Jan Frölich, Gerd Lehmkuhl: Computer und Internet erobern die Kindheit
Rezensiert von Michael Christopher, 09.10.2012

Jan Frölich, Gerd Lehmkuhl: Computer und Internet erobern die Kindheit. Vom normalen Spielverhalten bis zur Sucht und deren Behandlung ; mit 17 Tabellen. Schattauer (Stuttgart) 2012. 206 Seiten. ISBN 978-3-7945-2771-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Der intensive und geübte Gebrauch der neuen Medien durch Kinder und Jugendliche erschreckt viele Eltern. Sie sind verunsichert, fragen sich, wie sie damit umgehen sollen, wenn sie meinen, ihre Kinder sitzen zu häufig vor dem Computer. Da ist es mit Sicherheit nicht hilfreich, dass sich die Fachwelt in zwei Lager aufgespalten hat, die entweder die neuen Medien verteufeln oder hochjubeln. Nun ist mit dem Buch „Computer und Internet erobern die Kindheit“des Autorenduos Frölich und Lehmkuhl ein Buch aus der klinischen Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie erschienen, das sich als wissenschaftlich fundierter Ratgeber präsentiert.
Autoren
Die beiden Autoren nähern sich dem Thema vorrangig aus ärztlicher psychiatrischer Sicht. Jan Frölich ist sowohl Facharzt für Kinderheilkunde und Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch promovierter Pädagoge mit dem Spezialgebieten ADHS, Zwangs- und Angststörungen, Schlafstörungen sowie Mediensucht. Er arbeitet zur Zeit als niedergelassener Arzt in Stuttgart.
Der zweite Autor, Gerd Lehmkuhl, ist Professor und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind unter anderem psychische Auffälligkeiten bei Schlafstörungen, ADHS sowie Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen.
Seine weiteren wichtigen Veröffentlichungen sind u.a. die gemeinsam mit Manfred Döpfner und Franz Petermann entwickelte Buchreihe Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, das Handbuch Kinderschlaf (mit Alfred Wiater) sowie das Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie (gemeinsam mit Fritz Poustka, Martin Holtmann und Hans Steiner).
Gemeinsam haben Frölich und Lehmkuhl bereits verschiedene Werke zu ADHS, hyperkinetischen Kindern und Schlafstörungen verfasst.
Inhalt und Aufbau
Beide Autoren haben das vorliegende Buch gemeinsam verfasst. Die einzelnen Artikel sind ihnen nicht individuell zuzuordnen ist, sondern das Buch ist wie aus einem Guss geschrieben. Computer und Internet erobern die Kindheitist in zwölf Kapitel gegliedert, die aufbauend unterschiedliche Aspekte der Thematik behandeln. Im ersten Kapitel beschreiben die Autoren verschiedene Motivationen, weshalb Jugendliche Computer und Internet nutzen. Sie führen unterschiedliche Studien zur medialen Durchdringung des Alltags von Kindern und Jugendlichen an. Ihr Freizeitverhalten ist sowohl vom Alter (Kinder sehen eher Fern, Jugendliche spielen verstärkt Computer), Geschlecht (Jungs spielen, Mädchen benutzen eher Social Networks) als auch von der sozialen Schicht, beziehungsweise vom Milieu, abhängig.
Aus verschiedenen Studien stellen die beiden Autoren Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Computerspielen auf die Jugendlichen vor. Computerspiele können demnach besonders die visuelle Wahrnehmung und kognitive Eigenschaften steigern. Jedoch warnen die Autoren davor, viele Studien zu überinterpretieren. Als negative Eigenschaften verweisen sie darauf, dass sich durch Computerspiele Ruhephasen verkürzen und die kognitiven Leistungen im Spiel den Schlafrhythmus stören können. Das hat wiederum Auswirkungen auf die schulischen Leistungen. Die Bildung im Internetzeitalter steht im Blickpunkt des vierten Kapitels. Frölich und Lehmkuhl verweisen auf die Problematik der Wissensquelle Internet (u.a. die verschiedenen Wikis) und vertreten, dass die Medienkompetenz eine unabdingbare Grundbedingung für die Nutzung und Bewertung solcher Quellen ist.
Die dunkle Seite des Internets beleuchten die Autoren in den folgenden Kapiteln. Der häufig mangelhafte Schutz der Privatssphäre für Kinder und Jugendliche, die Gefahren von Cybermobbing (Bloßstellen oder Diffamieren), Cyberbullying (inkl. Einschüchterungsversuchen) oder Cyberstalking (dauernde und absichtliche Belästigung), aber auch der einfache Zugriff auf Inhalte mit realer Gewalt (Sniff-Videos oder auch Happy Slamming) oder Pornographie sind hier besonders beschrieben. Darüber hinaus gibt es Foren, die selbstzerstörerisches Verhalten verherrlichen.
Den gewaltverherrlichenden Spielen widmen Frölich und Lehmkuhl ein eigenes Kapitel. Die Autoren gehen der Streitfrage nach, inwieweit aggressives Verhalten von Computerspielen ausgelöst wird. Sie sehen verschiedene Einflüsse, die für einen Einfluss der Spiele sprechen.
Die Autoren kritisieren nicht die fehlenden rechtlichen Bedingungen sondern die schlechte Aufklärung über die möglichen Risiken und die mangelnde Durchsetzung von Gesetzen sowie die fehlende moralische Selbstverpflichtung von Herstellern, suchtpotentielle Spiele nicht mehr zu produzieren. Im Anschluss stellen sie Therapie- und Beratungsmöglichkeiten für Betroffene vor. Sie geben praktische Ratschläge, verweisen auf Adressen, stellen einen Fragebogen zur Selbsteinschätzung vor und präsentieren einen Comicstrip des zwölfjährigen Dennis.
Diskussion
„Computer und Internet erobern die Kindheit“ ist ein fachliches und sachliches Werk, das viele aktuelle Forschungsergebnisse zu den Wirkungen und Auswirkungen von Medien in dieser Phase des Lebens aufgreift. Die Autoren verweisen darauf, dass Computerspielen viele Aspekte des „traditionellen“ Spielens teilt, jedoch auch das Potential für die Entwicklung spielsüchtiger Verhaltensweisen besitze. Hierbei distanzieren sie sich wohltuend von jedwedem ideologischem Schwarz-Weiß-Denken, das bislang die Diskussion um das Thema beherrscht.
Den Autoren geht es nicht darum, Medien an den Pranger zu stellen, sondern den Umgang damit zu hinterfragen. Sie erklären die Bedeutung von Computerspielen für Jugendliche (Icebreaker-Funktion, Interaktivität, emotionale Ablenkung und Unterhaltung als auch Alltagsflucht) sowie des Online-Seins (Selbstdarstellung, Identitätsgestaltung, Anerkennung, Kommunikation, Abgrenzung von der Erwachsenenwelt usw.).
Problematisch sehen die Autoren weniger die Verdrängung von traditionellen Freizeitbeschäftigungen durch die Medien, sondern vielmehr den aufkommenden Aufmerksamkeitsstress, alles nebenbei machen zu müssen (das sogenannte Multi-Tasking). Hier sieht man die engen Bezüge der Forschung der beiden Autoren mit Kindern und Jugendlichen mit einer ADHS-Störung. Dabei ist Multi-Tasking ein Problem für alle Altersgruppen in dieser Zeit. Spannend ist dabei, dass die Autoren nicht bei der Benennung der Probleme bleiben, sondern gleich eine Forderung an das Erziehungswesen stellen, mit den Herausforderungen der Zeit umgehen zu lernen.
Da der Alltag von Kindern und Jugendlichen aber deutlich von den Medien durchdrungen sei, fordern Frölich und Lehmkuhl die Mediennutzung in einen pädagogischen Gesamtkontex zu stellen. Dabei sehen sie beim E-Learning aktuell Defizite in der Umsetzung, besonders, da viele Entwickler solcher Inhalte noch „digital immigrants“ seien. Da das Internet aber ein Quell unzähliger Informationen ist, schlagen die Autoren vor, dass Lehrer die Schüler bei Internet-Recherchen noch mehr (an)leiten.
Die Suchtgefahr von Computer und Internet nimmt einen großen Teil des Buches ein. Die Autoren erläutern verschiedene Ansätze. Besonders wenn die Rahmungskompetenz, also die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Spiel und Realität, nicht ausgeprägt ist, bestehe eine erhöhte Suchtgefahr. Dies geschieht laut den Autoren aber nur dann, wenn andere Belastungen oder psychische Störungen hinzu kämen.
Ein erhöhtes Suchtrisiko sehen die Autoren dabei nur bei Online-Spielen. Dieses Risiko verteilt sich auf jede Bildungsschicht und Schulform. Als psychiatrische Ärzte setzen sich Frölich und Lehmkuhl mit den klinischen und diagnostischen Aspekten der Computersucht auseinander sowie ihrer Abgrenzung und Nähe zu anderen Störungsbildern. Sie sehen einen Zusammenhang zwischen pathologischer Computer- und Internetnutzung und psychiatrischen Störungen, die sich oft gegenseitig negativ beeinflussen.
Das ist ein wichtiger Punkt, denn eine einfache Verlagerung auf ein Symptom, wie den übermäßigen Gebrauch des Computers, hilft den wenigsten Betroffenen. Das Internet und die Mehrzahl von Computerspielen besitzen nach Frölich und Lehmkuhl per se kein Abhängigkeitspotential, sondern die Art des exzessiven Umgangs sowie die Motivlage sind für sie die wichtigsten suchtauslösenden Faktoren. Die Verantwortung liege daher in den Händen der Eltern.
Ein Suchtpotential wähnen die beiden Autoren insbesondere bei Online-Rollenspielen, die beim Spieler ein Flow-Erleben (Ausblendung äußerer Gegebenheiten, Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein) auslösen. Solche Spiele fördern eine parallele virtuelle Welt, was schlimmstenfalls dazu führen kann, die reale Welt zu vernachlässigen.
Leider haben viele kritische Forschungen nicht Einzug in das Buch gehalten, wie zum Beispiel von Kutner und Olson oder von Ferguson und Kilburn. Ferguson und Kilburn haben die einflussreichen Forschungsergebnisse des Forscherkollektivs um C.A. Anderson, die auch in den Theoriekanon des Buches Aufnahme gefunden haben, in ihrem Artikel „Much Ado About Nothing“ (2010) ob der Überinterpretation der Forschungsergebnisse von Anderson kritisiert.
Dennoch muss hervorgehoben werden, dass das Buch weder die Medien verteufelt noch ihre Auswirkungen verharmlost. Dadurch findet das Buch eine angenehme Distanz zu medientheoretischen Ideologien.
Fazit
„Computer und Internet erobern die Kindheit“ von Frölich und Lehmkuhl findet einen angenehmen Ton und schafft es, wichtige Fragen auf den Punkt zu bringen. Es bietet trotz seiner wissenschaftlichen Sprache einen verständlichen Überblick zum Thema. Es ist gut gegliedert und klar geschrieben und bietet besorgten Eltern eindeutige Antworten zu der potentiellen Gefährdung ihrer Kinder. Kleine Kästchen fassen häufig das Wichtigste zusammen. Das umfangreiche Materialkapitel gibt praktische Anwendungsmöglichkeiten. Das Buch eignet sich für alle, die sich mit Medien auseinander setzen, insbesondere für Pädagogen, Ärzte, Psychologen, Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter. Das Buch hat das Potential aus medizinischer Sicht ein Standardwerk zu dem Thema zu werden.
Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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