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Christoph Möller (Hrsg.): Internet- und Computersucht

Rezensiert von Michael Christopher, 11.10.2012

Cover Christoph Möller (Hrsg.): Internet- und Computersucht ISBN 978-3-17-021874-1

Christoph Möller (Hrsg.): Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2012. 282 Seiten. ISBN 978-3-17-021874-1. 32,00 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-17-023985-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Medien- und Internetsucht sind die neuen Schlagworte, die, eine gewisse Ironie nicht verhehlend, durch die Medien wabern. Christoph Möller möchte mit diesem Buch das neue Standardwerk für diese Problematik geschaffen haben.

Autoren

Der Herausgeber Christoph Möller, Chefarzt einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Station in Hannover, hat für seinen Sammelband neunundzwanzig unterschiedliche medienkritische Autoren versammelt, wie unter anderem den durch die Medien bekannten Manfred Spitzer. Teilweise haben mehrere Autoren gemeinsam einen Text verfasst.

Inhalt und Aufbau

Das Buch „Internet- und Computerspielsucht“ ist in sechs Teile gegliedert.

Im ersten Teil widmen sich die Autoren den Grundlagen, auf denen die Thesen dieses Buches fußen. Das Kriminologische Forschungsinstitut in Hannover stellt hierfür epidemiologische Daten zur Verfügung, die sich an den Diagnosekriterien für stoffgebundene Süchte des ICD-10 anlehnen und Gerald Hübner gibt die Richtung vor, indem er für das Lernen im realen Leben plädiert.

Im zweiten Teil werden die soziologischen, psychologischen und pädagogischen Aspekte der Mediennutzung beleuchtet, wie Gewalt und Medien zusammenhängen, den gewohnheitsmäßigen Umgang der "Generation 2.0" mit den neuen Medien und ihr negativer Einfluss auf die Schulbildung.

Der dritte Teil befasst sich mit klinischen Befunden der Medien und Computersucht. Die Artikel betrachten entwicklungspsychopathologische, bzw. hirnorganische und jugendpsychiatrische Aspekte. Darüber hinaus widmen sie sich der notwendigen, aber noch nicht genügend entwickelten, Diagnostik der „Internet- und Computerspielsucht“ sowie der Komorbidität mit anderen psychischen Störungen. Die Autoren möchten die sogenannte Computersucht nicht als Symptom einer anderen Störung verstanden wissen, sondern sehen sie als eigenständige Störung an.

Im vierten Teil widmen sich die unterschiedlichen Autoren besonderen Ausprägungen der Internetsucht, wie dem Suchtpotential von Online- und Browser Rollenspielen und der Absicht der Spielentwickler damit ihr Geld zu verdienen sowie der Sucht von Jugendlichen nach Internet-Pornografie. Am Ende dieses Teils berichten drei Autoren von drei Fallbeispielen aus ihrer jeweiligen Praxis.

Der fünfte Teil knüpft daran an und stellt die praktische Arbeit der verschiedenen Beratungs- und Behandlungsstellen in den Fokus. So wird unter anderem von der Beratungsstelle „return“, der stationären Arbeit in „Teen Spirit Island“, „Schloss Hamborn“ und „Stepkids“ berichtet. Zudem kommen Eltern eines betroffenen jungen Erwachsenen zu Wort, die aufgrund der Problematik ihres Sohnes eine Selbsthilfegruppe für Eltern gegründet haben.

Der letzte Teil thematisiert die Prävention und Vorbeugung von Mediensucht mit Programmen zur Suchtprävention, insbesondere über Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Darüber hinaus wird die Erziehung zur Medienkompetenz, das gemeinsame Lesen von Büchern und andere entwicklungsförderndene Elementen beleuchtet.

Diskussion

Das von Christoph Möller herausgegebene Buch „Computer- und Internetsucht“ ist ein medienkritisches Buch, das medienpädagogische und -psychologische Forschungsergebnisse und Konzepte zum großen Teil ablehnt und meist nur dem Tenor nachgeht: Medien schaden dem Adoleszenten. Es warnt populistisch vor den Gefahren der neuen Medien und baut damit ein klassisches Schwarz-Weiß-Denken auf. Dabei ist der Begriff der Computer- und Internetsucht in der Fachwelt sehr umstritten, so dass üblicherweise vom pathologisch exzessiven Computerspiel- und Internetgebrauch gesprochen wird. Nicht umsonst findet man bislang diesen Begriff nicht im ICD 10. Dem Buch geht es um eine Sensibilisierung durch Information (238), dabei wird die Bedrohungslage überdramatisiert und Eltern generell verunsichert. Anderslautende Forschungsergebnisse finden in dem Buch keine Beachtung, dafür werden unter anderem die umstrittenen Studien der amerikanischen medienkritischen Psychologin KimberlyYoung hervorgeholt, um Thesen zu belegen. Das ist zutiefst unwissenschaftlich.

Gerald Hüther berichtet von dem Kenntnisstand der Hirnforscher, wobei meist nicht klar ist, auf wen er sich genau beruft. Dass exzessive Computernutzung Einfluss auf die Schulleistung hat, wie das Team um Thomas Mößle herausgefunden hat, ist nicht von der Hand zu weisen, doch bleibt der Artikel polemisch. Manfred Spitzers Thesen, dass eine frühe Mediennutzung dem Gehirn des Kindes schadet ist weitläufig bekannt, ebenso seine absolute Ablehnung des Trainierens von Medienkompetenz. Hier zu diskutieren ist müßig. Gefährlich wird es, wenn te Wildt und Vukicevic behaupten, dass sie den Nachweis erbracht hätten, dass Abhängigkeit von Medien kein Symptom einer anderen Störung, sondern ein eigenständiges Krankheitsbild sei. Den wissenschaftlichen Nachweis bleiben sie zum einen schuldig – Zitat zum Thema Asperger und Mediensucht: „Wenngleich sich momentan noch keine wissenschaftlichen medizinische Publikationen zu dieser Frage finden lassen, so geben die klinische Erfahrung und die Berichte im Internet [sic!] selbst einen Anlass, hier einen Bezug herzustellen.“ (123) – zum anderen verschleiern sie dadurch andere ernsthafte Krankheitsbilder, da sie diese hinter die Sucht stellen. So tritt in vielen Artikeln die Wissenschaft zugunsten von Erfahrungswerten und einem Bauchgefühl in den Hintergrund. Damit sind nicht die Fallbeispiele gemeint. Lesenswert ist die, leider ebenfalls polemische, Beschreibung der problematischen Browser-Games. Ihre Struktur und die moralische Fragwürdigkeit des Geschäftsmodells sind für Kinder gewiss nicht geeignet.

Interessant zu lesen ist auch die praktische Arbeit in den Beratungsstellen und psychiatrischen Stationen. Dabei stellt sich aber bei der Beschreibung des Angebots der Kinder- und Jugendhilfe Schloss Hamborn die Frage, ob es nicht kontraproduktiv in puncto Suchtverlagerung ist, den Jugendlichen statt dem Computer ein Freizeitangebot namens "Kneipe" anzubieten, wenn auch kein Alkohol ausgeschenkt wird, so wird die Kneipe als Ort attraktiv gemacht.

Fazit

Kaum jemand bestreitet, dass ein exzessiver Medienkonsum für Kinder und Jugendliche kein Problem darstellt. Doch die einseitige Dämonisierung der Medien und einer paradiesischen Beschreibung der guten alten bürgerlichen Welt mit vorlesenden Großeltern führen in einer sich rapid wandelnden mediatisierten Welt in die Irre und nicht zu einer Lösung. Niemand kann das Rad der Zeit zurückdrehen, die Welt verändert sich und die Gesellschaft muss sich mit den sich verändernden Gegebenheiten auseinandersetzen. Dass Computer und Internet dazu gehören, muss keinem gefallen, aber es ist so. Daher ist es notwendig, zu lernen, mit Medien umzugehen. Das vermehrte Auftreten von dissozialem Verhalten und aggressiven Übergriffen in der Berliner U-Bahn sind alleine nicht mit pathologischem Medienverhalten zu erklären. Hier wird an einem Symptom gedreht ohne eine wirkliche Ursachenforschung einer überforderten Gesellschaft zu betreiben.

Im Geleitwort schreibt Bilke-Hentsch prophetisch von einer mit Sicherheit weiten Verbreitung des Buches und einer damit einhergehenden kontroversen Rezeption der im Buch vertretenen Thesen (8) und droht mit erweiterten Auflagen. Dabei wäre es besser, dem Buch und seine wissenschaftlich umstrittenen Ansätze keine weitere Beachtung zu schenken. Mit dem Spruch: "Die Medien sind schuld" hat man es sich schon immer zu einfach gemacht.

Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Es gibt 35 Rezensionen von Michael Christopher.

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ISSN 2190-9245