Ines Geipel: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.07.2012
Ines Geipel: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2012. 342 Seiten. ISBN 978-3-608-94627-7. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.
„Wo sonst kreuzen sich Wirkliches und Unmögliches so dicht wie im Töten?“
Amokläufe sind Situationen, bei denen Menschen, meist Einzelpersonen, aus verschiedenen Gründen andere Menschen mit Waffen, Sprengmitteln, gefährlichen Gegenständen oder mit anderen, außergewöhnlichen Gewaltanwendungen angreifen, verletzten oder töten, und danach Selbstmord begehen oder die Selbsttötung versuchen. Amokläufe hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Wenn junge Menschen, z. B. in einer Schule, ein Massaker anrichten, ist die öffentliche Aufmerksamkeit besonders groß; wiewohl auch Amokläufe in Schulen keine Ereignisse sind, die in den gesellschaftlichen Problemlagen als neu bezeichnet werden können. Jedoch die Häufung von Schulmassakern, insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland – Emstetten, Erfurt, Winnenden, Ansbach … – und anderswo, hat dazu geführt, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für das Problem deutlicher geworden und die gesellschaftlichen Überlegungen, worin die Gründe von solchen Gewalttaten liegen könnten, wie sie verhindert werden können und ihnen zu begegnen ist, gewachsen sind. In Deutschland hat insbesondere der Jurist, Kriminologe, Sicherheitsberater und Autor Robert Harnischmacher zu dem Phänomen Stellung bezogen, indem er z. B. den Amoklauf folgenden Merkmalen zuschreibt:
- Es handelt sich grundsätzlich um agierende Einzeltäter, meist männlichen Geschlechts;
- er agiert anscheinend wahllos und gezielt;
- und zwar mit Waffengewalt;
- bei der er eine zunächst nicht bestimmbare Zahl von Menschen verletzt oder tötet, oder zumindest durch sein Gewaltverhalten erwarten lässt;
- damit auch seine eigene Tötung vorbereitet und vollzieht.
Überwiegend auf diese Definition nehmen die Auseinandersetzungen und Forschungen zu Amokläufen, sowohl in Schulen, als auch darüber hinaus, Bezug. Auf einige soll in diesem Zusammenhang hingewiesen werden, weil sie deutlich machen, dass Amokläufe nicht in erster Linie Phänomene von individueller Fehlsteuerung sind, sondern als Merkmale der Kultur und Gesellschaft gedeutet werden müssen:
- Peter Langman, Amok im Kopf. Warum Schüler töten, 2009 (www.socialnet.de/rezensionen/7996.php),
- Robert Brumme, School Shootings. Soziologische Analyse, 2010 (www.socialnet.de/rezensionen/10717.php),
- Benjamin Faust, School-Shooting. Jugendliche Amokläufer zwischen Anpassung und Exklusion, 2010 (www.socialnet.de/rezensionen/9353.php),
- Georg Milzner, Die amerikanische Krankheit. Amoklauf als Symptom einer zerbrechenden Gesellschaft, 2010 (www.socialnet.de/rezensionen/10391.php).
Der öffentliche Diskurs und die mediale Aufmerksamkeit ist dabei gekennzeichnet durch Unverständnis und Schuldzuweisung; und nur zaghaft werden präventive Maßnahmen gegen diese Grenzüberschreitungen in Aussicht genommen, wie z. B.:
- Sabine Kurtenbach, u.a., Hrsg., Jugendliche in gewaltsamen Lebenswelten. Wege aus den Kreisläufen der Gewalt, 2010 (www.socialnet.de/rezensionen/10408.php),
- Roland Bertet / Gust Keller, Gewaltprävention in der Schule. Wege zu prosozialem Verhalten, 2011 (www.socialnet.de/rezensionen/12533.php),
- Wolfgang Melzer u.a., Gewaltprävention und Schulentwicklung, 2011 (www.socialnet.de/rezensionen/12560.php),
- Beate Schifferdecker, Finde deinen Weg. Ein gestaltpädagogisches Praxisbuch für die Arbeit mit Jugendlichen, 2011 (www.socialnet.de/rezensionen/11730.php),
- Siegfried Schumann, Individuelles Verhalten. Möglichkeiten der Erforschung durch Einstellungen, Werte und Persönlichkeit, 2012 (www.socialnet.de/rezensionen/12920.php).
Autorin
Die Sprachwissenschaftlerin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und Schriftstellerin Ines Geipel ist auch Zeitgenossen bekannt als ehemalige Weltklassesprinterin der DDR, die 1989 aus Jena nach Westdeutschland floh und in Darmstadt Philosophie und Soziologie studierte. In ihren bisherigen Veröffentlichungen setzt sie sich mit den Phänomenen der Gewalt und des Dopings auseinander. Die Untertitelung ihres Buches „Der Amok-Komplex“ macht bereits deutlich, dass sie das Töten durch Amok-Täter nicht (in erster Linie) als krankhafte Exzesse betrachtet, sondern als „gemachte“ Taten aus der gesellschaftlichen Mitte heraus.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin wählt für die Auseinandersetzung mit Amokläufen einen erzählenden, gewissermaßen insistierenden Stil, der erst einmal ganz gemütlich plaudernd daher kommt, mit einem Prolog, bei dem die Erzählerin über einen Flug von Frankfurt nach Hobart, der Hauptstadt von Tasmanien, berichtet, einem touristischen Unternehmen, durchaus mit einem auch historischem Interesse; über die Besiedlung der ehemaligen Gefängnis-Insel der britischen Kolonialmacht durch freigelassene Verbrecher und ihre Nachkommen, die Prozesse der schwierigen Integration, Begünstigung, Macht und Gewalt, in Port Arthur etwa. Hier passiert im April 1996 ein Massaker. Ein junger, smarter Sonnyboy richtet in einem Café am Strand unter den Besuchern, meist Touristen, ein Blutbad an und nimmt danach eine Geisel, auf dem Weg zu einem Farmhaus, in dem er sich mit seiner Geisel verschanzen will, tötet er wahllos weitere Menschen. Er verbarrikadiert sich, schießt um sich, erschießt seine Geisel und rennt aus dem Haus, als es brennt. Die Polizei nimmt ihn fest, und sie finden später in seiner Wohnung ein riesiges Waffenlager… Die Rekapitulation seiner Lebensgeschichte bringt eine Tragödie von Verirrungen, Verstrickungen und Fehlentwicklungen zu Tage. „Die Katastrophe von Port Arthur ist pur und transgenerationell, das Handlungsdiagramm archaisch…“.
Die folgenden Amokfälle – Erfurt, 26. 4. 2002, Emstetten, 20. 11. 2006, Winnenden, 11. 3. 2009 – werden von der Autorin jeweils mit einem Stichwort gekennzeichnet: Politik, Täterprofil, Waffengesetze. Mit einem Epilog über das Massaker auf der norwegischen Insel Utøya am 22. 7. 2011 endet ihre Auseinandersetzung mit Amokläufen und Attentaten, die die Welt erschütterten und bei den Menschen persönliche und gesellschaftliche Verzweiflung und Leid bewirkt haben. Mit dem Begriff „Komplex“ wird im allgemeinen ausgedrückt, dass eine Sache, ein Vorfall oder ein Ereignis „vielschichtig“ ist, sich also einer einschichtigen, einfachen und eindeutigen Betrachtung oder Erklärung entzieht. Der Rat – „Schau zweimal hin, bevor du etwas bewertest oder tust“ – spricht ja nicht gegen Spontanität und dem „gesunden Menschenverstand“; vielmehr ist angezeigt, um sich mit Amoktaten auseinander zu setzen zu erkennen: „Es geht ums Beschreibbare, um Selbst- und Fremdbilder, um seelische Verkümmerungen, Indifferentes, Entglittenes, Psychotisches, Verstörtes“.
Die Aufzeichnung der Meldungen und Notrufe an die Polizeizentrale von Erfurt am 26. 4. 2002, dass im Gutenberg-Gymnasium ein schwarz maskierter Mann um sich schießt und schon Menschen getötet hat, lassen an Dramatik nichts vermissen und zeigen, wie diffus, ungenau und chaotisch sich Situationen darstellen, wenn ein Amoklauf geschieht. Der 19jährige Robert Steinhäuser gilt in der Schule als Querulant und irgendwie unberechenbar. Mehrere Vorfälle führen dazu, dass er von der Schule verwiesen wird, mit vagen, ungeklärten und eher nebensächlichen Vorschlägen seitens der Schulbehörde, er könne das Abitur an einem anderen Gymnasium in der Stadt machen. Robert Steinhäuser ist ein Waffennarr. Sportschießen ist seine Leidenschaft. Der Erwerb des Waffenscheins, die „Waffenbesitzkarte“, ist sein Ziel, das er zielstrebig angeht und auch erreicht. Sein Aufwachsen in der scheinbar äußerlich intakten Familie ist „eine Kindheit aus Schweigen und zunehmenden Nöten“. Seine Flüchte in Randale und das Medium der Cyper- und Horror-Spiele am Computer , die Verherrlichungen des gewalttätigen Militärischen und gewissermaßen das Nachspielen der Ereignisse, die sich am 20. 4. 1999 an der Columbine High School in Littleton in Colorado vollzogen, wie auch die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Eltern, hätten (eigentlich!) in seiner Umgebung alle Alarmglocken läuten lassen müssen. Asoziale Einstellungen – „Arbeiten will ich nämlich niemals!!!“ – diffuses anarchisches und rechtsradikales Gedankengut hat er ja sowohl im Internet verbreitet, als auch vermutlich in der Familie, der Clique und beim Schießsportverein geäußert.
Die minutiös ausgeführte, protokollarisch anmutende Tatbeschreibung der Autorin lässt das grausame Ereignis noch einmal vor Augen treten. Von den Gefühlen und Erinnerungen der ehemaligen Schülerinnen und Schüler des Gutenberg-Gymnasiums, der lebendig gebliebenen Lehrkräfte, die meisten davon versetzt oder pensioniert, der Eltern des Täters und der Angehörigen der Betroffenen und Getöteten ist jetzt, 10 Jahre danach, wenig zu hören. Im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft gibt es eine seitenlange Statistik über den Aufwand, der durch den Amoklauf entstand, an Polizeikräften, Fahrzeugen, Psychologen… Dieter Althaus, Ministerpräsident von Thüringen, stellt am 8. 1. 2004 fest: „Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt und durch den vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums ausreichend dargestellt“. Das Gymnasium wurde für rund 10 Millionen Euro umgebaut, um äußerlich die unvorstellbare Tat zu ummanteln; es wurden Mauern eingerissen und versetzt, Räume und Eingangsbereich der Schule neu gestaltet; und auch im Außenbereich des Schulgeländes entstanden neue, ansehnliche Flächen. Doch die Autorin hat viele Fragen, die ihr niemand beantwortet: „Pilz“ (Korruption) und „Filz“ (Vetternwirtschaft, vielleicht sogar mafiose Kontakte) als Erklärungsversuche enden im Gestrüpp des Vergessenmachens, etwa wenn der Oberbürgermeister der Stadt äußert: „Erfurt ist bekannt geworden durch Gutenberg. Wir wollen zeigen, dass wir eine liebenswerte Stadt sind und nicht die eines Amokläufers“. Und die Landespolitik? Fast 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen weiterhin die Schule ohne Abschluss. Aber das hat ja nichts zu tun mit dem Massaker von Erfurt, oder? Die Erfurter Tänzerin und Choreografin Ester Ambrosino, die im Ensemble von Pina Bausch in Wuppertal getanzt hat, gibt eine Antwort, die sicherlich mehr bringt als alles Stillschweigen und Vergessenmachenwollen: „Man kann ein Trauma einkapseln, es abspalten, ummodellieren, es völlig überlaufen. Man kann aber auch versuchen, es aufzulösen und wieder neue Verbindungen aufzunehmen“.
Emsdetten am 20. November 2006: Der Attentäter Sebastian Bosse will den „meistgehassten Ort dieser Welt“, die Geschwister-Scholl-Schule „in die Luft sprengen“. Seine Wut, seine Phantasie und sein instabiles Selbstbewusstsein – „normal ist Ich“ – bewirken, dass er in der Schule ein Blutbad anrichtet und sich dann selbst tötet. Der 18jährige stammt eigentlich aus einer „normalen“, kleinbürgerlichen Familie, in der sich jeder in erster Linie um sich kümmert; nur die Großmutter, die mit den Kindern und Enkeln im nach dem Krieg aus eigener Kraft erbauten roten Backsteinhaus in der Siedlung Dannenkamp lebt, ahnt, dass etwas mit ihrem Enkel nicht stimmt; seinem Umgang und seine Freizeitbeschäftigung bei Airsoft, einem Kriegsspiel im Freien, in Armeekleidung und mit Spielzeugwaffen ausgestattet. Die Gegner werden mit Papiermunition ausgeschaltet. Wer von den „Kämpfern“ die meisten roten Flecken durch Treffer am Körper hat, kommt in der Clique groß raus. Bald aber genügt die Spielzeugwaffe nicht mehr. Es ist einfach, sich ein Luftgewehr zu besorgen und später alle möglichen Waffen und Sprengmaterial. Als er zur Tatzeit mit dem Auto des Vaters, ohne Führerschein natürlich, vor die Schule fährt, hat er im Kofferraum ein richtiges Waffenarsenal: Vorderlader, Flinte, Pistole, selbst gebastelte Rohrbomben, Rauchkörper, Molotowcocktails, Schrotbecher, Schwarzpulver, Wurfsterne, Schlagstock, Machete… In seinem Tagebuch kotzt er all das heraus, was ihm zum „Wut-Krieger“ macht: Sitzenbleiben in der Schule, verschmähte Liebe, Gewaltphantasien, Amok-Androhungen. Im Internet findet er in einer anonymen Schreiberin, die sich „Entfremdete“ nennt, eine virtuelle Gesprächspartnerin, die ihn jedoch auch nur zeitweise erreicht. Er wird mehr und mehr zum Einzelgänger; sein Zimmer streicht er schwarz ,und niemand außer ihm darf es betreten. Er trägt einen langen, schwarzen Ledermantel und fühlt sich mächtig. Er schafft, davon ist er selbst überrascht, den Realschulabschluss und bewirbt sich bei der Bundeswehr, wird aber nicht genommen. Der vorgezeichnete Lebensweg: S.A.A.R.T. – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod – war keine Perspektive für ihn; vielmehr zeigten die sich in den Computerspielen immer brutaler steigernden Szenen „wirkliche“ Lösungen auf. Die Tötungsorgien, wie sie sich spielerisch machen lassen, steigern seine Allmacht- und vernichten mehr und mehr seine Empathiegefühle. Im Tagebuch notiert er, dass er seine „Erfolgserlebnisse“ weder in der Familie noch in der Schule findet, sondern am PC.
Als die Rektorin der Geschwister-Scholl-Schule die Polizei alarmiert, läuft bei den Einsatzkräften ein gezielteres Programm ab als vier Jahre vorher in Erfurt. Die durch Schüsse und Brandbomben verletzten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler werden aus der Schule und dem Schulgelände geschafft. Wenige Tage nach der Beerdigung des Attentäters und einem ökumenischen Gottesdienst in der Kirche hat die Öffentlichkeit bereits eine neue Sensation auf dem Schirm: Eine Piper PA-34, ein Kleinflugzeug mit drei Personen an Bord, landet wegen Treibstoffmangels auf der A 52.
Winnenden, 11. März 2009: Dem begabten, flinken Tischtennisspieler Tim Kretschmer, der bereits vom Kindergartenalter an von seinem ehrgeizigen Vater von Tischtennisplatte zu Tischtennisturnier chauffiert wird, sagen die Vereinsgrößen in der Kleinstadt Winnenden in der Region Stuttgart, eine große Sportlerkarriere voraus. Als 14jähriger wechselt er den heimatlichen Verein, was bedeutet, dass er dem Ziel (des Vaters) zum Spitzenspieler näher kommt. Doch der Junge entwickelt sich nicht so, wie sein Vater dies erhofft und erzwingen will. Liegt es daran, dass die Eltern dem Jungen schon früh einen PC mit eigenem TV-Anschluss ins Kinderzimmer stellen? Denn das Computerspiel lockt und fasziniert Tim mehr als das anstrengende und zeitaufwändige Training an der Tischtennisplatte. Die nachgiebige Mutter, die den Ausgleich zum fordernden Vater beim Sohn nicht zustande bringt, kauft ihm den Ego-Shooter „Counter-Strike“. Seine „andere“ Karriere beginnt; mit Versagen in der Schule, Versetzungsgefährdungen, Aggressionen.
Tims Vater ist seit dem 16. Lebensjahr Mitglied im Schützenverein. Für ihn ist das Schießeisen sein Verlängerungsarm. Er nimmt an Deutschen Meisterschaften der Sportschützen teil, und wie als Initiationsritual zur Einführung ins „Land der Geschosse“, kauft er seinem Sohn nach und nach Softair-Waffen, die echten Waffen ähneln. Elf Exemplare hängen in Tims Zimmer. Im nahe gelegenen Steinbruch, im Keller des Hauses und vom Balkon aus schießt Tim mit seinen Freunden mit der Softair-Beretta mit Kunststoffkugeln. Im Elternhaus, das der Vater mehr und mehr zu einer Sicherheitsanlage mit Alarmausrüstung, Tresoren und Panzerschränken ausbaut, vor allem um, wie er es ausdrückt, keinen Unbefugten Zutritt und Zugriff zu seinem Waffenarsenal zu ermöglichen. Die Sammlung von Action- Gewalt- und Horrorvideos und -spielen steigert sich. Vor allem die Mutter kauft ihm immer wieder die Produkte oder gibt ihm Geld, um sie sich zu beschaffen. Bald entdeckt Tim auch den Reiz des Pokerns. Als „JawsPredator1“ meldet er sich in einem Online-Casino an. Die Mutter gibt ihm Geld, damit er mitmachen kann. Er gewinnt, verliert, gewinnt, verliert endgültig. Aber der Kick ist gesetzt. Der Vater, ebenfalls ein begeisterter Pokerspieler, überzeugt ihn, dass das virutelle Spiel nichts sei gegen das reale. „Für eine Strategie-Schule braucht man reale Gegner“. Tims Suche geht weiter. Im Internet findet er einen Artikel über „bipolare Störungen“, und er sagt zu seinen Eltern, er wisse nun, weshalb er in der Schule so schlecht sei. Ein Gespräch in der Klinik darüber bringt für ihn nur die Erkenntnis: „Ich muss selbst etwas tun!“. Aber für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit sich ist er nicht bereit (oder fähig). Da ist es schon besser, es mal mit Armwrestling zu versuchen. Er ist fasziniert von den Muskelmännern, und er will einer werden. Das scheint ihm eine Möglichkeit zu sein, „machtvoll“ aufzutreten und sich „durchzuschlagen“. In den Chats und virtuellen Kontakten ist immer wieder auch von Amoklauf die Rede, als Möglichkeit, das scheinbar Ungerechte aus der Welt zu bomben und zu schießen.
Der 17jährige Tim Kretschmer betritt kurz nach neun Uhr die Albertville-Realschule, macht sich in der Toilette mit Schutzbrille, Ohrschützer und der Beretta seines Vaters als Krieger zurecht und geht schnurstracks in sein ehemaliges Klassenzimmer im Obergeschoss. Ohne ein Wort zu sagen, öffnet er die Tür, schießt zehn Mal in die Klasse, in der die 9c Deutschunterricht hat. Zwei Schülerinnen sind sofort tot, eine dritte wird am Kopf getroffen und stirbt wenig später im Krankenhaus, mehrere Schüler werden verletzt. Er setzt seinen Todestrip fort und will in den Raum 311, in dem die 7c Biologie-Unterricht hat. Die Lehrerin tritt gerade aus der Tür, um nachzuschauen, was da draußen für ein Krach sei. Geistesgegenwärtig flüchtet sich die Frau in die Klasse zurück und schließt die Tür. Tim Kretschmer rennt, immer um sich schießend, in Richtung Raum 305, erschießt dort drei weitere Schülerinnen und einen Schüler, ein weiterer Schüler wird so schwer getroffen, dass er kurze Zeit später stirbt. In 317 wird Chemie unterrichtet. Eine Referendarin bereitet einen Versuch vor, der Lehrer ist irritiert wegen des Krachs draußen. Er sieht einen schwarzgekleideten Menschen, der um sich schießt. Er will die Klassentür schnell zumachen; der Amokschütze schießt durch die geschlossene Tür, trifft die 24jährige Referendarin tödlich und verletzt eine weitere Schülerin. Tim Kretschmer verlässt das Schulgebäude und rennt auf das angrenzende Parkgelände des Zentrums für Psychiatrie, tötet einen Bediensteten, nimmt einen Fahrer als Geisel und zwingt ihn zur Fahrt in den Raum Stuttgart, Böblingen, Tübingen, Reutlingen, Esslingen. Dem Fahrer gelingt es, aus dem Auto zu flüchten. Der Amokläufer flüchtet sich in ein Autohaus, erschießt dort einen Kunden und einen Angestellten und flieht weiter. Er schießt auf ein ihm verfolgendes Polizeifahrzeug und verletzt zwei Beamte schwer; danach tötet er sich selbst mit einem Kopfschuss.
Das Massaker von Winnenden hat zu einer engagierten bis aufgeregten Diskussion über den privaten Waffenbesitz in Deutschland geführt. „Schießen ist kein Menschenrecht“, fordert der Autor, Filmemacher und Sprecher der Initiative „Keine Mordwaffen als Sportwaffen“, Roman Grafe. Am 17. 7. 2009 tritt ein neues Waffengesetz in Kraft, das eine Reihe von Bestimmungen formuliert, um den unbefugten Waffenbesitz und -gebrauch zu verhindern. Die Experten freilich sind sich da nicht so sicher, dass das mit gesetzlichen Maßnahmen gelingt. Es gibt in Deutschland, so die Statistik, rund 7 Millionen registrierte Waffen, aber 20 Millionen illegale, Tendenz zunehmend. Die gesetzlichen Maßnahmen, vor allem aber die zahlreichen versöhnlichen und ermutigenden Zeichen der Angehörigen der Opfer, können zwar die Tat nicht ungeschehen machen; aber es sind Zeichen, dass wir hinter Amokläufen und anderen Gewalttaten mehr sehen müssen als krankhaft ausgelöste Ungeheuerlichkeiten.
Insel Utøya, 22. Juli 2011: Das im Tyrifjord gelegene kleine Eiland im Atlantischen Ozean, rund 500 Meter vom Festland entfernt, ist eine Ideenschmiede und Schulungslandschaft der norwegischen sozialdemokratischen Arbeiderpartiet. Jugendliche Parteimitglieder und Anhänger verbringen dort seit Jahrzehnten ihre Freizeiten und nehmen an Studienseminaren teil. Mitte Juli 2011 befinden sich rund 650 Jugendliche im Camp. Der heute 33jährige Anders Breivik entwickelt sich vom Versager auf allen realen, sozialen, wirtschaftlichen und emotionalen Dingen des Lebens zum virtuellen, „kosmischen Krieger“, der sich berufen fühlt, nicht mehr und nicht weniger als „Retter Europas“ zu werden. Es geht im darum, den „Aufstieg eines alles kontrollierenden Multikulturalismus“, der von „Marxisten, todessüchtien Humanisten und globalisistische(n) Kapitalisten“ als weltweite Verschwörung angezettelt wird, zu stoppen. Als „Messias“ stilisiert er sich hoch, als „einzigartiger Pionier, neuer Regent Norwegens und Nachfolger des Königs“ prahlt er sich ins virtuelle Netz hinein. „2083“, so seine Zielvorstellung, ist seine Mission erfüllt. In Videos, Sendschreiben und einem rund 1.500 Seiten umfassendem, aus vielen Quellen und dubiosen Materialien zusammengebautem Elaborat wird mehr oder weniger angekündigt, was sich „22/7“, wie dies im kollektiven norwegischen Gedächtnis eingebrannt ist, ereignet: Ein in dunklem Kampfanzug gekleideter Täter zündet im Osloer Regierungsviertel um 15.22 Uhr eine Bombe, die er aus 950 Kilogramm Ammoniumnitrat und Dieselöl in seinem einsam und heruntergekommenem Bauernhof, den er „Breivik Geofarm“ nennt, zusammengebaut hat. In Oslo werden acht Menschen getötet und zehn verletzt, riesige Schäden an Gebäuden entstehen. Sein Plan war, das 17stöckige Regierungsgebäude, in dem sich auch die Staatskanzlei und die Räume des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg befinden, zum Einsturz zu bringen. Das gelingt nicht, und so macht er sich – frustriert, wie er selbst bekennt – mit seinem silbergrauen Fiat Doblo auf den Weg zur etwa 35 Kilometer entfernten Anlegestelle der Fähre, die ihn auf die Insel Utøya bringen soll. Dort vollendet der Attentäter, angezogen mit einer schusssicheren Weste, einer Pistole im Gürtel und einem Gewehr mit Dum-Dum-Patronen, die er angefeilt hat, damit sie eine größere, zerstörerische Wirkung erzielen, das Massaker, indem er 69 Menschen, überwiegend Jugendliche, tötet. In einem Anruf bei der Polizei verkündet er danach: Ich habe meine Operation beendet. Deshalb werde ich jetzt kapitulieren“. Der Amokschütze, der sich als „Kreuzfahrer“ und nationalistischer „Missionsritter“ betrachtet, wird von den Spezialeinheiten der Polizei festgenommen. Bei der Gerichtsverhandlung, die andauert, hat die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters eine Bedeutung. Sie ist noch nicht beantwortet. Die Trauerarbeit in Norwegen über das Attentat hält an. Auf die Fragen, wie so etwas in ihrem Land geschehen und ein Mensch wie Anders Breivik in ihrer Mitte sich habe so entwickeln können, um diese unvorstellbare Tat auszuführen, gibt es keine eindeutigen Antworten, lediglich die in der überwiegenden Bevölkerung eindrucksvollen Reaktionen: Wir lassen uns unsere Demokratie und unsere Freiheiten nicht wegbomben und wegschießen!
Fazit
Ines Geipel nennt ihre Arbeit „ein Buch an der Grenze“. Dabei stellt sich ihre Schreibe sowohl als Grenzziehung, als auch -überschreitung dar. Die ausgewählten Fallbeispiele von Amokläufen und Attentaten werden dabei in Erzähl- und Berichtsform dargestellt, protokollierend, analysierend und reflektierend. Wohltuend dabei, dass die spekulativen Anteile, die nicht selten bei den eher sensationellen medialen Informationen über Amokläufe im Vordergrund stehen, wenig Raum einnehmen. Die Leser werden dadurch nicht so leicht auf falsche Fährten gelockt, sondern ermuntert, sich bei der Faktenlage eigene Urteile zu bilden; denn „der Amok-Komplex im Zeitalter der Neuen Medien hat die Gesellschaft zu Komplizen gemacht“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.07.2012 zu:
Ines Geipel: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2012.
ISBN 978-3-608-94627-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13427.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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