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Lawrence LeShan: Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.11.2012

Cover Lawrence LeShan: Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht ISBN 978-3-89670-860-1

Lawrence LeShan: Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2012. ISBN 978-3-89670-860-1. 39,95 EUR.

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„Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute“

Das wilde Denken ist tot – es lebe das wilde Denken! Eines der Zauberworte in der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierender (Einen?) Welt ist: „Perspektivenwechsel“. Gemeint ist damit die Aufforderung zum Umdenken, zur Horizonterweiterung und zur Umkehr vom Trott eines business as usual, wie dies 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ dramatisch formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. In der Reihe des Carl-Auer-Systeme Verlags „Systemische Horizonte – Theorie der Praxis“ wird auf diese neue, lokale und globale Anforderung ein besonderes Augenmerk gerichtet, wie Bewusstsein und (die Wahrnehmung der) Realität in der globalen Lebenswirklichkeit sich darstellt und als interdisziplinärer Theorie-Praxis-Zusammenhang zeigt: „Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien solange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor“.

Entstehungshintergrund und Autor

Die Erfahrung ist allgegenwärtig: „Der Versuch, mit jemandem zu kommunizieren, der ein anderes Weltbild benutzt als man selbst, und sich dessen nicht bewusst zu sein, kann nur Verwirrung auslösen“. Es gibt keine mentalen Prozesse ohne Realitätsbezug und ohne Vergewisserung der Wirklichkeit, genauso wie es keine Realitätswahrnehmung ohne Bewusstsein gibt. Weil aber Weltbilder und Weltansichten immer situations- und zeitbezogen sind, unterliegt auch unsere Wahrnehmung der Realität, wie auch unser Handeln auf bestimmte Situationen einem Wandel. Die uralte philosophische Frage, ob sich Erkenntnis als a priori, also der menschlichen Erfahrung vorausgehend, oder als durch die Erfahrung vermittelt zeigt, wird mit den differenzierten, vom jeweiligen persönlichen und fachlichen Standpunkt ausgehenden Nachschauen über das „Wer bin ich?“ unterschiedlich diskutiert. Der wissenschaftliche Diskurs darüber, was Bewusstsein ist, mündet schließlich in der Auffassung: „Bewusstsein ist ein faszinierendes, aber schwer zu fassendes Phänomen“; es bleibt also ein Rätsel, genauso wie die Frage danach, in welcher Beziehung menschliches Bewusstsein und Verhalten zueinander stehen, ob sich beide Phänomene ausschlössen, zusammengehörten oder ergänzten.

Dieser Problematik widmet sich der New Yorker klinische Psychologe Lawrence LeShan (geb. 1920) seit Jahrzehnten. In seinem 2011 in Englisch erschienenem und soeben vom Carl-Auer-Systeme Verlag in deutscher Sprache herausgebrachtem Buch „Das Rätsel der Erkenntnis“ fragt der Autor danach, wie Realität entsteht. Obwohl er feststellt, dass „auf dem Gebiet des Bewusstseins ( ) alle Versuche, ein Klassifizierungssystem zu erstellen, gescheitert (sind)“, unternimmt er den Versuch, auf der Grundlage von Linnés biologischer Taxonomie ein Klassifikationssystem zu erstellen. Er benutzt dabei Weltbilder, wie sie sich in den menschlichen Realitäten darstellen. Dabei geht er so vor, dass er danach fragt, „auf welche Weise und anhand welcher Parameter sich unsere verschiedenen Weltbilder voneinander unterscheiden“.

Aufbau und Inhalt

LeShan gliedert seine Arbeit in zehn Kapitel und schließt sie mit vier Anhängen zur Bewusstseins- und Weltbilder-Problematik ab. Im ersten Kapitel diskutiert er, wie Weltbilder zustande kommen und wirken. Im zweiten geht es um den Zusammenhang von Bewusstsein und Weltbilder. Dabei entfaltet er den Forschungsstand in der Psychologie und diskutiert die verschiedenen wissenschaftlichen Auffassungen und Schulen. Er grenzt seine Zugangs- und Frageaspekte ein, indem er nicht danach fragt, was die wahre Form der Realität sei, sondern danach: „Welches ist der beste Ansatz zur Konstruktion der Wirklichkeit“. Mit dem dritten Kapitel bereitet er sein Klassifizierungssystem vor, indem er über die Bereiche des Bewusstseins reflektiert und differenziert, ob die beobachtbaren Phänomene quantitativ oder nicht quantitativ sind: Weltbild der menschlichen Sinnesausstattung; Weltbild der Feldtheorie und Relativitätstheorie: Weltbild von Mythos, Märchen und Traum; Weltbild des kosmischen Bewusstseins und der Mythologie. Im vierten Kapitel werden die realen, daseinsbedingten Zustände, die ein Weltbild erzeugen, in vier Bereiche gegliedert: Quantitativ/eigenständig, quantitativ/fortlaufend, nichtquantitative/eigenständig und nichtquantitativ/fortlaufend. Das fünfte Kapitel verdeutlicht an Beispielen des Klassifikationssystems mögliche Zusammenhänge und Verbindungslinien von Weltbildern. Im sechsten Kapitel wird am Beispiel der Weltbilder von Terroristen und Fundamentalisten diskutiert, welche Möglichkeiten der Weltbilderinterpretation und -auseinandersetzung bestehen, um aus den gegebenen Gegnerschaften und Ideologien ein drittes Gemeinsames zu finden. Das siebte Kapitel thematisiert die Aspekte, wie sich „Weltbilder und die Struktur des Bewusstseins“ zueinander verhalten, sich entweder anpassen oder unversöhnlich bekämpfen, sich verstehen, missverstehen oder überhaupt nicht miteinander kommunizieren können. „Die Form und Dynamik der Bewusstseinsstruktur und des Bewusstseinsstroms (ist) in jedem Moment eine Anpassung an eine wahrgenommene Beziehung ( )“ – oder eben nicht! Im achten Kapitel kommt das Verhalten ins Spiel. Es werden die „Bereiche des Bewusstseins und unser häufig seltsames und inkonsequentes Verhalten“ thematisiert (vgl. dazu auch: Siegfried Schumann, Individuelles Verhalten. Möglichkeiten der Erforschung durch Einstellungen, Werte und Persönlichkeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12920.php). „Die (verschiedenen) Wege zur Wahrheit“ werden im neunten Kapitel aufgezeigt (siehe dazu auch: MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken: Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12494.php).

Fazit

Das zehnte Kapitel titelt der Autor mit dem optimistischen „Der neue Anfang“; nicht dahingehend, dass er mit seinem Versuch, eine Klassifizierung der Weltbilder vorzunehmen, das Ei des Kolumbus gefunden oder uns ein Rezept verschrieben hätte, wie wir Weltbilder auf gleiche Grundeinsichten trimmen könnten.Vielmehr gelingt es ihm deutlich zu machen und beispielhaft darzustellen, „dass die Verwendung eines falschen Weltbildes bei der Lösung eines bestimmten Problems dazu führt, dass eine Lösung unmöglich wird“. Damit weist er auf eine ungemein bedeutsame, aktuelle und immanent politische Situation hin. In vier Anhängen unterfüttert LeShan seine Analyse zum „Rätsel der Erkenntnis“, indem er dezidiert fragt: „Woher kommt das Bewusstsein?“, den Forschungsdiskurs zur Thematik in den Sozialwissenschaften aufzeigt und „Implikationen für die Psychotherapie“ verdeutlicht, in einem fiktiven Dialog zwischen Student und Professor die Imponderabilien des Weltbilddiskurses aufzeigt und schließlich einige weitere Anmerkungen über Entstehung und Wahrnehmung von Weltbildern macht.

Der Verlag adressiert die Veröffentlichung an Psychologen, Philosophen und für dich und mich, die wir an Fragen des Bewusstseins interessiert sind.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1672 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.11.2012 zu: Lawrence LeShan: Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2012. ISBN 978-3-89670-860-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13512.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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