Birgit Heller: Wie Religionen mit dem Tod umgehen
Rezensiert von Prof. Dr. Traugott Roser, 07.10.2013

Birgit Heller: Wie Religionen mit dem Tod umgehen. Grundlagen für die interkulturelle Sterbebegleitung.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2012.
332 Seiten.
ISBN 978-3-7841-2058-4.
D: 26,90 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: Palliative care und OrganisationsEthik - Band 22.
Autorin
Birgit Heller ist als außerordentliche Professorin für Religionswissenschaften an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien tätig. Sie ist seit vielen Jahren eine in der Hospizbewegung hoch angesehene Expertin für spirituelle und interreligiöse Themen; sie ist eine Kennerin indischer Religionen, insbesondere des Hinduismus. Ein Schwerpunkt Hellers sind Projekte in der Frauen- und Geschlechterforschung, die sie in ihre Studien zu vergleichender Religionswissenschaft integriert. Als Konsulentin am Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik / IFF Wien der Alpen Adria Universität Klagenfurt hat sie einen sehr guten Überblick in die Entwicklungen der Hospiz- und Palliativbewegung im deutschen Sprachraum.
Entstehungshintergrund und Intention
Der vorliegende Band ist ein umfassender Beitrag der Forschungen Birgit Hellers zu einer kultursensiblen und interreligiös orientierten Palliative Care, der sich als Standardwerk zu einem unverzichtbaren Ratgeber für Praktikerinnen und Forscher gleichermaßen etablieren dürfte. Heller bezeichnet ihn als „Ergebnis einer langjährigen sowohl persönlichen als auch fachlich-interdisziplinären Auseinandersetzung mit verschiedenen Facetten von Sterben, Tod und Trauer“ (7).
Auch wenn es sich um eine Überarbeitung eines bereits 2003 erschienenen Bandes handelt, erfordern das zunehmende Interesse an interreligiösen und interkulturellen Fragen in der Palliative Care und der „Spiritualitätsboom“ insgesamt eine Erweiterung. Heller nimmt beide Bereiche in kritisch-analytischer Absicht wahr und verhehlt nicht ihre Skepsis gegenüber Entwicklungen, die Spiritualität zum „Gegenbegriff von Religion“ machen: „Was dabei meist übersehen wird, ist, dass Spiritualität und Religionen nicht voneinander zu trennen sind.“ (8) Ebenso kritisch steht sie aber auch einer Spiritual Care gegenüber, die an traditioneller christlicher Sterbebegleitung orientiert ist und der Seelsorge einen Platz im ansonsten rein medizinisch definierten Gesundheitswesen sichern will. Birgit Heller geht von „Sterbekulturen im Plural“ aus: wenn spirituelle Begleitung in Palliative Care kein Randthema sein soll, bedarf es einer Vermittlung der Vielzahl von Deutungen und Umgangsweisen mit Sterben und Sterbenden, Toten, Trauer und Trauernden in den Religion und Kulturen, ohne dabei zu vergessen, dass „die Konzentration auf kulturelle Eigenheiten nicht das persönliche mitmenschliche Engagement, die Verbundenheit im gemeinsamen menschlichen Geschick von Krankheit, Leiden und Tod aufhebt“ (9). Im Zentrum jeder Begleitung steht die persönliche und offene Begegnung von Personen und auf diese will Heller vorbereiten.
Heller wendet sich dem Umgang der Religionen mit dem Tod in kultur- und medizinkritischer Intention zu; die Lektüre der einzelnen Texte provoziert also auch immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit der kulturellen Geprägtheit des heutigen Umgangs mit Sterben und Tod, sowohl in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin als auch in den neueren Entwicklungen der Hospiz- und der Palliativbewegung.
Birgit Heller schreibt ihre Beiträge dabei nicht am Schreibtisch in der praxisfernen Gelehrtenstube. Sie positioniert sich und engagiert sich für ein ganzheitliches Verständnis von Sterbebegleitung und gegen Tendenzen einer Medikalisierung des Todes. Deshalb stellt sie der Aufsatzsammlung einen Text voran, der quer zu allen anderen die Gender-Frage als Kriterium einer gelungenen Sensibilisierung vorstellt: „Der Tod hat ein Geschlecht“ (11-23). Wie schon das Titelbild – eine Pinselzeichnung einer tanzenden Tödin aus dem Zyklus „Vagabondage ad mortem“ der Künstlerin Gertrude Degenhardt – signalisiert, bricht Heller die Todesbilder und unterschwelligen Zuständigkeitsbereiche in der modernen Medizin und Medizintechnik auf, die „die alten Geschlechtsmuster [patriarchal geprägter Gesellschaften] unter neuen Vorzeichen“ reproduzieren (21). Überblicksartig werden weibliche und männliche Todespersonifikationen der Literatur- und Kunstgeschichte und kultur- und religionsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Geburts- und Todesdeutung in Gender-Perspektive vorgestellt. Damit wird die besondere und ambivalente „Todeskompetenz“ von Frauen belegt, die bis heute in das Konzept von „Care“ hineinwirkt und dazu geführt habe, dass gerade in patriarchal geprägten Gesellschaften die Begleitung bei Geburt und Sterben Frauen aufgetragen war. Die Medikalisierung von Geburt und Tod drängt die Care-Aspekte zurück zugunsten männlich bestimmter, auf Machbarkeit, Kontrolle und verrechenbarer Leistungsschemata ausgerichteter Behandlungskonzepte. An dieser Stelle erliegt Birgit Heller allerdings einer vergröberten und klischeehaften Kontrastierung von Hospizbewegung und Palliativmedizin: „Und am Lebensende beherrscht nun zusehends die Palliativmedizin den Raum mit Symptom- und Schmerzbehandlung, terminaler Sedierung und ärztlich assistiertem Suizid. […] Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass männlich dominierte Palliativmedizin und weiblich geprägte Hospizbewegung und Palliative Care einen schwelenden Konfliktherd bilden.“
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Teile.
- Zunächst werden unter der Überschrift „Religiöse Antworten auf den Tod“ die Deutungen von Leben, Geburt, Tod und Trauer in den großen Weltreligionen Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam erörtert.
- Die Bedeutung religiöser Traditionen wird im Blick auf zwei medizinethische Fragekomplexe am Lebensende herausgearbeitet (Transplantationsmedizin und Euthanasie).
- Der Schlussteil widmet sich der „Palliative Care im Kontext religiös-kultureller Vielfalt“, wobei insbesondere die in der PC immer wieder auftauchenden Behauptungen von Multikulturalität und des „guten Todes“ kritisiert werden.
Birgit Heller hat in den Teilen 1 und 3 neben eigenen Texten auch Beiträge anderer Autorinnen und Autoren mit aufgenommen, die sich insgesamt gut in das Gesamtkonzept integrieren.
Inhalt
Den ersten
Teil
eröffnet ein kurzer Text zur systematisierten Darstellung des
Phänomens Tod in alten Legenden und Mythen unterschiedlicher
Kulturkreise. In ihnen wird der Tod nicht von vornherein als
natürlich (zum Kreislauf des Lebens gehörig) verstanden, sondern
bleibt „erklärungsbedürftig„: „Die Religionen geben
unterschiedliche Antworten auf die vielen Fragen, die der Tod
aufwirft.“ (30) Der Darstellung dieser Erklärungsversuche in den
Religionen widmen sich die weiteren Aufsätze des ersten Teils in
religionsvergleichender Absicht. Die Darstellungen zu Hinduismus,
Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam sind einheitlich
gegliedert. Stets werden zunächst Schätzungen und statistische
Angaben zu Anhängern der jeweiligen Religion weltweit sowie in den
Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz gegeben. Wenige
grundlegende Bemerkungen gehen über in die zentrale Deutung von
Krankheit, Leben und Tod in den Lehren und klassischen Texten. Im
zweiten Schritt wird die Deutung verbunden mit der palliativen
Situation unter der Fragestellung, welche religiösen Aspekte für
die Betreuung zentral sind. Dass dabei auch medizinethische
Problemstellungen verbunden sind, versteht sich von selbst. Aber
gerade hier gelingt es den Autorinnen und Autoren der einzelnen
Beiträge, Vorschriften zu Ernährung, Umgang mit Körperlichkeit,
Reinheit etc. präzise zu benennen, und – wo vorhanden – auch
neuere Erkenntnisse aus palliativmedizinischer und hospizlicher
Forschung einzubinden. Verhaltensvorschriften und -muster von
Anhängern der jeweiligen Religion im Umfeld Sterbebegleitung und
Totenrituale werden auf die Lebenswelt in den Deutschland, Österreich
und Schweiz bezogen, so dass der Band sich erfreulicherweise von
zahlreichen anderen lexikalischen Darstellungen unterscheidet und die
konkreten Herausforderungen für Begleiter aus Hospizbewegung,
Palliativversorgung und insbesondere Seelsorge kenntlich macht.
Beispielsweise schließen die Ausführungen zur Durchführbarkeit
hinduistischer Totenrituale in der Migration mit dem Fazit, dass sie
„nur mehr rudimentär“ möglich seien und darum „bei den
Hinterbliebenen starke Schuldgefühle und Ängste auslösen“ (S.
47). Das gleiche gilt für die Darstellung der traditionellen
Trauervorschriften und Gebräuche und die mit Migration verbundenen
Transformationsprozesse. Die Texte schließen mit einer Darstellung
der traditionellen Vorstellungen eines Weiterlebens nach dem Tod und
den Konsequenzen für Beratung zu Bestattung und Trauer. Jeweils
ergänzt werden die einzelnen Beiträge durch Literaturhinweise.
Die Gefahr einer Textsammlung wie im vorliegenden Band ist, dass
sie als normativer Leitfaden zum „richtigen Umgang“ mit
Sterbenden und Angehörigen „fremder“ Religionen missverstanden
werden. Umso wichtiger ist es, dass die Beiträge sowohl in
traditionelle Lehre und Praxis einführen, als auch Veränderungen in
multireligiös und plural geprägten Gesellschaften und die Vielfalt
volkstümlicher und konfessionell unterschiedlicher Vorstellungen
markieren. Letztendlich bleibt es der Begleiterin nicht erspart, sich
der Begegnung mit einem konkreten sterbenden Menschen oder einer
Angehörigen zu stellen statt sie in eine klischeebehaftete Schublade
zu stecken. Genau zu dieser Haltung ermuntert und ermutigt der Band,
indem er ausreichend Hintergrundwissen für die zwischenmenschliche
Begegnung liefert.
Als protestantischer Theologe lese ich
natürlich den Beitrag zu Sterben, Tod und Trauer im Christentum aus
der Feder des Hannoveraner Religionswissenschaftlers Peter
Antes
mit besonderer Aufmerksamkeit, so wie Repräsentanten anderer
Religion die jeweiligen Beiträge kritisch durchsehen werden. Unter
dem Titel „Der Tod als Durchgang zum ewigen Leben in der Nachfolge
Jesu Christi“ folgt Antes
dem allgemeinen Aufbau. Die grundlegende Darstellung des Christentums
setzt bei Bekenntnistexten des frühen dritten Jahrhunderts an; dem
Protestanten fehlt dabei der Hinweis auf die biblischen Schriften als
Norm kirchlicher Lehrentwicklungen; ebenso fehlt der Hinweis auf das
soteriologische Geschehen der Inkarnation, das die Sterbens- und
Todeserfahrung als anthropologische Grundkonstante in die Gotteslehre
integriert. Die Referenztexte der Gegenwart sind sinnvollerweise der
Evangelische Gemeindekatechismus (1994), der Evangelische
Erwachsenenkatechismus (2000) und der Katholische
Erwachsenen-Katechismus (1985). Von hier wird die Sterbebegleitung
als Aufgabe der Seelsorge beschrieben, allerdings ohne Hinweise auf
die Relevanz der religiösen Deutungen für medizinethische Debatten.
Die Darstellung der Totenrituale lassen einiges vermissen, was
angesichts der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raums
verständlich ist. In kulturgeschichtlicher Hinsicht fehlt eine
Würdigung des Beitrags des Christentums zur Freisetzung des
Individuums und Befreiung von religiöser Bevormundung in Bezug auf
Glaubensvorstellungen und Trauervorschriften. Positiv zu würdigen
ist, dass die Herausforderungen durch Säkularisierung und
Pluralisierung beschrieben werden und es dem Text gelingt,
konfessionelle Differenzen und theologische Auseinandersetzung nicht
zu verschweigen, aber trotzdem den großen „Teil festen
Glaubensgutes [herauszuarbeiten], das im Kern unverändert weiter
gegeben wird und die christliche Sichtweise verkörpert“ (S. 137).
Wenn in den anderen Teilen des Bandes in ähnlicher Weise die Lektüre
Interesse und genaueres Nachfragen generiert, dann liegt darin ein
Gewinn.
Im medizinethischen Teil 2 geht Birgit Heller zunächst auf den Komplex der Transplantationsmedizin ein. Nacheinander werden die Einschätzungen der Hirntoddefinition durch führende Vertreter der genannten Weltreligionen und religiös und kulturell geprägte gesetzliche Bestimmungen dargestellt. Diese besonders für Praktiker in medizinethischen Beratungssituationen lesenswerten Hinweise werden zusammengefasst unter dem Begriff „spirituelle Erwägungen“ (188) zur Bedeutung von Leben und Tod, kontrastierend zu naturwissenschaftlich orientierten Konzepten. Sie stellen in gewisser Weise einen positiv zu wertenden Unsicherheits-Faktor dar, der „Ausdruck des Ringens um den Menschen, um die Solidarität mit den Kranken einerseits und die schützende Unterstützung der Sterbenden andererseits“ (191) ist. Der Abschnitt zur Euthanasie-Debatte wählt einen stärker religionsvergleichenden Ansatz, der die unterschiedlichen Positionen von Strömungen innerhalb der Weltreligionen herausarbeitet, aber weniger dem Beitrag von Spiritualität in der öffentlichen Diskussion gilt – auch hier eine treffende Beschreibung und Darstellung.
Der abschließende Teil 3 richtet sich noch einmal verstärkt auf das Zielpublikum, den in Palliative Care und Hospizbewegung Tätigen. In einem gemeinsamen Text streiten Birgit Heller und ihr Ehemann Andreas Heller für Errungenschaften der Hospizbewegung und gegen die Re-Medikalisierung des Sterbens durch Spezialistentum und „die rasante Entwicklung der Palliativmedizin“, die sich „auch als Versuch deuten [lasse], das Monopol über das Sterben ‚zurückzuerobern‘“ (245). Der Berücksichtigung spiritueller Aspekte wird damit die Rolle zugewiesen, in einem Kampf um Deutungshoheit und Ressourcen im Gesundheitswesen vor allem am Ende des Lebens „Sterben als offene Frage“ offen zu halten. Dass dabei in multikulturellen Gesellschaften niemals von Spiritualität, sondern nur von individuell zu erkundenden Spiritualitäten die Rede sein kann, ist sicher richtig, aber was es eben gerade im „Bürger-Profi-Mix“ (S. 245, die Autoren zitieren hier Klaus Dörner) braucht, sind kultursensible Konzepte, die das Erkunden individueller religiöser Einstellungen und subjektiver Spielarten von Spiritualität operativ in die Betreuung einbringen. In dieser Absicht wendet sich Yasmin Gunaratman auch gegen die Verwendung von sog. Faktenkatalogen, die entgegen ihrer ursprünglichen Absicht nicht Kultursensibilität befördern, sondern mitunter gar zu einem „institutionalisierten Rassismus“ (S. 274) in den Machtstrukturen der Medizin beitragen. Gerade deshalb ist die Frage nach Umsetzung spiritueller Begleitung im Gesundheitswesen notwendigerweise praktisch. Während die Medizin pausenlos Verfahren zum Umgang mit der Herausforderung von Krankheit und Sterbens generiert, wird Spiritualität bisweilen zu sehr monolithisch zu einer Frage der Haltung (v)erklärt, während ihr eigentlicher Ort die praktische Begleitung in Krankheit, Sterben und Trauer ist. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, dem Band einen zweiten Teil an die Seite zu stellen, der aufzeigt: „Wie Begleiter mit Religionen im Umfeld von Tod, Sterben und Trauer umgehen können“.
Fazit
Die Intention von Birgit Heller als Autorin und Herausgeberin des Bandes kommt im abschließenden Kapitel noch einmal zum Ausdruck. Sie steht der operativen Ebene mit Skepsis gegenüber; ihre Warnungen könnten aber geradezu eine Anleitung für den Umgang mit religiösen, spirituellen und kulturellen Bedürfnissen und Ressourcen in Palliative Care dienen: Faktenwissen kann Verständnis verhindern, Basiswissen dient nur als Ausgangspunkt; Individuen sind nie nur Spiegelbilder von Kultur; Maßstab ist der individuelle Mensch; Geschlechterunterschiede spielen eine Rolle; es gilt, offene Verständnishorizonte zu entwickeln. Die abschließende Forderung „Einheit suchen und Vielfalt zulassen“ wirkt dann wie ein Wahlslogan im Ringen um die Zukunft von Hospiz- und Palliativkultur im 21. Jahrhundert.
Aber unabhängig von aller Positionalität der Beiträge und der Autorin / Herausgeberin wird sich der Band als ein Standardwerk etablieren – und das zu Recht.
Rezension von
Prof. Dr. Traugott Roser
Universität Münster, Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik
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