Lars Gräßer, Friedrich Hagedorn (Hrsg.): Medien nachhaltig nutzen
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 25.03.2013
Lars Gräßer, Friedrich Hagedorn (Hrsg.): Medien nachhaltig nutzen. Beiträge zur Medienökologie und Medienbildung. kopaed verlagsgmbh (München) 2012. 128 Seiten. ISBN 978-3-86736-211-5. 14,80 EUR.
Thema
Als das Internet Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zu einer ernstzunehmenden Kommunikationstechnologie avancierte, wurde sein Aufstieg von den Medien durch eine Reihe ökologischer Utopien begleitet: Das papierlose Büro war zum Greifen nahe, weltweite Videokonferenzen würden helfen, Treibstoffkosten zu senken sowie Verkehr zu reduzieren – und ähnliche Überlegungen mehr. Nach etwa zwanzig Jahren und einer nunmehr flächendeckenden, intensiven Nutzung des Internets ist Ernüchterung eingetreten: Gefühlt ist der Papierkonsum durch preiswerte Druckertechnik eher gestiegen, und der Verkehr hat trotz digitaler „Datenautobahnen“ auch nicht abgenommen – im Gegenteil.
Höchste Zeit, sich über eine echte ökologische und nachhaltige Nutzung des neuen Mediums Gedanken zu machen, meinen Lars Gräßer und Friedrich Hagedorn, Medienwissenschaftler am nordrhein-westfälischen Grimme-Institut. Für die beiden Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes stehen damit „Aspekte der Ressourcen schonenden, sozial verantwortlichen und auch gesunden Mediennutzung“ (Seite 109) im Mittelpunkt des Interesses.
Herausgeber
Lars Gräßer, Jahrgang 1969, ist Mitarbeiter im Referat Medienbildung/Medienkompetenz des Grimme-Instituts in Marl, das die vorliegende Veröffentlichung herausgegeben hat. Er ist studierter Kommunikationswissenschaftler und Politologe. Seit 2010 ist Lars Gräßer am Grimme-Institut beschäftigt, wo er sich in verschiedenen Projekten engagiert. Er hat diverse Veröffentlichungen zur Medienkompetenzförderung, Nachhaltigkeit und Social Media verfasst.
Friedrich Hagedorn, Jahrgang 1954, leitet das Referat Medienbildung am Grimme Institut, wo er seit Ende der Achtzigerjahre tätig und u.a. verantwortlich ist für die Entwicklung des Grimme Internet-Award. Seine Schwerpunkte Bildung und Online-Kommunikation sowie Medienkompetenz hat Hagedorn in zahlreiche Projekte, Konzeptentwicklungen und Veröffentlichungen eingebracht.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Veröffentlichung erscheint in der Reihe „Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen“, welche durch das Grimme-Institut, Marl, herausgegeben und durch das nordrhein-westfälische „Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien“ gefördert wird. Die Schriftenreihe fokussiert Chancen und Risiken, die sich aus der Nutzung der so genannten „Neuen Medien“ für die Bürgerinnen und Bürger ergeben und „thematisiert aktuelle Herausforderungen für die Wissensgesellschaft, indem sie vorhandenes Wissen in Buchform bündelt und es all denjenigen zur Verfügung stellt, die am Thema interessiert sind.“ [1]
Aufbau und Inhalt
Die Veröffentlichung umfasst sieben Fachbeiträge von Autorinnen und Autoren aus dem Bereich Medienwissenschaft zu unterschiedlichen Themen der Medienökologie. Diese Beiträge werden durch eine Einleitung und ein Fazit der beiden Herausgeber gerahmt.
“Warum Medienökologie?“ fragen Gräßer und Hagedorn in ihrer Einleitung. Sie spannen den Bogen vom hohen Energieverbrauch der Informationstechnik und den damit verbundenen Emissionen über sozial relevante Phänomene wie Informationsüberflutung und Stress durch permanente Erreichbarkeit bis hin zur ökologischen Hardwarenutzung. Insgesamt geht es den Herausgebern weniger um „einen instrumentellen Medieneinsatz“ als darum, ein „ökologisches Medienverständnis“ zu thematisieren (Seite 14).
“Entlastend und belastend zugleich“ ist für Siegfried Behrendt “Der ökologische Fußabdruck der digitalen Welt“, den der Autor im ersten Fachbeitrag entfaltet. Obwohl Behrendt ein großes Einsparpotential des World Wide Web in Bezug auf Energie oder Rohstoffe durch Weiterverkauf gebrauchter Artikel sieht, identifiziert er so genannte „Rebound-Effekte“, welche diese Potenziale einschmelzen. Gründe dafür seien zum einen veränderte Kommunikations- und Konsummuster, wie etwa kürzere Lebenszyklen der Hardware und erhöhter Energiebedarf durch zunehmende Ausweitung und leistungsmäßige Steigerung der Netzinfrastruktur.
Mit einem sozialen ökologischen Thema befasst sich der folgende Beitrag: “Sherry Turkle im Interview: Über das digitale Verschwinden“. Turkle, eine amerikanische Medienwissenschaftlerin, die den Umgang mit digitalen Medien über Jahrzehnte intellektuell begleitet hat, zeigt sich im Interview darüber besorgt, dass Menschen in ihren digitalen Identitäten und Netzen quasi „verschwänden“. Durch das Online-Sein als Dauerzustand habe sich das Leben mit Multi-Tasking in ein „Multi-Leben“ (Seite 32) verwandelt. Gleichzeitig würden die technischen Geräte zum neuen Träger sozialer Wünsche und Hoffnungen werden.
„Kommunikations-, Medien- und Sozialökologie – Postulate an eine nachhaltige Mediennutzung“ von Christian Schicha geht von einem Ökologiebegriff aus, der den „nachhaltige[n] Umgang mit der natürlichen und sozialen Umwelt“ (Seite 42) in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass der Autor nicht nur die Veränderungen der biologischen Umwelt durch Kommunikationstechnologie, sondern auch die geistigen, sozialen und kommunikativen Veränderungsprozesse selbst beleuchten will. Von hier aus entfaltet Schicha den Ökologiegriff in den Bereich der Kommunikations-, Medien- und Sozialökologie und rekurriert ferner auf die Medienkritik Neil Postmans. Neben den Qualitätskriterien für Medieninhalte sieht der Autor die aktiven Nutzer als einen wesentlichen Aspekt für eine gelungene Medienökologie an.
Ganz im Sinne des Tofflerschen „Prosumers“ betrachtet David Sabria die Mediennutzer in seinem Aufsatz: “Der Beitrag des Nutzers. Über den nachhaltigen Medienkonsumenten“. Angesichts eines Internets, welches Schriftkultur nach Regeln der Mündlichkeit pflege, der Konsument auch in die Rolle des Produzenten digitaler Inhalte schlüpfe, gelte es neue Verhaltensweisen individuell wie sozial verantwortlicher Nutzung einzuüben. Was Sabria sogleich in einer „Kurzanleitung“ zum Besten gibt: Beispielsweise das „gelassene Verpassen-Lernen“ oder das reflektierte Teilen von Informationen.
Der recht kurze Beitrag: “Dirk von Gehlen im Interview: Über digitale Ökosysteme“ der beiden Herausgeber Gräßer und Hagedorn dreht sich um die Übertragung ökologischer Metaphorik auf das Internet, welches nunmehr als Raum zu denken sei. Dabei werden auch Begrifflichkeiten aus dem Verkehrswesen auf ihre Aussagekraft in Bezug auf digitale Räume hin befragt.
Joachim Borner formuliert in seinem Beitrag “Das Medium ist die Botschaft. Nachhaltigkeitskommunikation als Gestaltungsaufgabe“ am Beispiel der Klimawandel-Thematik eine Ästhetik der Nachhaltigkeit, die er wesentlich als kommunikative Aufgabe begreift. Ausgehend von der Beobachtung, dass die interaktiven Möglichkeiten Web 2.0 nicht zwingend auch eine erhöhte Partizipation bei gesellschaftlich relevanten Themen nach sich ziehen müssen, entwirft Borner eine kommunikative Ästhetik der Nachhaltigkeit, die durch Gestaltungskompetenz, Reflexion, Interaktivität, Ernsthaftigkeit und Teilhabe gekennzeichnet ist und die sich – bedingt durch das Internet – stets im Werden befinde.
In die Science-Fiction Literatur der vergangenen einhundert Jahre taucht dann Bernd Flessner mit dem letzten Beitrag: “Das Ende grüner (Medien-) Utopien?“ ein. Anhand von ausgewählten Darstellungen dieses Literaturgenres zeigt der Autor auf, dass Medien seit jeher wesentlicher Bestandteil von Zukunftsentwürfen sind. Manche Details, wie beispielsweise die Anfang des 20. Jahrhunderts vorweggenommene Möglichkeit einer – aus heutiger Sicht rudimentär anmutenden – Digitalisierung von Druckerzeugnissen faszinieren ob ihrer Vorausschau: Sind doch heutzutage langfristige Prognosen der Autoren eher die Ausnahme. Insgesamt werden Medien auch in den Utopien der Science-Fiction Literatur nicht nur als segensreiche Lösungen dargestellt, sondern ebenso als ein Teil des Problems, wenn nicht gar als Problem selbst.
Mit ihrem abschließenden Beitrag: “Medienkompetenz und Medienökologie – ein Fazit“ fassen die beiden Herausgeber, Lars Gräßer und Friedrich Hagedorn, dann noch einmal die Punkte zusammen, welche die vorhergehen sieben Aufsätze zum Konzept einer Medienökologie beigetragen haben: Im Sinne einer umweltschonenden, sozial verantwortlichen und gesundheitsbewussten Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologie gehe es um die Energieeinsparung und Ressourcenschonung, ferner um eine Form der Nutzung, welche Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse der Anwender, um Übernahme von Verantwortung für die Qualität der Beiträge sowie die Wertschätzung persönlicher Beziehungen – und nicht zuletzt den Mut, die Zukunft mitzugestalten.
Diskussion
Nicht nur bezogen auf die Science-Fiction Literatur, sondern auch in der gegenwärtigen Realität wird deutlich, dass Medien einen wesentlichen Stellenwert einnehmen. Sie kommen nicht additiv als neue Gebrauchsgegenstände im Alltag hinzu, sondern verändern auch unser Interaktions- und Konsumverhalten tiefgreifend. Dies wird zurzeit besonders in der Diskussion um die Social Media offenbar, welche die gesellschaftliche Interaktion binnen Fünfjahresfrist signifikant verändert haben. Vergleichsweise zaghaft dazu fällt im öffentlichen Raum die Auseinandersetzung mit ökologischen Aspekten, insbesondere der Energiebilanz digitaler Kommunikationstechnik oder deren Rohstoffverbrauch aus. Um dem Gedanken von Joachim Borner (in diesem Band) zu folgen, ist dieses Thema noch nicht in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen (was sich in Zeiten der „Energiewende“ aber noch ändern dürfte).
Es ist angesichts dieser Entwicklung das Verdienst des Sammelbandes von Lars Gräßer und Friedrich Hagedorn, einen weiten Bogen zu schlagen von Rohstoff- und Energieaspekten über gesundheitliche Fragestellungen bis hin zu Aspekten der verantwortlichen Kommunikation und des sozialen Miteinanders. Damit erweitern die Herausgeber die kritische Auseinandersetzung mit den (Neuen) Medien, welche zurzeit nach meiner Einschätzung wesentlich auf Medienkompetenz und soziale Beziehungen enggeführt wird. Medien nachhaltig zu nutzen beschließt in sich sowohl Medienkompetenz als auch medienökologisches Handeln - das ist die gedankliche Leitlinie aller Beiträge dieses Buches. Dabei wird das Thema Medienökologie auf ganz unterschiedliche Weise – allerdings auch hier mit einem deutlichen Schwerpunkt auf sozialen Aspekten – angegangen, und es ist gut, dass Gräßer und Hagedorn die sieben divergenten Beiträge mit einer Einleitung und einem abschließenden Fazit rahmen. Was ich mir dabei vielleicht noch gewünscht hätte, wäre ein Beitrag, der sich dezidiert mit den (Un-)Möglichkeiten der Produktzyklen in der Softwareindustrie im Blick auf eine nachhaltige Weiternutzung von Hardware auseinandersetzt.
Zugegeben: Das vorliegende Bändchen ist keine Bettlektüre. Dennoch eröffnete es mir persönlich interessante Ideen und Denkansätze. Als da zum Beispiel wären: Das Verständnis einer (umwelt-)biologischen, sozialen und kommunikationsästhetischen Medienökologie, paradoxe Reboundeffekte, die ökologische Potentiale der neuen Technologie „auffressen“, die Übertragung von ökologischen Metaphern auf den digitalen Raum (Was wäre beispielsweise ein „digitales öffentliches Verkehrsmittel“?). Und wieder einmal: Die Rolle von Sprache und Bildlichkeit im Medium Internet und die Verantwortung des „Prosumers“ im Rahmen einer Kommunikationsästhetik.
Fazit
Die beiden Herausgeber gehen mit Ihrer Veröffentlichung zur Medienökologie ein wichtiges Thema, an, das in der öffentlichen Diskussion bislang nur unzureichend aufgearbeitet wurde. Insgesamt darf man von dem Buch einfache Lösungen und schnelle Rezepte zur nachhaltigen Nutzung von Neuen Medien nicht erwarten, die neun Beiträge entwickeln vielmehr Fragestellungen und Ansätze, das Thema Medienökologie in seiner Gesamtheit besser wahrzunehmen und zu begreifen.
[1] http://www.grimme-institut.de/schriftenreihe/, Zugriff am 25.2.2013
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 25.03.2013 zu:
Lars Gräßer, Friedrich Hagedorn (Hrsg.): Medien nachhaltig nutzen. Beiträge zur Medienökologie und Medienbildung. kopaed verlagsgmbh
(München) 2012.
ISBN 978-3-86736-211-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13397.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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