Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Commons
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.06.2012

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. transcript (Bielefeld) 2012. 526 Seiten. ISBN 978-3-8376-2036-8. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8376-2835-7 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
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Wie kann es gelingen, den notwendigen Perspektivenwechsel im Denken und Handeln der Menschen in der (Einen?) Welt zu implementieren und bewusst zu machen, was die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“? Analysen, Prognosen und Vorschläge dazu gibt es spätestens seit 40 Jahren, als nämlich 1972 im ersten Bericht an den Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ aufgezeigt wurden, mit der Feststellung von 1987, dass wirtschaftliches Handeln nicht mehr unter dem Motto „business as usual“ möglich sei und „sustainable development“, tragfähige Entwicklung, anstelle des „throughput growth“, Durchflusswachstum, gesetzt werden müsse (Brundtland-Bericht). Alle Jahre wieder, so lässt sich aufzeigen, verdichten sich die Mahnungen an die Menschheit, dass „mehr wird, wenn wir teilen“, wie dies die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin von 2009, Elinor Ostrom, nach dem gesellschaftlichen Wert der Allmende stellt (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Der anthrôpos, der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen, ist als zôon politikon auf menschliche Gemeinschaft angewiesen und strebt ein gutes Leben an (Aristoteles). Diese Grundkonstante menschlichen Daseins auf der Erde hat zwangsläufig und existentiell zur Folge, dass sich der Mensch bemühen muss, sein Ich- mit einem Wir-Bewusstsein zu verbinden und damit sein Weltendasein zu ermöglichen (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Im ökonomischen Handeln der Menschen, das neoliberal und kapitalistisch von einem Immer-Mehr-Denken und Tun bestimmt ist und wirtschaftliches Wachstum als Treibriemen für Wohlstand betrachtet, gilt das Allmende-Bewusstsein, die Vorstellung und Rechtsposition nämlich, dass Gemeingüter allen Menschen gehören, gewissermaßen als zu vernachlässigendes und schädliches Denken (vgl. dazu: Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, 2011, /www.socialnet.de/rezensionen/11451.php). In der Situation jedoch, in der für die humane Weiterexistenz der Menschheit, ökonomisch, ökologisch und moralisch, durch Klimawandel, Welthunger und dem Auseinanderdriften von Wohlstand und Armut in der Welt, die Katastrophe des Aus‘ sich androht, wird die Frage danach, wem die Welt gehört, immer dringlicher (Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009, http:// www.socialnet.de/rezensionen/7908.php; vgl. dazu auch: Ian Morris, Wer regiert die Welt. Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php).
In der „Commons-Community“, die man getrost als eine Bewegung gegen den Strom des Immer-Mehr-Immer-Schneller-Immer-Höher und als Alternative gegen den Wachstumswahn in der Welt benennen kann (vgl. dazu auch: Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13332.php), ist ein Name in besonderer Weise zu nennen: Die in Jena lebende und arbeitende Publizistin, Referentin, Commons-Forscherin und Mitbegründerin der Commons Strategies Group, Silke Helfrich, die mehrere Jahre als Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lateinamerika tätig war. Sie hat nicht nur die Gedanken und Innovationen der „Ostrom-Schule“ in die deutschsprachige (Fach-) Literatur gebracht; sie trägt auch in vielfältiger Weise dazu bei, die Commons-Theorie weiter zu entwickeln und Wege zur lokalen und globalen Realisierung aufzuzeigen; z. B. auch mit der von der Heinrich-Böll-Stiftung vom 1. bis 2. 11. 2010 in Berlin veranstalteten und von ihr initiierten internationalen Konferenz „Constructing a Commons Based Policy Platform“. Die Heinrich-Böll-Stiftung und Silke Helfrich legen den Ertrag dieser Netzwerk-Zusammenkunft als Anthologie vor. In dem gewichtigen, zudem wirklich preiswerten Buch, das man genau so gut als „Handbuch der Commons“ und „Bestandsaufnahme des innovativen Commons-Denkens und Handelns“ bezeichnen kann, kommen fast 100 Expert/innen, Aktivist/innen und Commons-Begeisterte zu Wort, nicht, wie Barbara Unmüßig vom Vorstand der Heinich-Böll-Stiftung in ihrem Vorwort betont, um ein Rezeptbuch für Commons-Ideen und -Praxis vorzulegen, sondern die lokale und globale Commons-Bewegung zu Gehör und zur Aufmerksamkeit zu bringen. Der Bielefelder transcript Verlag trägt mit der Veröffentlichung zudem dazu bei, „Wissen einfach zugänglich zu machen und zu vermehren“, indem er mit einer freien Lizenz (Creative-Commons-Lizenz >BY SA 3.0. unported < http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/) eine besondere Form des Urheberrechts bietet.
Aufbau und Inhalt
Silke Helfrich und der US-amerikanische Aktivist und Commons-Theoretiker David Bollier zeigen in ihrer Einführung in den Sammelband die „transformative Kraft“ der Commons-Bewegung auf und machen deutlich, dass es im Diskurs um eine andere, gerechtere und solidarische Welt sowohl darum geht, die Sprache, mit der wir unser ökonomisches, ökologisches, kulturelles, politisches und Alltagsdenken und -tun benennen, kritisch zu hinterfragen, als auch für unser lokales und globales gesellschaftliches Handeln neue Formen von Ordnung, Recht und Politik zu finden. Dabei kommt ihnen das Bonmot von Rita Mae Brown zustatten: „Die Definition von Wahnsinn ist: wieder und wieder das Gleiche zu tun – und zu erwarten, dass dabei jedesmal anderes herauskommt“. Es könnte auch der Spruch von Kurt Marti in Berner Mundart sein, den Hans A. Pestalozzi in seinem Buch Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion (1979) ins Deutsche übersetzt hat. „Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge“.
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert:
- Commons. Ein Paradigmenwechsel.
- Kapitalismus, Einhegungen, Widerstand.
- Commoning – soziale Innovationen weltweit.
- Wissensallmende für den gesellschaftlichen Wandel.
- Commons produzieren, Politik neu denken.
Der vielberufene und angemahnte Perspektivenwechsel wird von den Autoren Jacques Paysan, Andreas Weber, Friederike Habermann, Rob Hopkins, Martin Beckerkamp, Stefan Meretz, Silke Helfrich, Ugo Mattei, Brigitte Kratzwald, Michael Heller, JamesB. Quilligan, Veronika Brennholdt-Thomsen, Josh Tenenberg, Franz Nahrada und als Gesprächsskizze zwischen Roberto Verzola, Brian Davey, Wolfgang Höschele und Silke Helfrich mit je unterschiedlichen Themenstellungen, wie „Die Biologie der Allende“, „Reilienz denken“, „Die strukturelle Gemeinschaftlichkeit der Commons“, „Commons und das Öffentliche“, „Anti-Allmende“, „Subsistenz“, u.a.
Gesellschafts- und kapitalistische Einlassungen, unser Umgang mit den scheinbar logischen und unabwendbaren neoliberalen Strukturen und Selbstverständlichkeiten, wie Formen des Widerstands, werden von Peter Linebaugh, Hartmut Zückert, Liz Alden Wily, P. V. Satzeesh, Antonio Tricarico / Heike Löschmann, Cesar Padilla, Maude Barlow, Vinod Raina, Gerhard Dilger, Hervé Le Crosnier, Jonathan Rowe, Massimo de Angelis, Gustavo Esteva, Lili Fuhr, Ana de Ita, Beatriz Busaniche und David Bollier, thematisiert, mit Themen wie „Globaler Landraub“, „Gentechnologie in der Landwirtschaft“, „Bergbauprojekte“, „Krise, Kapital und Vereinnahmung“, „Rohstoffstrategie“, „Eigentumsrechte“, u.a.
„Commoning“ als soziale Innovationen, gewissermaßen als „Hau-Ruck“ des Umdenkens und -handelns, werden von George Por, Christa Müller, Katharina Frosch, Margrit Kennedy, Thomas H. Greco, Stefan Rost, Geert de Pauw, Beate Küppers, Sabine Lutz, Gerd Wessling, Takayoshi Kusago, Mayra Lafoz Bertussi, Gloria L. Gallardo Fernándes / Eva Friman, Shrikrishna Upadhyay, Papa Sow / Elina Marmer / Gustavo Soto Santieseban / Silke Helfrich sowie Adriana Sanchez vorgestellt. Dabei geht es um Projekte überall in der Welt, die Hoffnung darauf machen, dass Commoning gelernt, eingeübt und als selbstverständliches, humanes Wirken etabliert.
Weil der Mensch nur als ein sich veränderbares Lebewesen verstehen kann und gesellschaftlicher Wandel seine Existenz sichert, diskutieren Christian Siefkes, Carolina Botero / Julio Cesar Gaitán, Mike Linksvayer, Benjamin Mako Holl, Federico Heinz, Thomas Gegenhuber / Nauman Haque / Stefan Pawel, David E. Martin, Javier de La Cueva / Bastien Guerry / Samer Hassan / Vicente J. Ruiz-Jurado, Philippe Aigrain, Michel Bauwens / Franco Jacomella und Rainer Kuhlen Aspekte wie „Peer-Produktion“, „Freiheit für Nutzer, nicht für Software“, „Kommune und Allmende“, „commonsbasierte Informationsproduktion“, u.a.
Die Schritte vom (utopischen) Denken zum praktischen, nachhaltigen Tun sind zutiefst politisch. Die Einsicht, „wenn das System falsch programmiert ist, stößt der gute Wille des Einzelnen an Grenzen“ (vgl. dazu: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, www.socialnet.de/rezensionen/10494.php) ist zweifellos auch Bestandteil von Commoning, Gemneingut- und Allmende-Bewusstsein. David Bollier / Burns H. Weston, Prue Taylor, Ryan T. Conway, Michael J. Madison / Brett M. Frischmann / Katherine J. Strandburg, Michel Bauwens, Esther Mwangi / Helen Marelova, Gerhard Scherhorn, Ottmar Edenhofer / Christian Flachsland / Bernhard Lorentz, Julio Lambing, Dirk Löhr, Alberto Acosta, Christine Godt / Christian Wagner-Ahlfs / Peter Tinnemann und Nikos A. Salingaros / Federico Mena-Quintero bringen Argumente, wie das Menschenrecht auf Commons verwirklicht werden kann.
Fazit
Wenn Silke Elfrich in ihrem Epilog zum Sammelband Situationsschilderungen von Orten in der Welt bringt – Bangkok, Berlin, Porto Alegre, Paris, Kapstadt, Rom, New York – und damit aufzeigt, wie Menschen überall in der Welt engagiert und innovativ auf scheinbar festgemauerte und als selbstverständlich in die Köpfe der Menschen manipulierte „Wirklichkeiten“ reagieren, will sie damit den hoffnungsvollen und optimistischen „Commons-Ruck“ implementieren: „Das Bedürfnis danach, mit engagiertem Optimismus der offiziellen Ratlosigkeit und dem bleiernen Stillstand zu begegnen, ist groß. Wir erleben den Beginn einer internationalen Commons-Bewegung“.
„Ich bin common!“, das könnte ein Slogan sein, der bei möglichst vielen Menschen auf der Erde zu einem Umdenken im individuellen und gesellschaftlichen Leben führt, hin zur Erkenntnis, dass Gemeingüter nicht nur lebensnotwendige und existenzsichernde Sachen sind, sondern auch humane Werte einer Menschlichkeit, die beruht auf den Fundamenten einer globalen Verantwortungsethik, globalen Empathie und globalen Solidarität.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.06.2012 zu:
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. transcript
(Bielefeld) 2012.
ISBN 978-3-8376-2036-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13482.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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