Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF) (Hrsg.): Drogenpolitik als Gesellschaftspolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 03.12.2012
Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF) (Hrsg.): Drogenpolitik als Gesellschaftspolitik. Ein Rückblick auf dreissig Jahre Schweizer Drogenpolitik, 1981 - 2011.
Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2012.
155 Seiten.
ISBN 978-3-03777-114-3.
[Hommage à François van der Linde] = La poilitique drogue en tant que politique de société.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Nachbarland Schweiz ist für Deutsche in vielerlei Hinsicht interessant und attraktiv. Wer dieses Land wegen seiner Natur erkundet, genießt immer auch die entschleunigte und traditionsverpflichtete Lebenskultur seiner Bürger. Der Nichteingeweihte würde hinter dieser Anmutung niemals vermuten, dass die Schweiz in Sachen Drogenpolitik zur internationalen Avantgarde gehört, erfolgreich eigene pragmatische Wege beschreitet, sich dafür gegen internationale Zurechtweisungen und ideologische Würgegriffe wehrt und heute über eines der modernsten Drogenhilfesysteme verfügt. Aktivisten anderer Länder rätseln schon lange darüber, wie es den Schweizer Drogenexperten gelingen konnte, für diese Modernisierungsbestrebungen immer wieder sowohl die Bevölkerung insgesamt als auch die Politiker zu gewinnen. Eine Antwort auf diese Fragen verspricht das vorgelegte Buch, das aus dem Inneren derjenigen außerparlamentarischen Schweizer Kommission berichtet, die mehr als dreißig Jahren lang fachlich inhaltlich die praktischen, politischen und gesetzlichen Entscheidungen für eine moderne Drogenpolitik bereitet hat: Die Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF).
An dem vorgelegten Reader haben Mitglieder der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen mitgearbeitet und vermittelt auf diese Weise einen Einblick in den Geist der einzelnen Mitglieder, die in dieser Kommission arbeiteten.
Zielgruppe, Aufbau und Inhalte
Dieses Buch wendet sich offensichtlich vor allem an Schweizer Landsleute, die mit den Besonderheiten der politischen Entscheidungsfindung so vertraut sind, dass sie die in der Schweiz sicher gängigen Abkürzungen zur Legislative und Exekutive ohne Umwege verstehen und einordnen können. Sie sind sicher auch nicht irritiert, wenn etwa ein Drittel der Beiträge ohne Übersetzung im französischen Original veröffentlich werden. Für einen weniger kundigen deutschen Leser ist es etwas mühsamer, bei der angebotenen Vielzahl der Informationen den Überblick zu behalten.
In diesem Zusammenhang ist es sehr hilfreich, dass an den Anfang des Readers ein längeres Interview mit dem langjährigen Vorsitzenden der EKDF, François van der Linde, gestellt wurde (Sandro Cattacin). Entworfen wird das Bild von einem unaufgeregt um Sachlichkeit bemühten, bescheidenen Mann, der der Kommission fast dreißig Jahre lang vorstand und dessen Erfolgsgeheimnis wohl darin besteht, fern von eigener Eitelkeit immer wieder Rahmenbedingungen für eine offene und sachliche Diskussion kontroverser Themen geschaffen zu haben, die nicht durch Termin-oder Ergebnisdruck gestört wurden.
Natürlich wird Politik immer auch durch formale und informelle Koalitionen geprägt. Und so erläutert kein geringerer als Ambros Uchtenhagen diese Bezüge beim Entstehen der neuen Schweizer Drogenpolitik. Hier wird jedoch nicht „aus dem Nähkästchen“ geplaudert, sondern auf theoretischen Grundideen von Netzwerktheorien. Allerdings muss der Leser insbesondere die Actor-network-theory mitbringen, wenn er den Darlegungen folgen möchte. Eine sozialwissenschaftliche Sicht auf die Spielräume und Regulierungen in einer berauschten Gesellschaft, die als heterogene Gesellschaft längst verbindlichen Vereinheitlichungen entwachsen und zudem permanent auf Innovationen angewiesen ist, stellt Sandro Cattacin vor.
Um die gefundenen pragmatischen Innovationen, die die Entwicklung und Fortsetzung der Schweizer Drogenpolitik begründen, und die Belege für deren Evidenz, ranken sich die Darlegungen von Francoise Dubois-Arber und Philippe Lehmann.
Thomas Hansjakob und Martin Killias diskutieren den Stellenwert von Repression in der Drogenpolitik. Hierzu schließt sich folgerichtig die Debatte um Drogen und Menschenrechte an, die in einem Plädoyer für eine humane Politik mündet (Genevieve Ziegler, Anne-Caterine Menetrey-Savary).
Der mit dem Reader gespannte Bogen endet mit einer Einordnung der Schweizer Drogenpolitik in den internationalen Kontext und blendet auf, in welchen Konflikten sich die Schweiz bis heute wiederfindet, hat sie doch einerseits die internationalen Verträge ratifiziert, besteht aber andererseits auf der Fortführung der von ihr eingeschlagenen Vier-Säulen-Drogenpolitik in den Bereichen Prävention, Therapie, Schadensminderung sowie Repression und Marktregulierung (Lukas Grossmann, Ruth Dreifuss).
Warum die Schweiz trotz internationaler Skepsis und ausgeübtem Druck an dieser drogenpolitischen Ausrichtung festhält, erläutert Uchtenhagen nochmals mit Blick auf die wissenschaftlichen und ethischen Leitideen von Harm-Reduction-Ansätzen, deren Erfolge derweil auch international anerkannt werden. Zu verstehen als eine Überleitung zu den zukünftigen Aufgaben der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen, die seit 2012 in anderer personeller Besetzung und unter einer veränderten Leitung weiterarbeitet, verweisen die Ausführungen zum Neuro-Enhancement und zu den Fragen um moralische Grenzen der Selbstbestimmung über den eigenen Körper auf die anstehenden neuen Fragen im Drogenpolitikbereich (Hans-Peter Schreiber).
Fazit
Das Buch ist eine Reminiszenz an die Tätigkeit der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen und ihren Präsidenten François van der Linde, der dieser Kommission seit Ende der 70iger Jahre bis 2008 vorstand. Es blendet auf, welche Ideengebäude dem Ringen um die Durchsetzung pragmatischer Ansätze in der Drogenpolitik zugrunde liegen und lässt ahnen, dass es auch in der Schweiz nicht immer leicht war, einem ideologischen Druck zu widerstehen, der auf symbolische Aktionen drängt, für die sich jedoch realpolitisch kaum eine tatsächliche Entschärfung von Drogenproblemen nachweisen lässt. Diesem Grundsatz treu hat die scheidende EKDF noch 2011 den Entwurf eines kohärenten Politikansatzes mit darin verankerten Leitsätzen vorgelegt, der die Weiterentwicklung der Schweizer Drogenpolitik auch in der Zukunft prägen wird (Thomas Kessler). Dies und die beigefügten Materialien, die über die Zusammensetzung der Kommission und die wichtigsten vorgelegten Berichte informieren, sollten für deutsche Politiker Pflichtliteratur werden – Deutschland als ein Land, in dem die 1999 aus wissenschaftlichen Experten zusammengesetzte Drogen- und Suchtkommission seit 2002 nicht mehr einberufen wurde und in dem seit 2004 ein Drogen- und Suchtrat die drogenpolitischen Geschicke lenkt, in dem Verwaltungen großer Träger der Drogen- und Suchtkrankenhilfe mitarbeiten, dessen Mitglieder nicht namentlich bekannt gemacht werden und zu dessen Arbeit auch nicht berichtet wird.
Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 03.12.2012 zu:
Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF) (Hrsg.): Drogenpolitik als Gesellschaftspolitik. Ein Rückblick auf dreissig Jahre Schweizer Drogenpolitik, 1981 - 2011. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2012.
ISBN 978-3-03777-114-3.
[Hommage à François van der Linde] = La poilitique drogue en tant que politique de société.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13386.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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