Fabian Dietrich, Martin Heinrich et al. (Hrsg.): Neue Steuerung – alte Ungleichheiten?
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 17.07.2012
Fabian Dietrich, Martin Heinrich, Nina Thieme (Hrsg.): Neue Steuerung – alte Ungleichheiten? Steuerung und Entwicklung im Bildungssystem. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2011. 357 Seiten. ISBN 978-3-8309-2569-9. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Herausgeber und Herausgeberin
Das Herausgeberteam ist mit Fragen der Entwicklung und Steuerung des Bildungswesens am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Hannover befasst.
Thema
Leitend ist die Frage, ob sich soziale Ungleichheit durch Strategien der Steuerung (Zielvereinbarungen, Leistungsvergleiche etc.), wie sie unter anderem im Schulbereich seit längerem angewandt werden, reduzieren lässt. Die Herausgeber sehen sich aber veranlasst, zunächst auf die bisherige Unverbundenheit von Ungleichheitsdiskurs und Steuerungsforschung hinzuweisen, versehen mit dem Hinweis, dass die Verknüpfung der beiden Diskurse, zumindest die Suche nach Anschlussmöglichkeiten das (nur teilweise eingelöste) Ziel der Tagung gewesen sei, aus dem die Beiträge des Bandes stammen.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um einen Tagungsband, der die Beiträge zur Herbsttagung 2010 der Kommission für Bildungsorganisation, Bildungsplanung und Bildungsrecht der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) versammelt. Im einleitenden Beitrag zitieren und kommentieren deshalb die Herausgeber den Call for Papers für diese Tagung.
Aufbau und Inhalt
Die Intention der Beiträge ist unterschiedlich. Teilweise machen sie Fragen der Bildungsbenachteiligung überhaupt nicht zum Thema, wenngleich die behandelten Reformansätze meist dadurch veranlasst wurden. Teilweise untersuchen sie Strategien der Steuerung, die zu mehr Chancengleichheit beitragen sollen. Und teilweise werden unbeabsichtigte Nebenwirkungen der „neuen Steuerung“ aufgezeigt. Unter diesem Differenzierungsgesichtspunkt wurde der Band in drei Teile gegliedert. Bei den meisten Beiträgen handelt es sich um Untersuchungsberichte, häufig über Projekte zur Begleitforschung mit einem Methodenmix. Im Folgenden kann nur auf einzelne ausgewählte Beiträge eingegangen werden.
In Teil I „Steuerung und Entwicklung im Bildungssystem“ verdient der Aufsatz von Leif Moos „Governance of educational systems“ Aufmerksamkeit, weil er übersichtlich die unter diesem Begriff gefassten Strategien auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene aufzeigt. Vf. stellt fest, dass Dezentralisierung von mehr zentraler Regulierung begleitet wird, so dass den Einzelschulen sogar weniger Raum für die eigene Interpretation ihrer Aufgaben bleibt (S.31). In zwei Beiträgen (Sendzik u.a. sowie Manitius/Berkemeyer) werden vor dem Hintergrund der erweiterten Verantwortung der kommunalen Schulträger die organisatorischen Eigenheiten und Funktionen neu etablierter kommunaler „Bildungsbüros“ in NRW diskutiert, wobei der Vergleich mit der Administration von School Districts in den USA z. B. mögliche Konfliktpotentiale erhellen soll. Katja Thillmann berichtet über eine Schulleiterbefragung in Berlin, mit der Strategien der Schulentwicklung ermittelt wurden, theoretisch eingebettet in die Unterscheidung zwischen dem Konzept der „Professionellen Lerngemeinschaft“ und New Public Management. Ein zweiter Untersuchungsbericht aus Berlin von Cornelia Wagner und Jana Rückmann hat ebenfalls Verhalten und Selbstverständnis von Führungskräften zum Gegenstand, hier in einem Modellversuch an beruflichen Schulen. Die veränderten Anforderungen an die Leitung von Schulen waren auch Anlass für die Untersuchung von Bea Harazd u.a., deren Ziel es war, verschiedene Typen von Leitungshandeln aus der Sicht von Lehrkräften empirisch zu identifizieren. Aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Silvia Annen, die drei verschiedene Verfahren zur formalen Anerkennung von Kompetenzen analysiert hat, im Zeichen der Migration ein Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Teil II „Neue Steuerung – alte Ungleichheiten?“ wird von einem theoretischen Essay eingeleitet. Lorenz Lassnigg kontrastiert den Steuerungsdiskurs mit den Diskursen über Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit, wobei er auf die interne Vielfalt in beiden Diskursfeldern aufmerksam macht, um gegenseitige Anschlussmöglichkeiten auszuloten und die bildungspolitische Relevanz zu bestimmen. Nina Hogrebe u.a. berichten über ein Projekt zur Entwicklung eines indikatorengestützten Finanzierungskonzepts für KiTas, das mit Gewichtungsfaktoren wie Migrationshintergrund etc. eine bedarfsgerechte Ressourcensteuerung ermöglichen soll. Ein internationaler Literaturbericht von Christoph Winkler bietet empirische Befunde zur Wirkung von Anreizsystemen (z. B. finanziellen Anreizen) für Lehrer/innen auf die Reduktion von Bildungsbenachteiligung – eine ernüchternde Bilanz. Zwei weitere Beträge befassen sich mit Modellen regionalen Bildungsmanagements, mit denen sozialer Ungleichheit in „lokalen Bildungslandschaften“ begegnet werden soll. Abgeschlossen wird Teil II mit einem Aufsatz von Rudolf Tippelt, der den Stellenwert der Bildungsforschung für die Bildungsplanung reflektiert.
Teil III umfasst Beiträge, überwiegend Untersuchungsberichte, aus denen hervorgeht, welche kontraproduktiven Nebeneffekte die neuen Strategien der Schul- und Hochschulentwicklung mit sich bringen, wie die Überschrift „Neue Steuerung – neue Ungleichheiten?“ verrät. Nina Thieme geht in ihren Vorüberlegungen zu einem einschlägigen Forschungsprojekt, gestützt auf internationale Forschung, der Frage nach, ob die aktuell mit hohen Erwartungen geförderten Ganztagsschulen diesen Erwartungen gerecht werden können. Martin Heinrich u.a. berichten von Schulfallstudien in Österreich zu Folgen der Schulprofilierung auf einem Quasi-Markt. Ergebnis: Es kommt zur hierarchischen Differenzierung auch innerhalb gleicher Schularten mit exklusiven Angeboten für die Mittelschicht. Uwe Maier und Martin Schymala stellen aufgrund eines DFG-Projekts in Frage, dass Vergleichsarbeiten, also zentrale Tests, unter den gegebenen Bedingungen die gewünschten Effekte auf die Unterrichtsentwicklung an Schulen, speziell für die Förderung schwacher Schüler, haben. Die problematischen Auswirkungen einer Politik der freien Schulwahl auf der Primarstufe beleuchten Herbert Altrichter u.a. am Beispiel der Stadt Linz. Die leistungsorientierte Mittelverteilung für Hochschulen prüft Ulf Banscherus kritisch im Hinblick auf die Chancengleichheit von Studierenden bzw. Studierwilligen. Abgeschlossen wird auch dieser Teil des Bandes wieder von einem Essay, und zwar über die soziologische Ungleichheitsforschung und das systemtheoretische Paradigma der funktionalen Differenzierung. Marcus Emmerich und Ulrike Hormel beleuchten darin die zwei differenten Beobachterperspektiven und diskutieren ihre mögliche Kompatibilität.
Diskusssion
Der Band, der offenbar an ein spezielles Fachpublikum adressiert ist, ist auch für alle bildungspolitisch Engagierten von Interesse, für in der Bildungsverwaltung Tätige ohnehin. Man sollte sich von der etwas sperrigen Terminologie nicht abschrecken lassen. Die Strategien der neuen Steuerung, gleich ob unter dem Namen New Public Management oder Governance rezipiert, erscheinen glanzlos wie im Märchen des Kaisers neue Kleider, obwohl die Autor/inn/en, meist auf Auftragsforschung angewiesen, vorsichtig argumentieren. Schulautonomie erweist sich als Scheinselbständigkeit. Die Akzeptanz der neuen Steuerung an Schulen ist gering (S.74, 86). Die damit verbundenen Anforderungen überfordern tendenziell (S.110). Ein ganzheitliches Konzept fehlt meist (S.87). Auf Anreizsysteme oder Wettbewerb wird von Personen und Institutionen oft auf problematische Art reagiert (S.196, 285f.) In kaum einem Fall wurde damit bisher Chancengleichheit erhöht. Das Gleiche gilt für Vergleichsarbeiten mit Rückmeldung der Testergebnisse, deren Innovationsimpuls „verpufft“ (S.297). Auch die Erwartungen an jüngste Reformen wie lokale Vernetzung oder Ganztagsbetrieb enttäuschen, solange die Strukturdefizite unseres Bildungssystems nicht beseitigt sind (S.226, 262).
Fazit
Der Band sollte in allen pädagogischen Fachbibliotheken stehen. Er erfüllt eine Aufklärungsfunktion. Für Nachwuchswissenschaftler/innen bietet er Impulse für anschließende Forschungsfragen.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 17.07.2012 zu:
Fabian Dietrich, Martin Heinrich, Nina Thieme (Hrsg.): Neue Steuerung – alte Ungleichheiten? Steuerung und Entwicklung im Bildungssystem. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2011.
ISBN 978-3-8309-2569-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13508.php, Datum des Zugriffs 05.12.2024.
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