Elke Kleinau, Barbara Rendtorff (Hrsg.): Eigen und anders (Geschlechterforschung und psychoanalytische Pädagogik)
Rezensiert von Prof. Dr. Jana Günther, 28.09.2015

Elke Kleinau, Barbara Rendtorff (Hrsg.): Eigen und anders - Beiträge aus der Geschlechterforschung und der psychoanalytischen Pädagogik.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2012.
202 Seiten.
ISBN 978-3-8474-0001-1.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,90 sFr.
Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft / Sektion Frauen- und Geschlechterforschung: Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) - Band 2.
Thema
Der Band vereint Beiträge, die sich theoretisch sowie empirisch mit dem Thema der Konstruktion bzw. den Konstruktionsprozessen des ‚Anderen‘ respektive des ‚Fremden‘ auseinandersetzen. Der Band stößt damit eine interessante und durchaus nicht nur für die Erziehungswissenschaften fruchtbare Debatte an.
Die beiden Herausgeber_innen Elke Kleinau und Barbara Rendtorff gehen davon aus, dass die „Begegnung mit dem ‚Anderen‘“ ein „anthropologisches Grundverhältnis“ darstellt (S. 7). Ihre ganz grundsätzliche Annahme ist, dass sich Identitäten – des Einzelnen wie auch einer Gruppe – erst durch Differenzen, Abgrenzungen sowie Brüche und demnach erst durch „Konfrontationen und Irritationen in Beziehungen zu anderen Menschen, Dingen“ und „anderem Denken“ erwachsen (ebd.). In dem Sammelband nähern sich die Beiträger_innen dem Thema „eigen und anders“ inhaltlich u.a. auf dem theoretischen Fundament der Geschlechterforschung und/oder der psychoanalytischen Pädagogik und empirisch originell auf der Ebene (sozial)historischer, biografischer, diskursiver, narrativer oder filmanalytischer Forschungsperspektiven.
Herausgeberinnen
Elke Kleinau, Dr. phil., Professorin für Historische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Gender History an der Universität zu Köln, seit 2007 im Vorstand der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE); Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Erziehungsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Geschichte von Kindheit, Jugend und Familie, Geschichte der Lehrer_innenbildung, (Historische) Sozialisationsforschung, Biografieforschung, Geschichte und Psychoanalyse
Barbara Rendtorff, Dr. phil., Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn, seit 2009 Vorsitzende der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der DGfE; Forschungsschwerpunkte: Theorie von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen, Tradierungswege von Geschlechtervorstellungen in pädagogischen Kontexten, Geschlechteraspekte in pädagogischen Institutionen, Wirkungen des Geschlechterverhältnisses in der Schule, Pädagogik der Sekundarstufe und die gesellschaftliche Dimension von Schule, Umgang mit Differenz und der Zusammenhang von Andersheit, Fremdheit und Geschlechterdifferenz
Entstehungshintergrund
Das Ziel der Herausgeberinnen psychoanalytische bzw. psychoanalytisch-pädagogische Ansätze, welche sich mit „‚Andersheit‘, ‚Fremdheit‘ und dem Verhältnis zum/zur ‚Anderen‘“ (S. 7) befassen, zusammenzudenken, kann als durchaus herausforderungsvoll bezeichnet werden. Der Publikation vorgelagert war eine Tagung der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung und der Kommission für psychoanalytische Pädagogik in der DGfE im Jahr 2010 in Paderborn (S. 8). Kleinau und Rendtorff räumen bereits in ihrer Einleitung ein, dass der Brückenschlag zwischen den beiden Ansätze kein leichtes Unterfangen war (ebd.). Einerseits weil psychoanalytische Theorien in jüngerer Zeit nicht mehr so stark rezipiert werden, anderseits weil sich in der Geschlechterforschung durchaus konträrere Ansätze im Hinblick auf dieses Thema entwickelt haben und sie als Disziplin immer noch „quer zu den etablierten Teildisziplinen der Erziehungswissenschaften verläuft“ (ebd.).
Aufbau
Thematisch untergliedert sich der Sammelband in drei Teile, in denen aus jeweils spezifischen Perspektiven das Thema ‚der Andersheit‘ angegangen werden soll.
- Der erste Teil „Begegnungen mit ‚dem Fremden‘ und dessen Interpretationen“ versammelt Beiträge, die das Thema ‚der Andersheit‘ über die Dimension des Raumes oder genauer gesagt über spezifische Konstruktionen von Räumen interpretieren, denn Begriffe wie Migration, einheimisch sein bzw. die Einheimischen, Reisen, Heimat oder Fremde heben insbesondere, wenngleich nicht allein, auf räumliche Deutungsmuster ab.
- Der zweite Teil „Leibbezogene Konzepte von Andersheit und Geschlecht“ des Sammelbandes widmet sich der Dimension des Körpers. Die Artikel in diesem Schwerpunktteil fokussieren maßgeblich Fragen und Zusammenhänge wie die der Geschlechterkonstruktionen allgemein und im Besonderen dem Zusammenhang mit Antisemitismus, den Konstruktionsprozessen rund um ‚Normalität‘ und ‚Behinderung‘ sowie vergeschlechtlichter Sozialisationsprozesse und Gewalt.
- Die Beiträge im dritten Teil „Konstruktionen und Zuschreibungen“ befassen ich fast alle, wenngleich aus differenten Blickwinkeln, mit Themen der Dimension Exklusion und Benachteiligung.
Inhalt
Nach der aufschlussreichen Einleitung von Kleinau und Rendtorff, die es den Leser_innen ermöglicht, sich über die Entstehung und die Themen des Bandes zu informieren, folgt im ersten Teil des Buches der Beitrag „Luftwurzeln. Über Migration und Reisen“ von Mona Singer (S. 17ff). Singer greift in ihrer Analyse ein wichtiges und aktuell brisantes Thema auf. Sie befasst sich dezidiert und kritisch mit Konstruktionen wie „Einheimische“ und „Migrantinnen“ (S. 17; Hervorhebung im Org.) sowie den sogen. „problematischen MigrantInnen“ und „den Flüchtlingen“ (S. 18). Auf die sicherlich zu Recht stark kritisierte gesellschaftlich und politisch differenzierte Markierung zwischen „MigrantIn“ und „Flüchtling“ weist Singer ebenso argumentativ geradlinig hin (S. 18f) wie auf den problematischen Zusammenhang zwischen Geburtsort und Staatsbürger_innenrechten (S. 21f) sowie Geburtsort und vermeintlicher kultureller Zugehörigkeit (S. 23ff). Eben jene Prozesse, die scheinbare Differenzen markieren und soziale Ungleichheiten produzieren, deckt Singer auf und eröffnet ebenso den Blick auf vergeschlechtlichte Zuschreibungen in Bezug auf Migration (S. 26f) und klassistische Deutungsmuster, die sich beispielsweise an den Konstruktionen „KosmopolitInnen“ bzw. den sogen. Expats und der „problematischen Migrantin“ (S. 28) zeigen. Sie erläutert den Unterschied zwischen Reisen, Tourismus und Migration und plädiert letztendlich u.a. dafür, Migration auch als Reisen und damit als eine „Form der Erkenntnis“ und „des Begreifens von Welt“ zu interpretieren (S. 29ff).
Wolfgang Gippert entwirft in seinem Beitrag „Abwehr – Annäherung – Aneignung. Fremdheitskonstruktionen und Kulturtransfer in Frauenreisezeitschrift“ (S. 35ff) eine spannende Perspektive auf die Überkreuzung von ‚Kultur‘, ‚Geschlecht‘ und ‚Nation‘. Dabei bilden Gipperts Quellen Reiseschriften bzw. Reiseberichte von Frauen des 19. Jahrhunderts. Er zeigt, dass sich die gängige Geschlechterordnung und das damals vorherrschende Weiblichkeitsideal in den zahlreichen Texten reproduzieren, Kritiken aber auch an selbigen geäußert wurden (S. 39). Der Autor weist, theoretisch in der feministischen Kritik informiert, auf kolonial und rassifizierende Deutungsmuster ebenso hin (S. 40) wie auf spezifische „Kulturtransferprozesse“ (S. 43), die in den meisten Fällen doch mit einer klaren Hierarchisierung zwischen ‚dem Eigenen‘ und ‚dem Fremden‘ einhergingen (S. 44f), jedoch zumindest positive Effekte auf die Emanzipation von Frauen im Herkunftsland hatten (S. 46).
Auch der Beitrag von Elke Kleinau „Konstruktionen von Heimat und Fremde in autobiografischen Zeugnissen deutscher Lehrerinnen“ (S. 52ff) befasst sich mit reisenden Frauen. Die Autorin nimmt Lehrerinnen in den Blick, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts berufsbedingt in die Ferne zogen, um dort ihrer Profession nachzugehen. Kleinau analysiert Texte, welche nach der Rückkehr von den Lehrerinnen verfasst wurden und deutet deren spezifische Interpretationen wie „Heimat und Fremdheit“ (S. 51) aus. Am Beispiel Ina Sofie von Binzers Briefroman um Ulla von Eck dekliniert die Autorin diese spezifische Deutungsweisen durch, wie beispielsweise den „Wald als ‚Metapher von Heimat‘“ (S. 56). Interessant ist, dass auch Kleinau auf spezifische Interdependenzen aufmerksam macht: Sie weist darauf hin, dass es in dem von ihr analysierten Schriftstück durchaus Überkreuzungen zwischen „nationalen und sozialen Stereotypen“ (S. 59; Hervorheb. im Org.) gibt und auch antisemitische Ressentiments bemüht werden.
Der thematisch zweite Teil des Sammelbandes beginnt mit dem Beitrag „Die Ideologie der Geschlechterkomplementarität und ihr Wandel im Kontext völkisch-antisemitischer Differenzkonstruktionen“ (S. 67ff) von Sebastian Winter. Dem Autor geht es um zwei konstruierte Differenzmarkierungen: die vergeschlechtlichte und die antisemitisch-völkische (S. 67). Winter stützt sich dabei auf Annahmen der psychoanalytischen Sozialpsychologie. Er folgt dabei der Grundannahme, dass eine dialektische Spannung zwischen „Selbst- und Nicht-Selbst“ existiert, die als „Wesen des Differenzerleben festzuhalten“ sei (ebd.). Er operiert hierbei mit dem von Jacques Derrida entwickelten Begriff der „différance“ (ebd.), um auf die wechselseitige Abhängigkeit von Autonomie und Abhängigkeit aufmerksam zu machen (ebd.). Historisch zeichnet der Autor nach, wie das hegemoniale Bild der „Ideologie der Geschlechterkomplementarität“ (S. 71) Anfang des 19. Jahrhunderts innerhalb der Frauenbewegung zur Vorstellung einer „geistigen Mütterlichkeit“ (ebd.) führte bei gleichzeitiger Entmächtigung der patriarchalen Logik aufgrund des sich entwickelnden Kapitalismus, welcher auch die männliche Autonomie „zusehens in ihren illusorischen Charakter“ entließ (ebd.). Mit der Konstruktion von völkischen Kollektiven gelang es einerseits letztere Entwicklung einzufangen und anderseits Frauen als Teil ‚der‘ Gruppe/des ‚völkischen Kollektivs‘ zu inszenieren (S. 72f). Die Etablierung dieser „Kameradschaft“ sei aber ebenso nicht „frei von Begehren“, was nach der spezifischen Lesart Winters den Antisemitismus „psychodynamisch geradezu unabdingbar“ machte (S. 73). Die Geschlechterkomplementarität half innerhalb völkischer Ideologien dabei, die „Ambivalenzen der différance“ zu „polarisieren“ (S. 74), schaffte aber demnach neue Spannungen, welche sich in „völkischem Antisemitismus exterritorialisierte“ (ebd.).
Barbara Rendtorff wirft in Ihrem Beitrag „‚Walter hat ein Würstchen…‘ – Geschlechtliche Andere“ (S. 81ff) die Frage auf, inwiefern Geschlecht bei der Konstruktion ‚des Anderen‘ als „Position“ oder als „Körperbeschaffenheit“ zu verstehen sei (S. 81) und inwiefern sich Subjekte überhaupt als „geschlechtliches Andere“ wahrnehmen (ebd.). Die Autorin zeichnet in vier „Vignetten“ das Verhältnis zwischen ‚anders‘ und ‚fremd‘ nach. Wobei sie zunächst ausgehend von Simone de Beauvoirs Überlegungen zur „Leibgebundenheit des Gebärens“ (S. 82) und Shulemith Firestones Idee der Überführung der menschlichen Reproduktivität in den technischen Bereich (ebd.) wesentliche Diskussionspunkte der frühen (differenzfeministischen) Frauenforschung nachzeichnet. Rendtorff hebt in dem Zusammenhang hervor, dass die frühe Feministische Philosophie eben die ‚Besonderung‘ von Frauen als „der Anderen des Mannes“ (S. 83) kritisierte. Am Beispiel historischer Überlieferungen aus der Kolonialzeit macht die Autorin deutlich, wie different mit ‚den‘ weiblichen Anderen umgegangen wurde (S.83ff, S. 86ff). Ihre Ausführungen zum unterschiedlichen Umgang bzw. zur unterschiedlichen Deutung von ‚anders‘ und ‚fremd‘ plausibilisiert sie weiterführend anhand der Ausführungen Jaques Lacans zum „Begriff des Symbolischen“ (S. 89), um abschließend und argumentativ, u.a. Slavoj Žižek und Jean-François Lyotard folgend, darauf zu verweisen, dass Geschlechterdifferenz – dezidiert nicht als eine binäre gedacht – als „Konfrontation“ (S. 93) ein produktives Element innehat, in welchem sich etwas entwickeln kann, „was nicht im Vorhinein festlegbar ist“ (S. 93).
Simone Danz widmet sich in ihrem Beitrag „Dazugehören und Nichtdazugehören – Vollständigkeit und Mangel, Angewiesenheit und Unvollständigkeit“ (S. 97ff) dem Thema ‚Behinderung‘ unter dem Aspekt gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen. Sie reflektiert dabei kritisch die in der Moderne vorherrschenden Tendenzen von „Entsolidarisierung, Werteverfall, Nutzenmaximierung und Überbetonung des Individuellen“, wie es Alasdair MacIntyre beschreibt (S. 99), und argumentiert, dass diese Entwicklungen erst die binäre Logik von ‚behindert‘ und ‚nicht-behindert‘ etabliere und stabilisiere (ebd.). Ihre – auch auf sozialkonstruktivistischen Ansätzen beruhende – Argumentation, setzt sie mit Überlegungen zu „Autonomie“ und „Abhängigkeit“ (S. 102f) sowie zu den Abwertungsprozessen, welche letztere betreffen, fort. Ihr Plädoyer ist, „Vollkommenheitssehnsüchte“ (S. 106) zu durchschauen und eine „Sensibilisierung“ für die „Mechanismen der unbewussten Abwertung von Abhängigkeit, Unvollständigkeit und Hilfebedürftigkeit zu erreichen“ (S. 106).
Der letzte Artikel des zweiten Teils der Publikation mit dem Titel „Das ‚eigene‘ und das ‚andere‘ Geschlecht. Adoleszenz, Männlichkeit und Gewaltbereitschaft“ (S. 109ff) von Rolf Pohl beschließt das Thema Körper/Leib mit dem Fall des norwegischen rechtsextremen Terroristen Anders Breivik. Pohl analysiert dessen „Konstrukt der paranoid getönten Abwehr-Kampf-Haltung“ (S. 111), welches sich erstens aus einer „Verbindung von Frauen- und Fremdenfeindlichkeit“ (S. 109), zweitens einem „aus dem Ruder gelaufenen Extremtypus militarisierter Männlichkeit“ (S. 111) und drittens einer sich in der Adoleszenz ausgebauten „kruden Hass-Ideologie“ (ebd.) entwickelte. Der Autor gliedert seine subjekttheoretisch orientierte Analyse in mehrere Schritte. Zunächst zeichnet Pohl entwicklungspsychologische Tendenzen im Jugendalter nach (S. 112ff), um dann auf den Einfluss von spezifischen Männlichkeitskonstruktionen in der Phase der Adoleszenz zu verweisen (S. 115ff). Der Kern, wie sich Pohl ausdrückt, selbiger sei in „männerdominierten Gesellschaften“ der verinnerlichte „Überlegenheitsanspruch“, welcher sich auch in einer „aufladbaren Abwehr des ‚Fremden‘“ ausdrücken kann (S. 119).
Der dritte Teil des Buches beginnt mit einem Beitrag von Astrid Messerschmidt „Abwehr des Eigenen – Projektionen von Geschlechterverhältnissen im antimuslimischen Diskurs“ (S. 129ff). Ausgehend von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Überlegungen zum Antisemitismus, der seine Ursache im „unbewussten Affekthaushalt“ hat (S. 129) und u.a. dadurch entfacht wird, dass ‚dem Anderen‘ „Regungen zugeordnet“ werden, die bei sich selbst nicht zugelassen werden können (ebd.), erläutert Messerschmidt, dass im „antimuslimischen Stereotyp“ (S. 131) vor allem Projektionen in Bezug auf Geschlechterverhältnisse „zum Ausdruck“ (S. 131) kommen, welche es ermöglichen, Muslime/Muslima „als unemanzipiert“ zu deuten und mit welchen sich „die Mehrheitsgesellschaft auf der Seite des Fortschritts sehen kann“ (S. 132). Die Autorin zeichnet weiterhin die politisch und kulturell bemühten Selbstbilder der BRD kritisch nach (S. 133ff), um auf die – immer aktueller werdende – Migrationsdebatte Westeuropas zu verweisen, welche sich vornehmlich auf „religiöse Zugehörigkeiten“ bezieht (S. 135). Die gesellschaftliche Diskussion um Geschlechterverhältnisse fungiert dabei als Vehikel eines islamfeindlichen Diskurses unter „Ausblendung von Sexismen in der Mehrheitsgesellschaft“ (S. 139). Messerschmidt verweist zudem in ihrem Text auf die Überkreuzung/Intersektionen von rassistischen, klassistischen und sexistischen Diskriminiserungspraxen, welche im „antimuslimischen Diskurs miteinander verknüpft sind“ (S. 143).
Die drei darauf folgenden Beiträge im letzten Teil des Buches sind explizit empirischer Natur und stellen Ergebnisse aus dem jeweiligen Feld vor. Lisa Rosen zeichnet in „Erlebte Bildungsbenachteiligung – erzählte Männlichkeit. Zur (Re-)Konstruktion von Geschlecht, Ethnizität und sozialer Ungleichheit in einem biografischen Interview“ (S. 147ff) eine ihrer Fallrekonstruktionen exemplarisch nach. Sie knüpft dabei an Bettina Dausien und deren Vorschlag einer Verknüpfung von „doing biography und doing gender“ an (S. 149; Hervorheb. im Org.). Ihre Rekonstruktion des Interviews durch eine abduktiv analytische Verfahrensweise, ermöglichte es ihr, herauszufiltern, dass es in dem spezifischen Fall zu einer „Dramatisierung von Geschlecht“ – im Sinne eines betont ‚männlichen‘ Selbstbildes – kam, was ein „undoing ethnicitiy“ (S. 158; Hervorheb. im Org.) ermöglichte.
Wilfried Datler und Kathrin Trunkenpolz stellen demgegenüber in „Zwischen Teilhabe und Teilnahme. Methodologisches und kasuistisches zum Wechselspiel von Abgrenzung und Verstrickung in einem geragogischen Forschungspojekt“ (S. 163ff) insbesondere die methodischen Erfahrungen eines Forschungsprojektes, welches das Leben von Menschen im Alter mit Demenzerkrankungen in den Blick nimmt, in den Mittelpunkt. Neben der allgemeinen Vorstellung des Projekts (S. 164f) und einer eingehenden Darlegung des methodischen Vorgehens (S. 165ff), geht es vor allen Dingen um den schwierigen Spagat zwischen „Teilhabe“ und „Teilnahme“ (S. 177; Hervorheb. im Org.) innerhalb von Untersuchungen, welche sich mit „Interaktionen aus psychoanalytischer Sicht“ befassen (ebd.) und um die Frage, welche Räume geschaffen werden müssen, um einen fruchtbaren und reflektierenden Erfahrungsaustausch innerhalb eines Forschungsprojekts zu schaffen, der wesentliche Erkenntnisgewinne forcieren kann.
Den Abschluss des dritten Teils bildet der Beitrag von Anna Stach „Muster der Geschlechter und die Bedeutung der Gruppe im Film Der Herr der Ringe“ (S. 183; Hervorheb. im Org.). Stach widmet sich auf der Grundlage einer tiefenhermeneutischen Medienanalyse (S. 183) der populären verfilmten Fantasietriologie. Neben der Erläuterung der relativ offensichtlichen „männlichen Entwicklungsgeschichten“ junger und alter Protagonisten innerhalb der Geschichte (S. 185) sowie den Konstruktionen und Inszenierungen der „Eigen- und Fremdgruppe“ (S. 186f), arbeitet Stach zwei „latente Bedeutungsebenen“ heraus (S. 188): die der „Fixierung auf die Kampfgruppe“ (S. 188ff) und die der „Abwehr gegen Weiblichkeit“ (S. 192ff). Flankiert werden die Ausführungen Stachs durch Analysen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Rezeptionsweisen (S. 194ff). Für Stach zeigt die Filmtriologie, dass es eine große Anziehungskraft für Inszenierungen von Geschlechterstereotypen und „fundamentalistischen Erlebnisräumen“ gibt (S. 199).
Diskussion und Fazit
Die Herausgeberinnen formulieren einleitend zur Entstehung der Publikation, dass sie die Beiträger_innen mit unterschiedlichen Perspektivierungen konfrontierten und sich dabei oft „Missverständnisse und Irritationen“ (S. 9) ergaben, die neue „Verständigungsprozesse“ (ebd.) nach sich zogen. Der inhaltlichen Konsistenz der Beiträge war dies sicherlich nicht abträglich, denn alle Artikel nehmen auf die eine oder andere Weise Bezug zu Konstruktionen des ‚Anderen‘ bzw. des ‚Fremden‘. Wenngleich die Beiträge unterschiedliche Themen fokussieren, differente theoretische Zugänge haben und ebenso mit unterschiedlichen empirischen Analysemethoden arbeiten, löst der Band das Versprechen ein, eine Brücke zwischen Geschlechterforschung und psychoanalytischen sowie anderen Ansätzen zu schlagen und dabei eine durchaus als interdisziplinäre zu bezeichnende Sichtweise – in Bezug auf die Themenwahl, die genutzten Quellen und empirischen Foki – einzunehmen.
Die Dreiteilung des Bandes gewährleistet eine gewisse Übersichtlichkeit und bindet die Beiträge zumindest weitgehend sinnvoll zusammen. Insbesondere zwischen dem zweiten Teil „Leibbezogene Konzepte von Andersheit und Geschlecht“ und dem dritten Teil „Konstruktion und Zuschreibungen“ lassen sich inhaltliche Überschneidungen feststellen, die die Aufteilung der Artikel allerdings nicht vollständig plausibilisiert.
Eine Frage, die sich nach eingehender Lektüre des Bandes stellt, ist, warum es keine – seien diese auch nur kritischer Natur – dezidierteren Verknüpfungen zu Intersektionalitätsansätzen oder postkolonialen Theorien gibt, die doch gerade in der Geschlechterforschung sowie u.a. den Kultur- und Sozialwissenschaften derzeit eingehend verhandelt werden. Lediglich Astrid Messerschmidt weist in ihrem Beitrag direkt auf Intersektionalitätstheorien und auf die Verschränkung, Überkreuzung und Wechselseitigkeit von verschiedenen Ungleichheitsdimensionen hin (S. 143), während dieser Zusammenhang in anderen Beiträgen zwar gestreift, aber dennoch nicht in aller Klarheit benannt wird. Mit einer – vielleicht auch durchaus kritischen Auseinandersetzung derzeitiger Intersektionalitätsdebatten – hätte der Band, und sei es in einem abschließenden Beitrag, sehr gewonnen.
Insgesamt sind die Beiträge voraussetzungsvoll und lesenswert. Die Publikation bietet sich daher insbesondere für Studierende, Lehrende und Forschende an, die sich innerhalb der Gender Studies oder der psychoanalytischen Pädagogik bewegen und ihr Wissen in die jeweilige Richtung erweitern wollen. Die Themen und Ansätze sind breit gefächert, was den Band zu einem interessanten Beitrag innerhalb der Erziehungs- aber auch insgesamt der Sozialwissenschaften macht.
Rezension von
Prof. Dr. Jana Günther
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