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Stefan Kreutzberger, Valetin Thurn: Die Essensvernichter

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.05.2012

Cover Stefan  Kreutzberger, Valetin Thurn: Die Essensvernichter ISBN 978-3-462-04349-5

Stefan Kreutzberger, Valetin Thurn: Die Essensvernichter. Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2011. 16 Seiten. ISBN 978-3-462-04349-5. D: 16,99 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 25,90 sFr.

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Die Unfähigkeit, zwischen Preis und Wert unterscheiden zu können

Der neue Bericht an den Club of Rome (Jørgen Randers, 2052: Eine globale Vorhersage für die nächsten 40 Jahre) wiederholt, wovor bereits vor 40 Jahren der erste Bericht warnte, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien und, was wiederum vor 25 Jahren die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im Brundtland-Bericht betonte, ein business as usual und ein througput growth, ein „Durchflusswachstum“, für die künftige Entwicklung der Menschheit nicht mehr möglich sei (WCED, Our Common Future); und was vor fast zwei Jahrzehnten die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ mit der dramatischen Aufforderung bestätigte: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), 2. erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18).

Der von der neoliberalen und kapitalistischen Politik suggerierte Glaubenssatz, dass wirtschaftliches Wachstum allein der Weg in die Glückseligkeit der Menschen bedeute, hat sich mittlerweile als globaler Virus in das ökonomische Denken und Handeln der Menschen eingenistet. Das Immer-Mehr als Heilsbringer scheint wie eine unaufhaltsame Lawine das Leben der Menschen auf der Erde zu bestimmen; von der zynischen Ideologie, dass es keine Alternativen zum vorherrschenden Wachstumsdenken gebe, bis hin zur faktischen Macht des Finanzkapitals. Ex und Hopp, Konsumieren und Verbrauchen ohne Rücksicht auf Mitmenschlichkeit und Natur, das scheint die einzig denkbare Entwicklung der Menschheit zu sein. Die Auswüchse, die sich als Finanz- und Wirtschaftskatastrophen, als Verschuldungspolitik, als globale Verarmungsentwicklung und auf dem Ernährungssektor als von Menschen gemachte Epidemien, wie etwa dem Gammelfleischskandal, PSE und den zahlreichen weiteren verantwortungslosen, auf Gier und Profit ausgerichteten Produktions- und Vermarktungspraktiken (vgl. dazu z. B.: Francisco Mari / Rudolf Buntzel, Das globale Huhn. Hühnerbrust und Chicken – Wer isst den Rest?, Frankfurt/M., 2007, www.socialnet.de/rezensionen/5090.php) darstellen, erregen die Öffentlichkeit freilich nur kurzzeitig – um danach wieder zur Tagesordnung der Konsumspirale „billig, billiger am billigsten“ zurück zu kehren. Dabei gibt es im lokalen und globalen Diskurs mittlerweile eine Reihe von Vorschlägen und Projekten gegen die scheinbar logische, neoliberale Argumentation: „There is no alternative“. Sie gründen in dem wirtschaftswissenschaftlichen Konzept, das die US-amerikanische Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom zur Erinnerung an die Gemeingüter der Menschheit mit dem Slogan benennt: „Was mehr wird, wenn wir teilen“ (www.socialnet.de/rezensionen/11224.php) und die Journalistin Petra Pinzler mit dem Bekenntnis formuliert: „Immer mehr ist nicht genug!“ (www.socialnet.de/rezensionen/13332.php).

Entstehungshintergrund und Autorenteam

„Wegwerfgesellschaft“ – Synonym für Verantwortungslosigkeit, Unbeständigkeit, Verschwendungssucht, Raffgier und Egoismus? In der Kultur- und Gesellschaftskritik haben Begriffe wie „Geld, Gier & Betrug“ Konjunktur (Tilmann Moser, Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13080.php), steht die Frage nach Gut und Böse der Ökonomie auf der Tagesordnung (Tomás Sedlácek, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php), wird die Diskrepanz zwischen Wohlstand und Plünderung angeklagt, und es werden Lösungsansätze diskutiert, wie wir den Wohlstand auf der Erde mehren können, ohne sie auszuplündern (Paul Collier, Der hungrige Planet, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13125.php). Allen Ansätzen liegt zugrunde die unabdingbare Herausforderung, einen Perspektivenwechsel im Umgang der Menschen mit sich und den Sachen durchzuführen. Nachhaltiges Denken und Handeln gilt dabei als der Weg, bei dem die Menschheit ein humanes, gerechtes, friedliches und soziales Überleben schaffen kann. Die Zivilisation, insbesondere in den Industrie- und Konsumländern, muss weg kommen von der „Zuvielisation“ (Klaus Töpfer), bei der meist mehr als ein Drittel der globalen Lebensmittelproduktion auf dem Müll landet. Dagegen regt sich Widerstand; etwa die „Initiative gegen die Vernichtung von Lebensmitteln“, die mit der Aufforderung „We feed the World“ zum Umdenken auffordert (www.deu.anachopedia.org.), die Projekte, wie sie mit dem aufrüttelnden Film „Taste the waste“ in die Öffentlichkeit gebracht werden (www.schrotundkorn.de), die Ratschläge zum „Containern“ (www.dumpstern.de), oder die Informations- und Aufklärungsaktivitäten, wie sie von Slow Food International (www.slowfood.com) und Slow Food Deutschland mit dem Slogan „Die Zukunft der Lebensmittel ist unsere Zukunft“ und der Slow Food Messe "Salone del Gusto" und des Terra Madre Kongresses vom 25. bis 29. Oktober in Turin organisiert werden (www.slowfood.de ).

Der Bonner Politikwissenschaftler, Journalist, Medienberater und Consultant bei InWEnt, Stefan Kreutzberger und der Kölner Journalist und Filmemacher Valentin Thurn , bringen ein bemerkenswertes Dokument heraus, als Begleitband zum Film „Taste the Waste“ und als Anleitung zum Aktivwerden gegen den Vernichtungswahn von Lebensmitteln in der Welt.

Aufbau und Inhalt

Der italienische Publizist und Gründer von Slow Food, Carlo Petrini, weist in seinem Vorwort darauf hin, dass zu den grundlegenden Problemen unserer Zeit die Unfähigkeit gehört, zwischen Preis und Wert unterscheiden zu können. In fünf Kapiteln verweisen die Autoren auf „Konsumwahn und Wegwerfgesellschaft“, auf die „globalen Folgen unseres Konsumverhaltens“, zeigen Wege „von der Überflussgesellschaft zum verantwortlichen Konsum“ auf, verdeutlichen, „was Staat, Wirtschaft und Wissenschaft tun sollten“, ebenso „was jeder Einzelne tun kann“. Die Geschäftsführerin von Greenpeace e.V., Brigitte Behrens, zeigt mit ihrem Nachwort „Taten statt warten“ die notwendigen Schritt dazu auf. Da ist erst einmal eine Überraschung zu vermelden: Die Definitionen darüber, was Verschwendung im Zusammenhang mit Nahrungsmitteln bedeutet, sind so vielfältig wie die Interessen und Vorstellungen über Nahrungserzeugung und (Energie) -verbrauch. Die Autoren beschränken sich deshalb in ihren Recherchen (erst einmal) auf die Problematik „Verluste und Verschwendung von Nahrungsmittel(n), die direkt für den menschlichen Verzehr angebaut und produziert werden“. Dabei ist es wie mit dem Fingerzeig, der auf die Verursacher der Entsorgungs- und Vernichtungspraktiken bei Lebensmitteln, den Erzeugern und Händlern gerichtet ist: Immer zeigen auch drei Finger für den Mahner zurück! Weil Frische-Erwartungen, etwa bei Gemüse und Früchten, eher emotional als warenorientiert artikuliert und undurchschaubare Datierungen zur Haltbarkeitsgarantie ausgewiesen werden. Die schockierenden Beispiele der Verschwendungssucht, etwa, dass in Europa jedes Jahr rund 3 Millionen Tonnen Brot auf den Müll landen, eine Menge, die ausreicht, um ganz Spanien mit Brot zu versorgen, sollen die Produzenten und Konsumenten nicht in erster Linie zum Verzicht auffordern, sondern ein Bewusstsein dafür schaffen, „dass Mechanismen, die für einzelne Unternehmen rentabel sein mögen, volkswirtschaftlich gesehen katastrophal sind“. Gleichzeitig allerdings muss es darum gehen, tatsächlich einen Perspektivenwechsel in unserer Lebensführung durchzuführen: „Sparsamer leben, Energien effizienter und Böden nachhaltiger nutzen und bewusster mit sich und der Umwelt um(zu)gehen“.

Die Erzählungen von Menschen, die, entweder tatsächlich aus Not, oder aus Überzeugung, dass auf dem Gebiet der Lebensmittelerzeugung und -verwertung „etwas schief läuft“, sich mit Nahrungsmitteln versorgen, die von den Produzenten und Händlern weggeworfen werden, als (illegale) „Containertaucher“ sich über Wochen und Monate hin ernähren, klingen nostalgisch bis abenteuerlich. In ihnen steckt nicht selten eine gewisse Sehnsucht nach der „heilen Welt“; aber auch eine Energie, um gegen die offensichtlichen Missstände aktiv und politisch anzugehen. Die Rechtslage ist (un)eindeutig: Weggeworfene Ware gehört dem Besitzer, auch wenn er sich davon trennt! Was bedeutet, dass jemand, der „containert“, „dumpstert“ oder sich als „Freegans“ verhält, Diebstahl an fremdem Eigentum begeht. Eine obskure Rechtsverdrehung! Die weltweiten Schätzungen darüber, wie viel produzierte Lebensmittel vernichtet werden, ehe sie an den Konsumenten gelangen, sind gigantisch und schockierend: Rund die Hälfte, hat das Stockholmer International Water Institute 2008 ermittelt.

Die Vorbereitungs- und Dreharbeiten zum Film „Taste the Waste“, der die Situation der Lebensmittelvernichtung in vier Kontinenten dokumentiert, bringen eine Fülle von Unklarheiten und Ungereimtheiten zutage; etwa die überraschende Erkenntnis, dass in jedem Land „anders weggeworfen“ wird, aber auch, dass in der „satten“ Welt die Nahrungsaufnahme der Menschen immer mehr bestimmt wird von Werbekampagnen und auf die Psychologie der Kunden ausgerichteten Produktangebote und der Art und Weise, wie Lebensmittel erworben und zubereitet werden. Es ist das „Dilemma der Vielfalt“, das zu Unsicherheiten, Unachtsamkeiten und Unbestimmtheiten führt, etwa bei der Frage, wie viel Sorten Joghurt im Supermarktregal stehen und welche von wem davon gekauft werden wollen.

Ein Blick über den deutschen und europäischen Gartenzaun lässt den bewussten Konsumenten eher schaudern und verzweifeln: Die Produktionsbedingungen für Nahrungsmittel in den Ländern des Südens sind nicht nur fragwürdig, sondern auch nicht selten menschenunwürdig und zudem klimaschädlich, etwa wenn es um die Tierhaltung in den Regenwäldern in Lateinamerika, Afrika und Asien geht, um die Gier des Agro-Kapitals nach bebaubare Böden in der Welt (Wilfried Bommert, Bodenrausch. Die globale Jagd nach den Äckern der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13381.php), Anbau von Getreide für die Spriterzeugung („Warum volle Tanks zu leeren Tellern führen“), Überfischung… Und der Hunger in der Welt nimmt zu (vgl. dazu auch: Worldwatch Institute, Hrsg.: Zur Lage der Welt 2011. Hunger im Überfluss: Neue Strategien im Kampf gegen Unterernährung und Armut, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11455.php; siehe auch: Wilfried Bommert, Kein Brot für die Welt, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/8711.php).

Weil aber der gute Wille des Einzelnen an Grenzen stößt, wenn das System falsch programmiert ist (Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010, in: www.socialnet.de/rezensionen/10494.php), bedarf es der Auseinandersetzung darüber, was Staat, Wirtschaft und Wissenschaft tun sollten, um Information, Aufklärung, Produktsteuerung und -überwachung zu gewährleisten, lokal und global. In Verbindung mit der Herausforderung, was jeder Einzelne tun kann, lässt sich bei Projekten bestaunen, die, wenn auch nur dann sichtbar, wenn man gewillt ist, genau hinzuschauen – und mitzumachen. Es sind faszinierende und motivierende Beispiele dafür, wie Nahrungsmittel schmecken, die etwa aus der Region und von Bauernhöfen stammen, die mit einem nachhaltigen Bewusstsein produzieren; vielleicht sogar, mit Gleichgesinnten, selbst die Produkte anbauen und schmackhaft zubereiten; bewusst einkaufen, auch bei Produkten, die nicht in unserer Umgebung wachsen und erzeugt werden, mit empathischem und solidarischem Bewusstsein, dass ein Lebens-Mittel notwendig ist für jeden Menschen auf der Erde – und Mangel wie Überfluss inhuman sind!

Fazit

Die dem Buch angefügte kommentierte Linkliste und die Auflistung von Internetadressen von Verbänden, Vereinen und Initiativen, die sich gegen Lebensmittelvernichtung engagieren, sind eine wertvolle Ergänzung im informativen und zum Nachdenken und Mitmachen anregendem Buch. Das Film- und Buchprojekt „Die Essensvernichter – Taste The Waste“ muntert auf, den Slogan – „Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist!“ – Ernst zu nehmen als humane Herausforderung, bei der Gestaltung einer gerechteren, sozialeren und humaneren Einen Welt mitzumachen (vgl. dazu auch: Farida Akhter: Seeds of Movement - Samenkörner sozialer Bewegungen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11498.php).

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245