Menschen in der Zeit, in der sich die Weltsicht verändert, zu einem interkulturellen Dialog kommen müssen, der insbesondere von den Intellektuellen der Welt ausgehen könne.
Nimmt man den vom Europäischen Konvent verfassten Entwurf des Vertrags über eine Verfassung Europas vom 20. Juni 2003 zur Hand (wissend und bedauernd, dass es bis heute keine „Verfassung für Europa“ gibt), ist u. a. in der Präambel zu lesen: Es ist das „Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“ (Europäische Gemeinschaften, 2003, S. 5).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
„Denk ich an Europa…“, diese umgemünzte Klage Heinrich Heines, und die janusköpfige, historische wie aktuelle Betrachtung des Zustandes des Kontinents in seiner vielschichtigen Entwicklung zwischen Gut und Böse, zwischen Hölle und Paradies, zwischen Krieg und Modernisierung, zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Evolution und Revolution, zwischen Kolonialherrschaft, Imperialismus, Totalitarismus und freiheitlichen Einigungsbestrebungen, zwingt dazu, eine Absage an Nationalismen, Egoismen und Eurozentrismen vorzunehmen und den Blick auf die in der Globalisierung sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde Welt zu richten. Es ist die makropolitische, -soziologische und -anthropologische Betrachtungsweise, die den Blick öffnet für funktionale und räumliche Differenzierungen und Globalisierungsprozesse von Funktionssystemen und Machtverhältnissen (Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, Bielefeld 2011, http:// www.socialnet.de/rezensionen/12557.php).
Weil europäische Identität und das Bewusstsein – „Ich bin ein Europäer“ – ein historischer Prozess ist, kann man „Europa nicht von den Bildern trennen, die sich Europäer von ihrem Kontinent gemacht haben“ (Benjamin Drechsler, Hrsg., Bilder von Europa. Innen- und Außenansichten von der Antike bis zur Gegenwart, Bielefeld 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10660.php). Herausgefordert bei diesem Werden und Bewältigen sind nicht zuletzt Erinnerungen, wie sie sich in den kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungskulturen darstellen (Astrid Erll, Gedächtnis- und Erinnerungskulturen, Stuttgart – Weimar 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php), sich als wissenschaftliche, interdisziplinäre Phänomene zeigen (Christian Gudehus, u.a., Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung, Stuttgart – Weimar 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php) und als (neues) wissenschaftliches Forschungsfeld der „Europäistik“ etabliert hat (Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Wien 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9268.php).
Die Historiker – Pim den Boer von der Universität Amsterdam, Heinz Duchardt vom Institut für Europäische Geschichte in Mainz, Georg Kreis von der Universität Basel und Wolfgang Schmale von der Universität in Wien – legen mit in drei Bänden die Ergebnisse ihres internationalen Forschungsprojektes „Europäische Erinnerungsorte“ vor. WissenschaftlerInnen aus 15 Ländern haben sich daran beteiligt. Ihr Ziel ist es, „das Bewusstsein von der relativen kulturellen Einheit des Kontinents zu stärken und … (dazu beizutragen), dass der Europäisierungsprozess nicht etwas künstlich Aufoktroyiertes ist, sondern ein gewachsenes Konstrukt“. Während im ersten Band „die großen geistigen Kräfte behandelt (werden), die Europa zu dem machten, was es heute ist“ und im zweiten Band Fallbeispiele präsentiert werden, „bei denen das Moment europäischer Zäsurhaftigkeit, europäischer Ausstrahlung und Kommunikation und europäischen Erinnerns“ deutlich werden sollen. Der dritte Band, der sich von der Systematik der beiden ersten Bände1 löst, wird hier besprochen.
Aufbau und Inhalt
Dabei geht es den Autorinnen und Autoren nicht darum, den mittlerweile längst überholten und auch von den Europäern weitgehend ad acta gelegten Sendungsmythos wieder aufleben zu lassen und der Dominanz des „alten Kontinents“ das Wort zu reden; vielmehr wird die Absicht hervorgehoben, „die ‚Rückkehr‘ europäischen Denkens in gebrochener Form nach Europa, um die Bereicherung, die die europäische Welt in ganz unterschiedlichen Sphären aus Übersee empfing“ zu analysieren, was bedeutet, dass den Europäern der „Spiegel der Vielfalt“ vorgehalten wird, wie dies z. B. die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit dem Begriff der „kreativen Vielfalt“ und der Empfehlung an die Menschheit formuliert hat und den Begriff „kulturelle Identität“ nicht als Mauer und kulturelle Abgrenzung zu benutzen, sondern kulturelle Vielfalt als verbindendes Element einer globalen Ethik zu verstehen (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2. erw. Auflage, Bonn 1997, 76 S.). In den alltäglichen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Alternative „Kulturrelativismus oder Universalismus“ überwiegen ja eher emotionale und ethnozentrische, denn rationale und verstandesorientierte Auffassungen und Einstellungen; erstere behindern ein Bewusstsein, dass wir Menschen auf der Erde in Einer Welt leben und als Menschheit nur dann human überleben können, wenn es gelingt, „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (als) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ (anzuerkennen), wie dies in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gesetzt ist.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert:
- Im ersten Teil werden drei Beiträge zu „Grundbegriffen“ dargestellt;
- im zweiten ebenfalls drei „Konzepte“ diskutiert,
- und im dritten mehrere Fallstudien vorgestellt.
Andreas Eckert vom Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Berliner Humboldt-Universität setzt sich mit der europäischen Expansion als „prägender Bestandteil der modernen Geschichte“. Am Beispiel des Begriffs der „Globalisierung“ zeigt er den durchaus ambivalenten und kontroversen, wissenschaftlichen Diskurs auf, wie er sich bei den einzelnen Disziplinen darstellt und sich als globale Verflechtungen, Abhängigkeiten und Dominanzen verdeutlicht.
Der Berliner Historiker Alexander Nützenadel formuliert „Die wirtschaftliche Dimension der Globalisierung“. Er zeichnet den Prozess des europäischen Handelskolonialismus, gewissermaßen als neuzeitlichen Beginn der modernen Globalisierung, nach und stellt fest: „Aus ökonomischer Sicht ergibt sich daraus ein multizentristisches Bild der Globalisierung, das seine spezifische Dynamik über die Jahrhunderte erklärt“.
Der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard thematisiert „Expansion“, indem er analysiert, wie im Laufe der Jahrhunderte – bis in die Neuzeit – Expansion, Dominanz, Eroberung, Gewaltherrschaft und Unterdrückung jeweils ideologisch und nationalistisch interpretiert wird, sich aber auch als Gesellschafts-, Macht- und Kolonialismuskritik zeigt.
Birgit Schäbler vom Lehrstuhl Geschichte Westasiens der Universität Erfurt beginnt den zweiten Teil mit der Darstellung des Konzepts „Orientalismus“ und der Beziehungsgeschichte zwischen Europa und Orient. Sie setzt sich dabei mit dem von Edward Said verfassten Werk „Orientalism“ (1978) auseinander und verdeutlicht die Meinungsbildungen, Ideologien und Kontroversen und regt wissenschaftlich eine Dekonstruktion der Orientalismus-Auffassungen an.
Der Koblenzer Historiker Christian Geulen hat mit seinem 2007 erschienenem Buch „Geschichte des Rassismus“ Einfluss auf die deutsche (und europäische) Meinungsbildung genommen. Mit seinem Beitrag „Rassismus“ verdeutlicht er den Zusammenhang von „Rassismus und europäische(r) Zivilisation. Er stellt im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Diskurs „eine tiefsitzende Unsicherheit im Umgang mit dem Begriff und Phänomenen des Rassismus“ fest und konstatiert, dass dies möglicherweise als „ein möglicherweise missglückte(r) Prozess der Erinnerung“ gedeutet werden könne. Eine Erlösung aus diesem Dilemma sieht der Autor, „wenn man den Rassismus gerade nicht mehr selber als das ganz Andere und Fremde der europäischen Zivilisation denkt“.
Die Historikerin der Universität Basel, Francesca Falk, zeigt in ihrem Beitrag „Postkolonialismus“ an realen (Werbe-)Anzeigen und medialen Darstellungen auf, dass kolonialistisches Denken sich weiterhin vielfach auf europäischen Straßen, Plätzen und Schaufenstern tummelt; und sie stellt dabei fest, dass „nicht nur der Kolonialismus, auch dessen Amnesie und die einsetzende Aufarbeitung … ( ) eine geteilte europäische Geschichte begriffen werden (kann)“.
Im dritten Teil werden 25 Fallstudien vorgestellt, gewissermaßen als ausgewählte Sammlung von Ereignissen und Fingerzeigen der These, dass sich Europa nicht durch seine Eurozentristik, sondern durch seine Türöffnung hin zu den Einflüssen von außen auf den Kontinent identifizieren sollte. Der Romanist von der Universität Erlangen-Nürnberg, Titus Heydenreich, reflektiert, wie sich der Mythos „Columbus (I)“ anlässlich der Feiern, Veranstaltungen und Publikationen zum Gedenkjahr 1892 in Europa und Amerika darstellte, das europäische Geschichtsbewusstsein eingleiste, gleichzeitig aber die lateinamerikanische Kritik artikulierte.
Der Mainzer Musikwissenschaftler Horst Pietschmann kontrastiert mit seinem Beitrag „Columbus (II)“, wie sich im Gedenkjahr 1992 die Erinnerung, Mythologisierung und Systematisierung des Entdeckers Amerikas medial und wissenschaftlich darstellte. Dabei nimmt er im wesentlichen die Aktivitäten in den Blick, wie sie zum Gedenkjahr von den Ländern Italien, Mexiko, Spanien und USA veranlasst wurden; und er kommt zu dem Ergebnis, dass in der Geschichtswissenschaft weiterhin eine vollständige Biographie von Columbus fehlt, aber auch, dass Columbus von der Historiographie „auch als Auslöser der Globalisierung gesehen“ wird.
Andreas Eckert kommt erneut mit seinem Fallbeispiel „Sklaven in Europa“ zu Wort. Er zeigt auf, dass zwar der Sklavenhandel, im Vergleich der Transportrichtung Afrika – Amerika, von Afrika nach Europa zahlenmäßig gering verlief, aber die Geschichte der Sklaven und der Sklavenbefreiung in Europa „auf eine gemeinsame, freilich von Hierarchie, Gewalt und Ausbeutung geprägte Geschichte Europas und seiner ehemaligen Kolonien“ verweist. Nicht unerwähnt bleibt dabei, dass Sklaverei, Ausbeutung und Illegalität keine Phänomene der Vergangenheit darstellen, sondern die Grenze zwischen Sklaverei und „freien“, aber ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen auch zum europäischen Alltag gehören.
Der Kirchengeschichtler der Schweizer Universität Fribourg, Mariano Delgado wählt als Erinnerungsort das Kolleg San Gregorio im spanischen Valladolid, das Ende des 15. Jahrhunderts als akademische Einrichtung des Dominikanerklosters San Pablo entstanden ist und über Jahrhunderte hinweg, bis heute, ein Ort des kontroversen, humanistischen Diskurses ist, etwa mit der Kontroverse von 1550 / 51, als Juan Ginés de Sepúlveda mit Bartolomé de Las Casas darüber öffentlich stritten, ob die Indianer Anspruch auf menschliche Würde hätten oder nicht, bis hin zum amerikanischen Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein, der mit der „Dependenztheorie“ erheblichen Einfluss auf den Globalisierungsdiskurs genommen hat (vgl. dazu auch: Gerhard Hauck, Globale Vergesellschaftung und koloniale Differenz, Münster 2012, 225 S.).
Der Hamburger Historiker Klaus Pietschmann vergleicht mit seinem Beitrag „Moctezuma auf der Opernbühne“ die unterschiedlichen Rezeptionen des historischen Dramas und der Gestalt des Herrschers der Azteken, Montezuma, bei denen im 17. und 18. Jahrhundert in Europa und Mexiko prägende, moralisch, ideologisch und historisch wirkende Deutungen wirksam wurden.
Die Heidelberger, heute Genfer Musikwissenschaftlerin Christiane Sibille diskutiert mit ihrem Beitrag „Musik: Interkontinentale Verflechtungen“ die Einflüsse von (klassischen) musikalischen Werken des Abendlandes, etwa Beethovens, auf das Musikschaffen und die musikalische Rezeption in Asien, Süd- und Nordamerika, und sie kontrastiert diese Entwicklung mit der im europäisch-afrikanischen Dialog sich entwickelnden Weltmusik.
Der Bayreuther Sprach- und Literaturwissenschaftler János Riesz stellt mit seinem Text „Der literarische Spiegel: Afrika und Europa“ die (späte) Wahrnehmung der Europäer für afrikanische Literatur fest und zeigt auf, dass etwa seit den 1950er Jahren „afrikanische Literaturen in europäischen Sprachen, in Englisch, Französisch, Portugiesisch, ebenso wie in afrikanischen Verkehrssprachen wie Swahili, Haussa oder Yoruba“ nach Europa gelangen und wahrgenommen werden, was etwa auch in der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1986 an den nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka zum Ausdruck kommt.
Der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kirchen- und Dogmengeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz tätige Thomas Hahn-Bruckart reflektiert „Frömmigkeit: Der Gospel-Gottesdienst“, indem er die beiden Aspekte der Gospelmusik – musikalisch und liturgisch – analysiert und eine Veränderung in der Tradition (und Wirkung) von europäischen Gottesdienstformen feststellt.
Dominik Collet vom Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen setzt sich auseinander mit der „Theologie der Befreiung“. Er zeigt die Wurzeln auf, die in der moralischen und theologischen Kritik der Dominikaner, allen voran der bereits erwähnte Bartolomé de Las Casas, am Umgang der Spanier mit den Indianern zu finden sind und sich in den 1950er und 1960er Jahren in den Befreiungs- und Entwicklungspolitiken und -bewegungen als Solidaritätsarbeit entwickelt und gewissermaßen sich gegenseitig befruchtet haben. Zwar hat sich in den Zeiten der Globalisierung die Euphorie der Befreiungstheologie gelegt; doch die globalen Vernetzungen in der entwicklungspolitischen Basisarbeit sind in vielfacher Hinsicht weiterhin getragen vom Geist der emanzipatorisch-theologisch-humanen Bewegung.
Die Würzburger Pädagogin Anneli Partenheimer-Bein zeigt in ihrem Beitrag „Die wissenschaftliche Entdeckung Brasiliens“ auf, wie sich vor Alexander von Humboldt vor allem niederländische Naturkundler, Geografen, Forschungsreisende und Künstler auf den Weg machten, um die Kulturen und Landschaften in dem riesigen Land Brasilien zu beschreiben und nach Europa zu bringen.
Die Berliner Historikerin Sünne Juterczenka referiert mit „Südsee“ Stereotypen, Mythen und Katastrophen, die mit dem Bild vom „edlen Wilden“ in der Kunst, Forschungsreisen durch James Cook, bis hin zu den Atombombentests auf der Südseeinsel Bikini reichen.
Dominik Collet stellt mit einem weiteren Beitrag „Kunst- und Wunderkammern“ vor, die von Kuriositäten- und Exotika-Sammlungen bis zu Völkerkundemuseen reichen, und er resümiert: „Betrachtet man die Kunstkammer … als Ort, an dem Stereotype naturalisiert und imaginierte Fremdheit konstruiert wurden, tritt sie als ein kulturelles Archiv der langen Geschichte globaler Begegnungen hervor.
Kristina Starkloff vom Historischen Seminar der Universität Leipzig zeigt mit ihrem Beitrag auf, wie „Völkerschauen / Zurschaustellungen“ in Europa zustande kamen und ihre Wirkungen auf das Bild der Europäer vom Fremden hatten, bis hin zu der Frage nach den Befindlichkeiten der „Ausgestellten“.
Der Historiker von der University of Washington, Andrew Zimmerman, referiert über „Kolonialismus und ethnographische Sammlungen in Deutschland“. Dabei registriert er Formen von „Verneinung der Geschichte“ in der Ethnologie und Ethnografie und zeigt auf, „dass die Besitztümer kolonisierter Menschen nie neutral, sondern immer in die Geschichte gegensätzlicher Interpretationen eingebettet“ und damit „Spiegel des kolonialen Machtkampfs“ waren.
John McKenzie von der University of Lancaster äußert sich zu „Museen in Europa“, indem er die zahlreichen ethnografischen Sammlungen, die insbesondere zwischen Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, analysiert und den Wandlungs- und Funktionsprozess von der Schau- hin zur Aufklärungs- und Forschungseinrichtung aufzeigt.
Thomas Duve vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte berichtet über die Zeremonien anlässlich der 1932 arrangierten Übergabe eines einzigartigen Bibliotheksbestandes von Argentinien nach Berlin. Er titelt seinen Beitrag als „‘Deutscher Geist‘, ‚Deutsche Wirtschaft‘ und die Lateinamerika-Forschung“; setzt sich damit mit den Aktivitäten der Auslandswissenschaften im Kaiserreich und der Auslandskunde nach dem Ersten Weltkrieg auseinander und verweist auf die Zielsetzungen: „Förderung der Außenwirtschaft – Beeinflussung der Eliten – Durchkreuzung politischer Absichten der europäischen Gegner“. Reinhard Wendt vom Historischen Seminar der FernUniversität Hagen diskutiert „Kolonialwaren“ und identifiziert damit bereits frühe Globalisierungsprozesse.
Bei der Suche nach (interkulturellen) Erinnerungsorten findet Lars Amenda vom Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien sogar „Das chinesische Restaurant“, als (fremder) kulinarischer Ort, mit der Entdeckung, dass das in vielen chinesischen Restaurants angebotene Tsingtao-Bier ihren Ursprung in der 1903 gegründeten Germania-Brauerei in der ehemaligen deutschen Kolonie Kiautschou in Nordchina hat. Diethelm Knauf vom Bremer Zentrum für Medien informiert über die zahlreichen Archivmaterialien zur „Auswanderung nach Amerika“. Die Motivsuche, wie auch die Erlebnisse und Erfahrungen der Ausgewanderten in ihrer neuen Heimat stellen ein Erinnerungsgut dar, das sich nicht zuletzt auf die Bewertung der aktuellen Migrationsprozesse auswirken kann.
Edith Hanke von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften konfrontiert die wissenschaftlichen Aussagen und Prognosen des Soziologen Max Weber und seiner Beschreibung der „protestantischen Ethik“ mit der Rezeption der Weberschen Theorien bei Wissenschaftlern und in der industriellen Entwicklung in Japan.
Ulrich Mücke vom Historischen Seminar der Universität Hannover bringt in seinem Beitrag „Che Guevara“ die Geschichte der Entstehung, der Veränderung, der medialen, ideologischen und kommerziellen Nutzung und weltweiten Verbreitung des Fotos des kubanischen Revolutionsführers, bis hin zur Mythologisierung des verfremdeten Bildes als „Symbol für Jugendlichkeit“.
Das ambivalente, zwiespältige wie heilvolle Thema der „Tropenmedizin“ diskutiert Felix Brahm von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Behagen und Unbehagen liegen auf diesem Feld kolonialer, europäischer Tätigkeiten nahe beieinander; und der Autor verweist zwar in seinem Beitrag auf die durchaus heilbringenden, medizinischen Wirkungen der Tropenmedizin und die zivilisatorischen, humanitären und entwicklungspolitischen Zielsetzungen des Fachs und der Profession, macht aber gleichzeitig deutlich, dass „der Gründungsboom der Tropenmedizin ( ) auch vor dem politischen Hintergrund des Kolonialismus verständlich (wird)“.
Nils Ole Oermann und Thomas Suermann vom Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Universität Lüneburg benutzen das „Lambarene“ des Albert Schweitzer, um die Vieldeutigkeit des Erinnerungsortes herauszuarbeiten. Dabei zeigen sich, immer orientiert an der Person des Elsässer Arztes und Humanisten, die Zugkräfte, die sein Werk bis heute bestimmen: Zivilisations- und Machtkritik auf der einen, und Legitimationsanspruch auf der anderen Seite.
Die Heidelberger Historikerin Madeleine Herren thematisiert den „Völkerbund“ als „Erinnerung an ein globales Europa“. Sie stellt dabei fest, dass die Existenz dieses Versuchs eines internationalen Zusammenschlusses in der historischen Rezeption ein „erinnerungspolitisches Niemandsland“ darstellt. Ihre These, „dass die Rolle des Völkerbunds in der Prävention von Krisen überschätzt und seine Bedeutung als Faktor der Gestaltung internationaler Politik unterschätzt wurde“, formuliert die Autorin zum einen aus, indem sie attestiert, dass die Existenz und die Aktivitäten des Völkerbundes die Vorgeschichte zur Gründung der Vereinten Nationen liefert, zum anderen aber stellt sie das Versagen der (ersten) Völkergemeinschaft beim Widerstand gegen die faschistische Entwicklung in Europa fest.
Iris Schröder vom Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität beschließt die Listung der europäischen Erinnerungsorte, indem sie feststellt, dass „die UNESCO und das Welterbe als künftiger europäischer Erinnerungsort“ gelten könnte, und zwar zum einen durch die Initiative, eine internationale Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972) zu begründen und damit ein „Menschheitsbewusstsein“ zu befördern, zum anderen durch die friedens- und menschenrechtsstiftende Arbeit der Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die sich in dem Satz verdeutlicht, den die UNESCO in die Verfassung vom 16. 11. 1945 in die Präambel geschrieben hat: „Da Kriege im Geiste der Menschen entstehen, (müssen) auch die Bollwerke des Friedens im Geist der Menschen errichtet werden“.
Fazit
„Europäische Erinnerungsorte“ zu suchen, zu beschreiben und auf Aufforderung zu verstehen, eine „europäische Identität“ der Europäer zu entwickeln, hat nichts Nostalgisches an sich; schon gar nicht etwas Eurozentristisches. Weil aber kollektive Erinnerung Gutes und Böses bewirken kann, kommt es darauf an, die Erinnerung nicht einspurig und ideologisch verlaufen zu lassen, sondern interkulturell-dialogisch vorzunehmen. Die drei von der Forschungsinitiative herausgegebenen Bände, von denen exemplarisch Band 3 besprochen wird, sind ohne Zweifel ein wertvoller, historischer und anthropologischer Beitrag, das Bewusstsein der Menschen auf der Erde zu stärken, dass wir in EINER WELT leben und das geschichtliche und kulturelle Werden der Menschen auf dem Kontinent Europa lokal und global verstanden werden muss. Das Werk sollte nicht nur für Politik- und Geschichtswissenschaftler zur Hand sein, sondern auch für die schulische und außerschulische Bildungs- und Aufklärungsarbeit benutzt werden.
1 Bd. 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, ISBN 978-3-486-70418-1, Bd. 2: Das Haus Europa, ISBN 978-3-486-70419-8
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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