Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele
Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Vetter, 13.07.2012

Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Kind - Familie - Gesellschaft.
Fischer Taschenbuch Verlag
(Frankfurt) 2012.
527 Seiten.
ISBN 978-3-596-19405-6.
D: 12,99 EUR,
A: 13,40 EUR,
CH: 18,90 sFr.
Reihe: Fischer - 19405.
Autor
Martin Dornes ist Soziologe, Psychologe und Gruppenpsychotherapeut und im Leitungskolleg des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt tätig. Bekannt ist der Autor durch seine Forschungsschwerpunkte im Bereich der Säuglings- und Kleinkind-, Sozialisations- und Familienforschung.
Thema
In seinem Buch „Die Modernisierung der Seele“ beschäftigt sich der Autor mit Fragestellungen der modernen Lebensarten und möglicher „problematischer“ Auswirkungen auf die Menschen. „Aufgeschreckt von dramatischen Zeitungsmeldungen und schrillen Fernsehsendungen bin ich zunächst davon ausgegangen, dass die Lage bedenklich ist. Fast jedes Mal jedoch, wenn ich solchen Berichten genauer nachgegangen bin, stellte sich heraus, dass die Lage besser war, als die Berichte suggerierten“ (S. 16). Dieses Zitat verdeutlicht meines Erachtens die Leitidee des vorliegenden Buches. Dornes fragt, ob unter den Bedingungen spätmoderner Lebenswelten neben „Verlusterfahrungen“ auch Fortschritte für die Menschen in den verschiedenen Lebensaltern nachgewiesen werden können.
Aufbau
Im ersten und zweiten Kapitel betrachtet Dornes Erziehungseinstellungen, die sich als Wechsel vom autoritären zum demokratischen Umgang mit Kindern beschreiben lassen. Die Generationenbeziehungen sind egalitärer geworden, aber deshalb, so Dornes, noch nicht aus den Fugen geraten. Phänomene wie Scheidungen, Zeitmangel, medialer Einfluss auf Kinder sowie Eltern, die Kinder „narzisstisch gebrauchen“ und in Bezug auf ihre eigene Bedürfnisbefriedigung als regrediert beschrieben werden, sind nach Dornes kein Beleg dafür, individuelle oder gesellschaftliche Verfallstheorien aufzustellen. Forschungsstudien belegen, dass heutige Eltern ihren Kindern emotional verbunden sind und viel Zeit mit ihnen verbringen. Nie zuvor waren Eltern ihren Kindern so nah, wie heute. Befürchtungen, dass der Egoismus in der jungen Generation auf dem Vormarsch sei, weil Eltern keine Grenzen ziehen, widerspricht Dornes.
Im dritten und vierten Kapitel wendet sich der Autor den Auswirkungen der Modernisierung auf das Lebensalter der Adoleszenz zu, in dem Selbstfindung und Identitätsentwicklung eine wichtige Rolle spielen.
- Sind die Annahmen einer Zunahme elterlicher Konfliktvermeidungsstrategien sowie des Verlustes der Orientierungsfunktion der Eltern empirisch haltbar?
- Bedroht diese Konfliktvermeidung die psychische Entwicklung von Kindern und den Werteverfall?
- Erbringen liberalisierte Erziehungs- und Sozialisationspraktiken automatisch einen Zugewinn an Freiheit und selbstsicherere Kinder?
Dornes setzt sich hier mit Selbsttheorien auseinander und geht der konstruktivistischen Annahme nach, dass „Selbstfindung“ in der heutigen Zeit eher „Selbsterfindung“ bedeute. Er geht davon aus, dass liberalisierte Erziehungsstile neue Freiheiten für Kinder ermöglichen aber auch einen Zwang zur Selbsterfindung erhöhen. Die Gefahr der Vereinzellung sei jedoch unbegründet, da die psychische Entwicklung nach wie vor an sozialstrukturelle Restriktionen und Erfahrungen in der frühen Kindheit gebunden bleibt.
Im fünften und sechsten Kapitel geht Dornes der Frage nach, ob der liberale Einstellungswandel in Familien und Wertepluralität zu einem sozialintegrativen Problem führen. „Führt Individualismus zum Schwinden von sozialem Engagement und Solidarität?“ (S. 279). Ist die autonome Kompetenz der jungen Generation mittlerweile so entwickelt, dass von einem Verlust sozialer Fähigkeiten im Sinne von Verbindlichkeit und Solidarität ausgegangen werden muss? Dornes geht davon aus, dass sozialintegrative Kompetenzen nicht allein vom Zustand des Subjekts abhängig sind. Die Formen der Solidarität haben sich zwar gewandelt, sind aber nach wie vor zu beobachten. Engagement sei auch nicht per se gut oder schlecht.
Im siebten und achten Kapitel beschließt der Autor seine Überlegungen zum Verhältnis von kulturellem und psychischem Wandel mit Ausführungen zur Frage nach adäquaten Kriterien, die These eines strukturellen Persönlichkeitswandel zu belegen.
- Ist die Hypothese psychoanalytischer Persönlichkeitstheorien, das inter- und intrapsychische Konflikte die „Psyche“ ausbilden, der angemessene Ausgangspunkt für die Bewertung gesellschaftlicher Veränderungen?
- Bestätigen Statistiken über eine vermeintliche Zunahme von psychischen Erkrankungen, dass der gesellschaftliche Wandel die Menschen überfordere?
- Erübrigt die Quantität von Kranken die Frage nach der Qualität moderner Lebensstile?
Krankheiten haben einen Bezug zum gesellschaftlichen Leben. Ihre Wahrnehmung hängt allerdings auch vom zivilisatorischen Fortschritt ab, von den neuen Möglichkeiten, sie zu diagnostizieren.
Diskussion
Martin Dornes geht es um ein „realistisches“ Bild unserer Gesellschaft und ihrer Mitglieder. Was die einen als Gefahr identifizieren, können andere als kulturelle Neubewertung begreifen. Die Geschichte der Kindheit in Deutschland sei auch eine Erfolgsgeschichte, die Mut mache und Zukunft habe und eine Vorstellung von dem ermögliche, was fehlt und möglicherweise verloren geht (vgl. 16). Durch die Annahme der progressiven Differenzierung moderner Gesellschaften sind Katastrophenszenarien, etwa die These tyrannisch gewordener Kinder, empirisch nicht haltbar. Der Autor verschweigt nicht, dass er zu „Stabilitätsbehauptungen“ statt „Labilitätsvermutungen“ neigt (S. 429).
Dornes referiert und belegt „Verfallsannahmen“, denen er anschließend aus sozialwissenschaftlicher bzw. konstruktivistischer Perspektive begegnet. Wie können die Hypothesen vieler Erziehungsratgeber und zeitkritischer Beobachter beurteilt werden? Stimmt die These, dass die Bindungsbereitschaft und Beziehungsfähigkeit zerfalle? Verformt eine mediale Reizüberflutung und die Beschleunigung und die Enttraditionalisierung unser Selbstempfinden?
Jeder
Gefährdungshypothese stellt er sozialstrukturell oder historisch
argumentierende Theorien und Studien gegenüber, die die Einschätzung
des Risikos relativieren. Durch die Argumentationsweise eröffnet
Dornes neue Interpretationsperspektiven. Die in vielen
semiprofessionellen Studien postulierten Wünsche nach stärkerer
Disziplinierung von Kindern, um negative gesellschaftliche
Veränderungen abzuwenden, hält der Autor für unangemessen.
Erklärungsversuche, die von einem bestimmbaren
Ursache-Wirkungszusammenhang ausgehen, sind ihm fragwürdig.
In
seinem Buch geht Dornes des Weiteren davon aus, dass jede
Epoche Konflikte erzeugt, die als Chance oder Risiko gewertet werden
können (vgl. S. 16). Kindheit und Jugend sind die Lebensphasen, die
von der erwachsenen Generation mitgestaltet werden. Deshalb
interessiert sich Dornes für das moderne erzieherische
Verhalten von Eltern. Erziehung ist wiederum vom gesellschaftlichen
Wandel abhängig. Eine fortschreitende Modernisierung wirkt auf die
Einstellungen der Menschen in ihren Generationenbeziehungen und
Generationenlagen. Die ständige Verflechtung individueller und
gesellschaftlicher Verhältnisse spiegelt sich im Aufbau des Buches.
„Die Modernisierung der Seele“ ist ein Buch mit dem der Autor
auf heutige komplexe Zusammenhänge von Kindheit und Sozialisation
und damit von Erziehung und Gesellschaft eingeht.
Fazit
Das vorliegende Buch überzeugt darin, dass die Argumente eines Bedrohungsszenarios durch die der Ermöglichung kontrastiert werden. Dass Veränderungen positiv und negativ beurteilt werden können, wird bei der Lektüre des Buches immer wieder sichtbar. Diese Mehrdeutigkeit eröffnet Perspektiven auf die Wahrnehmung von Veränderungen. Ich frage mich nur, ob diese Befunde helfen, ein realistisches Bild von Kindern und Eltern zu entwerfen. Jede Modernisierungsdebatte greift zu kurz, die sich allein auf ein Bedrohungsszenario oder eine Verbesserung von Verhältnissen bezieht. Die dialektische Wahrnehmung ist nicht überholt.
Dieses
Buch hilft, sich bewusst zu machen, dass Ansprüche an Erziehung und
Ansprüche an ein sinnerfülltes Leben auch eine neue Sensibilität
für psychische Prozesse nach sich zieht. Soziale Realitäten
verändern sich heute so schnell, dass neue Anforderungen an das
Individuum gestellt werden, die emotional nachvollzogen werden
müssen.
Die im Buch vorgetragene Kritik an semiprofessionellen
Verfallstheorien und der weitgehend fehlenden Öffnung der
Psychoanalyse für sozialwissenschaftlich empirische Forschung
täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass jede Theorie
hypothetisch ist. Auch empirische Studien bieten keine „objektiven“
Daten sondern sind ihrerseits wissenschaftliche Konstrukte. Gerade
die in diesem Buch zitierten Studien bestärken, dass eine
Objektivität von Deutungen der sozialen Wirklichkeit nicht möglich
ist. Der zu Recht kritisierte Datenpositivismus der Sozialreportagen
und journalistischen Beiträge kommt leider allzu oft auch in den
Wissenschaften vor. In der Gegenüberstellung der unterschiedlichen
Erkenntnisse wird allerdings die Notwendigkeit eines Diskurses
deutlich. Ob die Leser und Leserinnen der Erziehungsratgeberliteratur
von diesem Buch beeindruckt werden, ist für mich fraglich.
Martin
Dornes
glaubt, dass eine überwiegende problembezogene Wahrnehmung dazu
führe, problematische Phänomene im Sinne einer sich selbst
erfüllenden Prophezeiung zu deuten (vgl. S. 427ff). Aber, können
atmosphärische Wahrnehmungen das bewirken? Meiner Ansicht nach
wollen Verschlechterungsdiagnosen polarisieren. Kulturpessimistische
Ansichten wollen aufmerksam machen, dass Fortschritt nicht nur
positive Seiten hat. Dieses Buch gibt mir Anlass, auch über die
Schwierigkeiten konstruktivistischer Theoriebildung nachzudenken.
Rezension von
Prof. Dr. Christiane Vetter
Leiterin der Studienrichtung Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
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Zitiervorschlag
Christiane Vetter. Rezension vom 13.07.2012 zu:
Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Kind - Familie - Gesellschaft. Fischer Taschenbuch Verlag
(Frankfurt) 2012.
ISBN 978-3-596-19405-6.
Reihe: Fischer - 19405.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13471.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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