Christoph Türcke: Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Gerspach, 13.08.2012

Christoph Türcke: Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur.
Verlag C.H. Beck
(München) 2012.
122 Seiten.
ISBN 978-3-406-63044-6.
9,95 EUR.
Beck'sche Reihe - 6032.
Thema
Unter
ausgewiesen philosophischen Gesichtspunkten befasst sich der
vorliegende Band mit dem leidigen Thema
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (AD
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt.
Im ersten Kapitel wird zunächst, was den Leser überraschen mag, ein historischer Abriss präsentiert. Von Opferritualen – als Besänftigung traumatisch eindringender Naturgewalten – ist da die Rede und von der Profanierung dieses Opferkults im Dienste des Wiederholungszwangs zur Bewältigung der amorphen Ängste. Es folgt eine Passage über das Aufkommen des Maschinenzeitalters mit seiner nun mechanisch verlaufenden Wiederholungsdynamik, gefolgt von einer Erörterung der Bedeutung der dann aufkommenden Bildmaschinen. Der Bildschock mit ruckartig vorgebrachten optischen Reizen wird zum Brennpunkt eines globalen Aufmerksamkeitsregimes, zu dessen charakteristischen Merkmalen es plötzlich gehört, dass jener mit den beruflichen Arbeitsaufträgen verschmilzt. Als Ergebnis der Anpassung an die Hoheit der rasanten Bildflut fällt es am Ende immer schwerer, sich über längere Zeit auf eine Sache konzentrieren zu können.
Im sich anschließenden Textabschnitt wird die landläufige These von der Hirnstörung vorgetragen und mit Hilfe kenntnisreicher Anmerkungen aus einer kritischen Richtung der Neurobiologie zweifelnd kommentiert. Dass sich das menschliche Gehirn durch eine große Plastizität auszeichnet, seine fortlaufende Strukturierung auf Grund von Erfahrungen geschieht und darum die Vorstellung einer einheitlichen wie massenhaft auftretenden Hirnkrankheit nicht statthaft ist, wird überzeugend belegt. Vielleicht wäre diesbezüglich lediglich anzuführen, dass neben der Dopaminmangelhypothese, die hier kritisiert wird, die (beziehungsabhängige) Ausgestaltung des gesamten dopaminergen Systems bzw. auch die Beteiligung anderer Neurotransmitter zu berücksichtigen wäre, um nicht dem gleichen Fehler der unzureichenden Komplexitätsreduktion aufzusitzen, wie dies der gängigen biologistischen Richtung widerfährt. Danach geht es um das wichtige Moment geteilter Aufmerksamkeit, und in diesen Passagen hat das Buch unzweifelhaft seine große Stärken. Alles dreht sich nun um das kindliche Erleben von Beziehungen, um die daraus erwachsende Herstellung von inneren Repräsentanzen, die zur stabilen Orientierung in der Welt verhelfen, und somit um den Gewinn des Interesses an etwas Bleibendem – was sich mit einem physiologischen Reiz-Verarbeitungs-Modell überhaupt nicht fassen lässt.
Das zweite Kapitel zieht die nötigen pädagogischen Konsequenzen und steht in einer sich erfreulicherweise neu etablierenden Tradition eines Brumlik oder Bergmann, die sich mit ihren Konzepten zu Disziplin und Wertevermittlung – vor allem vom Respekt gegenüber dem Kind getragen sind – dezidiert und vehement gegen eine wiedererstarkte reaktionäre Form von schwarzer Pädagogik zu wehren wissen. Türcke argumentiert mit der Betonung von Ritualen als kodifizierten Wiederholungen, die Sicherheit in einer immer unübersichtlicheren Umgebung vermitteln, und mit dem Anspruch auf ein gemeinsames Zuhören-Lernen. Auch wenn sich Deregulierung dem neoliberalen Zeitgeist nahtlos einzupassen scheint, so führt doch – dies eine verblüffend überzeugende These Türckes – die damit apodiktisch gesetzte Individualisierung der schulischen Tempi qua dem einzelnen Schüler überlassenen Tages- und Wochenplan zu einer flächendeckenden inneren Unruhe: Die freie Entfaltung gerät zum Zwang. Dagegen setzt der Autor in erfrischender Weise traditionell-„naturwüchsige“ Aneignungsformen der Wirklichkeit, vermittelt über Rituale wie Märchen, Volkslieder, Sprichwörter und Kinderreime. Es geht ihm um ein Grundgespür für Geschichte, das uns hilft, im Jetzt besser zurecht zu kommen. Keinesfalls möchte er den Bitterstoff der Mühe durch Zückerchen versüßen, vielmehr Wiederholungsstrukturen zur Grundlage von Sittlichkeit machen. Das alles klingt in seiner antiquierten Sprache urplötzlich hochmodern. Soziale Strukturen ritualtheoretisch zu reformulieren ist das allgemein angestrebte Ziel. „I have a dream“.
Diskussion
Der Autor führt die verschiedenen Betrachtungsweisen von AD(H)S knapp und prägnant zusammen, skizziert dabei den neurobiologischen Hintergrund ebenso wie er kultur- und gesellschaftskritische Zugänge legt. Die kontrovers geführte Debatte um das Phänomen AD(H)S scheint diskret auf, wird mit großem Sachverstand in Richtung einer entbiologisierenden Betrachtungsweise gelenkt und mit kultur- wie schulkritischen Konnotationen versehen. So erwächst dem Leser ein komplexes Spektrum von zum Teil äußerst problematischen Einflussfaktoren auf erzieherische Versuche, was weit über den Tellerrand einer psychiatrisch orientierten Diskussion kindlicher Störungspotentiale pathologischer Provenienz hinausweist.
Vor allem entwirft er ein ritualkundliches Konzept für die Schule von heute, das auf Wiederholungen setzt und somit Sicherheiten in der Begegnung mit und Aneignung von Welt gewähren will, ohne dabei in formalisierte Einförmigkeit zu verfallen, wie sie vielen gängigen Schuldidaktiken anheftet. In just dieser Ritualkunde liegt nach Türcke ein gewaltiges Entgiftungspotential.
Fazit
Ausgehend von einer ebenso kritischen wie präzisen Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte von AD(H)S werden jene gesellschaftlichen Beschleunigungs- wie Entwertungsfaktoren beleuchtet, die Erziehung heute ausmachen und erschweren und die, nicht zuletzt über eine konformistische Haltung zur medialen Landschaft, zum Verlust geteilter Aufmerksamkeit in sowohl familialen als auch professionellen pädagogischen Interaktionen führen. Der Autor versteht es sehr einleuchtend, in seinem emphatischen Plädoyer für ein von Nachdenklichkeit getragenes Innehalten und Sich-Versichern ein kulturpessimistischen Lamentieren zu vermeiden. Auch entkommt er der Gefahr, sich in einen fundamentalistisch-ideologischen Disput des „Gibt es AD)H)S oder gibt es sie nicht?“ zu verbeißen. Stattdessen entwirft er das utopische, aber sehr wohl konkrete Bild eines qua Ritualisierung gekonnten Schulalltags, der dazu beizutragen vermag, einer umfänglichen, erst in den Anfängen steckenden Aufmerksamkeitsdefizitkultur das Wasser abzugraben, und stattdessen der Rehabilitation einer Besinnung auf wichtige zwischenmenschliche Werte das Wort zu reden.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Gerspach
lehrte bis 2014 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt.
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